„Mir geht es darum, die Kinderrechte unter dem Gesichtspunkt zu verstehen, was sie für Kinder bedeuten.“ – Interview mit Manfred Liebel, Autor von „Kritische Kinderrechtsforschung”

Cover "Kritische Kinderrechtsforschung"

Kritische Kinderrechtsforschung
Politische Subjektivität und die Gegenrechte der Kinder

von Manfred Liebel

 

Über das Buch

Manfred Liebel beleuchtet die Debatte und Forschung zu Kinderrechten. Er macht auf Themen aufmerksam, die bisher vernachlässigt wurden, und skizziert neue Konturen und ethische ebenso wie politische Herausforderungen einer kritischen Kinderrechtsforschung, die sich den Kindern als sozialen Subjekten verpflichtet sieht. Der Autor greift hierzu Diskussionen auf, die im Globalen Süden, insbesondere in Lateinamerika, geführt werden.

 

Lieber Manfred Liebel, worum geht es in Kritische Kinderrechtsforschung?

Kritische Kinderrechtsforschung ist ein relativ neues interdisziplinäres Forschungsfeld, das vornehmlich im englischsprachigen Raum entstand. In Deutschland ist sie bisher wenig bekannt und wird kaum praktiziert. Ihr geht es nicht nur darum, wie die UN-Kinderrechtskonvention angewendet werden kann, sondern sie will dazu beitragen, die Entstehung, mögliche Weiterentwicklung und Bedeutung der Kinderrechte umfassender im jeweiligen Lebenskontext der Kinder zu verstehen. Sie setzt sich auch kritisch mit einer Praxis auseinander, die Kinderrechte vornehmlich „von oben“ umzusetzen versucht.

Mir geht es darum, die Kinderrechte unter dem Gesichtspunkt zu verstehen, was sie für Kinder bedeuten und wie sie von Kindern im eigenen Interesse genutzt werden können. Diese Rechte verstehe ich nicht so, als würden sie für sich selbst sprechen, sondern vermittele sie mit den Lebensbedingungen und -erfahrungen der Kinder. Nur so lässt sich eine Mystifizierung der Kinderrechte vermeiden, und nur so können junge Menschen sie als für sich selbst relevant wahrnehmen. Der Diskurs über Rechte basiert auf der Annahme, dass sie für alle Menschen gleichermaßen gelten, im Fall der Kinderrechte für alle Kinder, aber was sie für diese bedeuten, ob sie ihnen nützen und ob sie sie nutzen können, hängt von den besonderen Lebensumständen eines jeden Kindes ab.

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil erläutere ich, wie ich „Kinderrechte von unten“ und als „Gegenrechte“ verstehe. Ich diskutiere, was es bedeutet, Kinder als „Rechtssubjekte“ zu konzipieren. Mit Blick auf die Handlungsrechte von Kindern setze ich mich mit dem verbreiteten Konzept der Resilienz auseinander, gehe dem Gerechtigkeitssinn von Kindern nach und stelle das in Lateinamerika entstandene Konzept des Kinder-Protagonismus vor. Im zweiten Teil umreiße ich die Konturen kritischer Kinderrechtsforschung. Insbesondere gehe ich auf die wirtschaftlichen Rechte sowie die Fragen des Wahlrechts von Kindern und der intergenerationalen Gerechtigkeit ein. Schließlich erörtere ich ethische  und methodologische Aspekte einer Forschung, die die politische Subjektivität von Kindern fördern will.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Grundlegend für mein Verständnis von Kinderrechten und ihrer Bedeutung für das Leben von Kindern verdanke ich meinen Erfahrungen und Studien mit sozial benachteiligten Kindern in südlichen oder postkolonialen Weltregionen, insbesondere in Lateinamerika. Insbesondere haben mich die Treffen mit arbeitenden und indigenen Kindern und Jugendlichen sowie ihren erwachsenen Unterstützer*innen zum Nachdenken angeregt.

