Einladung zur Objektiven Hermeneutik. Ein Studienbuch für den Einstieg
von Andreas Wernet
Über das Buch
Wer am Anfang eines objektiv-hermeneutischen Forschungsvorhabens steht und Orientierung sucht, findet in diesem Lehr- und Studienbuch wertvolle Hinweise für die ersten Schritte mit dieser Methode. Das Buch ermöglicht auch denjenigen Studierenden, die noch nicht über ein umfangreiches wissenschaftliches und methodisches Vorwissen verfügen, einen Zugang zur Objektiven Hermeneutik.
Leseprobe: S. 53-57
III. Was ist der Fall? Oder: Wie gelange ich zu einer Fragestellung?
Ein häufig unterschätztes Problem des Forschungsprozesses besteht in der Formulierung einer dem methodischen Vorgehen angemessenen Fragestellung. Mit dem Terminus Fallbestimmung betont die Objektive Hermeneutik, dass die Fragestellung in dieser Methode einen Fallbezug voraussetzt. Dabei folgt die Formulierung der Fallbestimmung dem „Scheinwerfermodell“. Fallrekonstruktionen profitieren von einer möglichst präzise vorgenommenen theoretischen Ableitung der Fragestellung.
Zwei Beispiele der Entwicklung von Fragestellungen sollen eine Vorstellung vom Prozesscharakter der Fallbestimmung vermitteln.
Den Interpretationsbeispielen, die bisher angeführt wurden, lag keine Fragestellung zu Grunde. Sie dienten lediglich der methodischen Demonstration der objektiv-hermeneutischen Arbeitsweise. So wie man mit einem Messgerät auch außerhalb des ernsthaften Einsatzes seine Funktionsweise vorführen kann oder ein statistisches Auswertungsprogramm mit Phantasiezahlen ablaufen lassen kann, so kann man auch die Textinterpretationsprinzipien der Objektiven Hermeneutik auf beliebige Sequenzen anwenden.
Dass die Methode der Objektiven Hermeneutik solche ‚Fingerübungen‘ ermöglicht, ist ein für die methodische Schulung ausgesprochen günstiger Umstand. Für diejenigen, die sich diese Methode aneignen wollen, bietet es sich nämlich tatsächlich an, solche Übungen an x-beliebigen Sequenzen, die man irgendwo aufschnappt – eine missglückte Äußerung einer Politikerin, ein Slogan einer Organisation, ein alltagsweltlicher Sprechakt – versuchs- und ‚spaßeshalber‘ kontextfrei zu interpretieren. Solche Nebenher-Übungen schulen nicht nur das methodische ‚Gespür‘; sie führen auch zu interessanten subjektiven Erkenntnis- und Bildungsprozessen. Sie geben Gelegenheit, die Welt auch außerhalb des eigenen, ‚professionellen‘ Forschungsinteresses mit etwas anderen Augen zu sehen.
Allerdings lösen solche Fingerübungen nicht das Problem eines forschungslogisch sinnvollen Gebrauchs der Methode. Sie sind insofern unernsthaft, als sie keiner systematisch elaborierten Forschungsfrage folgen. Diesem Thema, „Wie gelange ich zu einer Fragestellung?“, wollen wir uns im Folgenden zuwenden.
Eine wichtige Vorentscheidung hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeiten einer objektiv-hermeneutischen Fallrekonstruktion ist schon in Kapitel I getroffen worden. Tatsachenwissenschaftliche und gesetzesförmige Aussagen lassen sich mit der Objektiven Hermeneutik nicht gewinnen. Die Häufigkeit von Eheschließungen und Scheidungen, der statistische Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft oder Geschlecht, die Rate des Hochschulzugangs; das alles sind Aussagen, die sinnverstehend weder generiert noch überprüft werden können. Diese Erkenntniseinschränkung ist nicht nur umfangslogisch bemerkenswert; sie ist auch ‚erkenntnispsychologisch‘ von nicht unerheblicher Bedeutung. Denn es sind vor allem tatsachen- und gesetzesförmige Aussagen, für die das Alltagsdenken sich besonders interessiert und die es als die eigentlich interessanten Aussagen ansieht (vgl. Kapitel I). Es sind vor allem diese Aussagen, die wir mit dem Begriff des Wissens und mit den Attributen richtig und falsch verbinden. Dazu keinen forschungslogischen Beitrag leisten zu können, ist zunächst einmal ernüchternd. Wenn Fallrekonstruktionen dazu nichts zu sagen haben; wozu haben sie überhaupt etwas zu sagen?
