„Wir müssen wieder lernen, das genaue Hinschauen nicht durch oft vorschnelle Deutungen zu überspringen.“ – Interview mit Evi Agostini und Hans Karl Peterlini, Mitherausgeber*innen von „Die Vignette als Übung der Wahrnehmung”

Die Vignette als Übung der Wahrnehmung / The vignette as an exercise in perception
Zur Professionalisierung pädagogischen Handelns / On the professionalisation of educational practices

von Evi Agostini, Hans Karl Peterlini, Jasmin Donlic, Verena Kumpusch, Daniela Lehner und Isabella Sandner (Hrsg.)

 

This is a bilingual title – the content is once in German and once in English. (It is also available in German-Italian and in English-Greek.)

You speak English? The interview is also available in English, here.

 

Über das Buch

Pädagogische Arbeit erfordert die Bereitschaft, sich auf immer neue Situationen und auf Menschen in ihrer Verschiedenheit einzulassen. Dieses Buch bietet dafür keine simplen Rezepte an, wohl aber wichtige Schritte zur Professionalisierung im pädagogischen Beruf. Diese führen über eine offene Haltung der Wahrnehmung und die Einbeziehung von Leiblichkeit hin zur Einsicht, wie Lern- und Lehrprozesse neu oder anders verstanden werden können. Mit Vignetten und Beispielen werden Konzepte dargelegt und auf ihre Anwendung hin reflektiert.

 

Liebe Herausgeber*innen, worum geht es in dem Sammelband „Die Vignette als Übung der Wahrnehmung / The vignette as an exercise in perception“?

Das Anliegen des Buches ist es, Pädagog*innen dazu anzuregen, sich den ihnen anvertrauten Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen in einer Haltung offener Wahrnehmung zuzuwenden. Das Buch versteht sich als Beitrag einer partizipativen, aktiven Professionalisierung und begleitet die Leser*innen in mehreren Schritten auf diesem Weg. Dazu gibt es ihnen auch das Instrument der „Vignette“ in die Hand.

 

Mit Vignetten legen Sie in Ihrer Publikation Konzepte dar und reflektieren diese auf ihre Anwendung hin. Würden Sie uns hierfür ein Beispiel geben?

Vignetten sind kurze, dichte Beschreibungen dessen, was im pädagogischen Feld – ob Schule, Jugendzentrum, Erwachsenenbildung – gerade geschieht oder geschehen ist. Dabei lassen wir uns als Schreibende von dem leiten, was die Aufmerksamkeit „affiziert“, also auf sich zieht. Wir achten dabei vor allem auf den leiblichen Ausdruck, der vielfach übersehen wird: Wie bewegt sich ein Kind oder wie sitzt es da, wie interagieren Jugendliche mit den Händen, während sie stehen, wie ist die Tonlage. In der Wahrnehmung einer spezifischen Situation steht also nicht nur der Inhalt, das Gesprochene, im Vordergrund. Diese Wahrnehmungen verdichten wir zu den Vignetten. Beim Schreiben achten wir darauf, Deutungen, Wertungen und Einordnungen zu vermeiden und möglichst nah am Geschehen zu beschreiben, was wir gesehen, gehört, miterfahren haben. Das entspricht der phänomenologischen Grundhaltung, offen zu sein für das, was wir von der Welt und dem Geschehen darin mit unseren Sinnen wahrnehmen können. In unserem Buch finden sich viele anschauliche Beispiele davon.

 

Welche neuen Perspektiven ermöglicht die Vignettenforschung der pädagogischen Forschung wie Praxis?

Pädagog*innen haben, wie alle Menschen, für ihnen vertraute Situationen schnell einfache Deutungsmuster zur Hand – sie glauben ihre Klientel zu kennen und sind deshalb leicht dazu verleitet, die ihnen Anvertrauten einzuordnen. Das ist ja durchaus hilfreich, führt aber oft zu Kategorisierungen wie „begabt“, „weniger begabt“, „fleißig“, „nicht fleißig“, „stört immer“, „auffällig“ oder „nicht bei der Sache“. Solche starren Einteilungen in Kategorien lassen vieles übersehen, was diese Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen auch sonst noch alles sind. Dasselbe gilt für Situationen im pädagogischen Feld: In der Regel deuten wir sie durch die Brille unserer bisherigen Erfahrungen. Damit schließen wir viele Deutungsmöglichkeiten aus. Deshalb sprechen wir von der „Übung“ der Wahrnehmung. Wir müssen wieder lernen, das genaue Hinschauen, Hinführen, Hineinfühlen nicht durch schnelle und oft vorschnelle Deutungen zu überspringen, sondern uns die Zeit nehmen, die Situation, die konkrete Person möglichst noch vor der Kategorisierung einfach einmal auf uns wirken zu lassen und schauen, hören, mitfühlen, was da eigentlich passiert. Das eröffnet oft ganz neue Blicke auf vermeintlich längst geklärte Situationen und so genannte schwierige Fälle. Potenziale werden ebenso sichtbar wie alternative Handlungsweisen.