Viele neue Gesichtspunkte ergaben sich auch aus meiner Lehrtätigkeit und dem Austausch mit Studierenden in dem internationalen Masterstudiengang „Childhood Studies and Children’s Rights“, den ich 2007 an der Freien Universität Berlin mit ins Leben rief und der seit 2017 an der Fachhochschule Potsdam fortgeführt wird. Weitere wichtige Impulse brachte der Austausch mit Kolleg*innen in verschiedenen Ländern, aus denen sich neue Konturen einer sich als kritisch verstehenden Kinderrechtsforschung ergaben.

 

Welchen Herausforderungen steht die kritische Kinderrechtsforschung derzeit gegenüber?

Die größte Herausforderung sehe ich darin, wie Forschung dazu beitragen kann, dass sozial benachteiligte Kinder von ihren Rechten Gebrauch machen können und selbst in organisierter Weise Rechte für sich formulieren, die ihren Lebensumständen Rechnung tragen. Einerseits muss die Kinderrechtsforschung die gesellschaftlichen Machtverhältnisse analysieren, die die Rechte der Kinder verletzen und es jungen Menschen erschweren, ihre Rechte zu nutzen und durchzusetzen. Andererseits muss sie als Forschung mit Kindern dazu beitragen, ihnen zu erleichtern und sie zu ermutigen, ihre Rechte einzufordern und selbst zu praktizieren.

 

Welche Aspekte der kritischen Kinderrechtsforschung werden Ihrer Einschätzung nach künftig stärker in den Fokus rücken?

Die Erfahrungen und Sichtweisen der Kinder des Globalen Südens, die unter der weltweiten anwachsenden sozialen Ungleichheit besonders zu leiden haben, sollten stärker beachtet werden. Ebenso wichtig scheint mir, die weiter wachsende Gefährdung der Lebensgrundlagen durch eine wachstums- und profitorientierte Globalisierung in ihren Folgen für Kinder und zukünftige Generationen stärker in den Blick zu nehmen. Die Kinderrechte müssen entsprechend weiterentwickelt werden, und es müssen institutionelle Wege geschaffen werden, die es Kindern ermöglichen, daran mitzuwirken und ihre Rechte sowohl lokal als auch international wirkungsvoll einzufordern. Das grundlegende Ziel kritischer Kinderrechtsforschung sehe ich darin, diese Wege für Kinder zu öffnen und ihren Einfluss auf politische Entscheidungen zu vergrößern. Einen wichtigen Aspekt sehe ich darin, Kindern ungeachtet ihres Alters ein umfassendes Wahlrecht zu ermöglichen und eine angemessene Vertretung der Interessen zukünftiger Generationen sicherzustellen.

 

Darum bin ich Autor bei Budrich

Bei der Entstehung des Buches wurde ich von einem sorgsamen und fachkundigen Lektorat begleitet und empfand den zügigen Austausch mit den Mitarbeiterinnen des Verlags als angenehm und hilfreich. Ich freue mich auch, dass der Verlag Bücher auf vielfältige Weise möglichen Leser*innen nahebringt.

 

Kurzvita des Autors

Gruppenfoto mit Budrich-Autor Manfred Liebel und Kindern in BolivienNach vielen Jahren als Professor für Soziologie an der TU Berlin und als Leiter des Masterstudiengangs „Childhood Studies and Children’s Rights“ erst an der FU Berlin, dann an der FH Potsdam, habe ich nun mehr Zeit, meine Erfahrungen in der sozialen, pädagogischen und politischen Arbeit sowie der partizipativen Forschung mit Kindern und Jugendlichen zu reflektieren und meine Gedanken in Buchform zu bringen. Am meisten bewegt mich, wie Hilfe für sozial benachteiligte und ausgegrenzte Kinder und Jugendliche in Solidarität transformiert werden kann.

 

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Cover "Kritische Kinderrechtsforschung"Manfred Liebel:

 

 

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com; Gruppenfoto mit Manfred Liebel: UNATsBO, Bolivien