 

Ihre Publikation erschien im Januar in verschiedensprachigen Ausgaben: Einer deutsch-englischen Ausgabe, einer englisch-griechischen und einer deutsch-italienischen. Wie kam es dazu, dass Sie die Publikation nicht nur in verschiedenen Sprachen, sondern gleich in mehrsprachigen Ausgaben veröffentlichen wollten?

Die Publikation ist aus dem Projekt „ProLernen“ hervorgegangen, in dem dank einer Erasmus+ Förderung Universitäten und Pädagogische Hochschulen in Österreich, Deutschland, Schweiz-Liechtenstein, Italien/Südtirol und Griechenland zusammengearbeitet haben. Da hat es sich angeboten, dass wir den Pädagog*innen in diesen Ländern unseren Ansatz und die dahinter liegende Theorie auch in ihrer Sprache anbieten. Englisch war uns sowieso ein Anliegen, da die Vignettenforschung mittlerweile international Aufmerksamkeit erfährt, von Südafrika bis in den asiatischen Raum.

 

Wie sind Sie bei der Übersetzung der Bücher vorgegangen? Gab es besondere Herausforderungen beim Übersetzen des Ansatzes?

Ja, das Übersetzen des phänomenologischen Ansatzes war schon eine Herausforderung. Ohne die am Projekt beteiligten Kolleg*innen in den jeweiligen Sprachräumen wäre das nicht möglich gewesen. Die Schwierigkeit lag vor allem in der Übersetzung der Fachterminologie. Die Phänomenologie wurde vom deutschsprachigen Philosophen Edmund Husserl begründet, die grundlegende Literatur ist somit ursprünglich in Deutsch verfasst worden. Mittlerweile gibt es natürlich phänomenologische Literatur in allen Sprachen, aber es war eben darauf zu achten, wie gewisse Begrifflichkeiten auch so übersetzt werden können, dass sie von den Leser*innen auch gut verstanden werden. Das Buch soll ja nicht nur gelesen werden, wir verstehen es auch als eine Anregung und Einladung, sich auf die Übung der Wahrnehmung mit Vignetten einzulassen.

 

Kurzvitae in eigenen Worten

Budrich-Autorin Evi AgostiniEvi Agostini ist Assoziierte Professorin am Zentrum für Lehrer*innenbildung und der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien. Sie wurde 2015 im Bereich der Allgemeinen Pädagogik an der Freien Universität Bozen promoviert und erlangte 2019 an der Universität Innsbruck die Venia Docendi für den Fachbereich der Bildungswissenschaften. Evi Agostini hält Lehrveranstaltungen über Lerntheorien, Forschungsmethoden und Anthropologische Pädagogik in Österreich, Deutschland und Italien und ist im Bereich des professionellen Lernens von Lehrpersonen und Schulleiter*innen insbesondere in Österreich, Deutschland und der Schweiz aktiv. Sie war Forschungsstipendiatin an der Hebrew Universität und dem Beit Berl College in Israel und ist Koordinatorin des internationalen phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschungsnetzwerks (VignA).

Budrich-Autor Hans Karl PeterliniHans Karl Peterlini ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Interkulturelle Bildung an der Universität Klagenfurt. Er studierte psychoanalytische Pädagogik in Innsbruck, wurde in den Bereichen der Allgemeinen Pädagogik und Sozialpädagogik an der Freien Universität Bozen promoviert und erlangte 2014 mit der Habilitationschrift „Lernen und Macht“ an der Universität Innsbruck die Venia Docendi für Bildungswissenschaften und Lernforschung. Seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Trransformationsprozesse durch personales und kollektives Lernen, das Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten in ethnisierten und migrantisch geprägten Gesellschaften sowie Global Citizenship Education als integrierender Ansatz für eine global und sozial sensible Bildung. Peterlini ist Holder des UNESCO Chairs Global Citizenship Education – Culture of Diversity and Peace an der Universität Klagenfurt.

 

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3D Cover "Die Vignette als Übung der Wahrnehmung / The vignette as an excercise in perception"Evi Agostini, Hans Karl Peterlini, Jasmin Donlic, Verena Kumpusch, Daniela Lehner, Isabella Sandner (Hrsg.):

Die Vignette als Übung der Wahrnehmung / The vignette as an exercise in perception
Zur Professionalisierung pädagogischen Handelns / On the professionalisation of educational practices

 

 

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com; Foto Hand Karl Peterlini: privat, Foto Evi Agostini: Universität Wien/Joseph Krpelan