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Die alltagsweltliche Evidenz der Fragestellung
Dass die Lage der Fallrekonstruktion der Sache nach nicht so ‚deprimierend‘ ist, wie es gerade angeklungen ist, lässt sich exemplarisch an dem gesellschaftlich und wissenschaftlich prominenten Thema des Zusammenhangs von Bildungserfolg und sozialer Herkunft plausibilisieren. Bezüglich dieses Themenkomplexes verfügen wir über umfangsreiches tatsachenwissenschaftliches Wissen. An diesem Wissen kann man sich allerdings auch die Begrenztheit der quantitativen Methoden und ihrer Aussagen klar machen. Die statistischen Korrelationen, die zwischen soziale Parametern empirisch nachgewiesen werden können, führen nämlich zu Wahrscheinlichkeitsaussagen. Dieses Wissen folgt der Aussagelogik, dass der Bildungserfolg für Angehörige bildungsnaher Milieus wahrscheinlicher ist als für Angehörige bildungsferner Milieus. Solche Aussagen schaffen zwar auf den ersten Blick eine für das Erkenntnisinteresse sehr befriedigende Situation (und natürlich möchte man dieses Wissen nicht missen), aber sie tragen nicht dazu bei, diesen Zusammenhang zu verstehen. Die Verstehenslücke solcher Wahrscheinlichkeitsaussagen wird besonders sichtbar durch diejenigen Fälle, die sich ‚unwahrscheinlich‘ oder ‚erwartungswidrig‘ verhalten18. Wenn man zum Beispiel, wie Bourdieu das vorgeschlagen hat, den Bildungserfolg auf die Ausstattung mit „kulturellem Kapital“19 zurückführt – die bildungsnahen Milieus statten ihre Angehörige mit einem kulturellen Kapital aus, das ihren Bildungserfolg begünstigt –, trägt das nichts zum Verständnis der erwartungswidrigen Verläufe bei. Im Gegenteil: Eher stellt sich mit dieser Erklärung die unbequeme Frage, warum Angehörige der bildungsnahen Milieus erfolglos bleiben20 und Angehörige bildungsferner Milieus Bildungserfolge verzeichnen. Zumindest für diese Fälle greift die Theorie des kulturellen Kapitals nicht. Mindestens für diese Fälle drängt sich auch dem tatsachenwissenschaftlichen Interesse ein Verstehensproblem auf: Was geht in diesen Fällen vor sich?21
Damit haben wir einen ersten Hinweis zur Beantwortung des Problems der Fragestellung einer objektiv-hermeneutischen Interpretation erhalten. Eine erkenntnislogische Fraglichkeit, die auf dem Wege der Sinnverstehens bearbeitet werden kann, ist sicherlich dann gegeben, wenn etwas zum Fall wird. Dann liefert das empirische Phänomen der sinnverstehenden Wissenschaft einen Gegenstand und eine Fragestellung, die über eine ähnlich suggestive Kraft verfügt wie die tatsachen- und gesetzeswissenschaftliche. Im weitesten Sinne könnte man also den Zuständigkeitsbereich einer objektiv-hermeneutischen Fallrekonstruktion in Phänomenen ‚abweichenden Verhaltens‘ lokalisieren. Immer dann, wenn etwas alltagsweltlich zum Fall wird, drängt sich auch die wissenschaftliche Fallperspektive auf. Wenn für das Alltagshandeln ein Verstehensproblem aufgeworfen ist, stellt sich auch der Wissenschaft ein (alltagsweltlich nachvollziehbares) Verstehensproblem. Und so gehört, wie in vielen anderen qualitativen Forschungsansätzen auch, die Untersuchung ‚außergewöhnlicher‘ sozialer Phänomene zu den privilegierten Gegenständen einer objektiv-hermeneutischen Fallrekonstruktion. Die Frage des Forschungsinteresses beantwortet sich gleichsam vorwissenschaftlich. Weil das Phänomen schon vor seiner wissenschaftlichen Betrachtung zum Fall geworden ist, drängt es sich einer fallrekonstruktiven Bearbeitung auf und entlastet diese von dem Problem der Selbstrechtfertigung.
Offensichtlich entspringt diese Forschungsbegründung einer alltagsweltlichen Relevanz. Das forschungslogische Verstehensproblem beruft sich auf ein alltagsweltliches. Die wissenschaftliche Fraglichkeit ist der alltagsweltlichen entlehnt. Würden wir unser Erkenntnisinteresse grundlegend daran ausrichten, hieße das aber, dass das alltäglich und selbstverständlich Gegebene, also jene Phänomene, die aus der Perspektive der Akteure keine Fraglichkeit aufwerfen, kein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse verdient haben, nicht zum Fall gemacht werden können. Das Selbstverständliche (z. B. der Bildungserfolg der ‚Bildungsnahen‘ oder der Bildungsmisserfolg der ‚Bildungsfernen‘) wirft kein Verstehensproblem auf; es versteht sich von selbst.
Diese Beschränkung unseres wissenschaftlichen Interesses auf einen alltagsweltlichen Fallbegriff – nur was im Alltagsleben zum Fall wird, wird auch wissenschaftlich zum Fall – würde offensichtlich zu einer unbefriedigenden Einengung des Erkenntnisinteresses führen. Denn das hieße ja, dass ‚normale‘ oder ‚unscheinbare‘ Phänomene von vornherein nicht als Erkenntnisgegenstand in Frage kämen. Die Frage der sinnstrukturellen Konstitution von Normalität wäre ausgeklammert.
Diese Beschränkung wäre auch grundlagentheoretisch folgenreich. Wir müssten dazu nämlich, von Definitions- und Abgrenzungsproblemen einmal ganz abgesehen, Normalität und Abweichung als völlig heterogene Erkenntnisgegenstände ansehen und würden jeglichen systematischen Zusammenhang zwischen Integration und Desintegration, Anpassung und Anpassungsproblemen, Routine und Krise verneinen. Wenn wir solche Trennungen theoriesprachlich nicht vornehmen wollen, müssen wir forschungslogisch (auch) diejenigen Phänomene zum Fall machen, die alltagsweltlich keinen Anlass geben, von einem Fall zu sprechen. Die wissenschaftliche Frage: Was geht hier eigentlich vor?, emanzipiert sich gleichsam von der alltagsweltlichen. Sie kann auch auf jene Phänomene angewandt werden, die für das alltagsweltliche Verstehen keinerlei Verstehensproblem aufwerfen.
Die Forschungsfrage eines objektiv-hermeneutischen Forschungsvorhabens k a n n sich an alltagsweltliche Fraglichkeiten anlehnen. Sie nimmt dann ein Verstehensproblem auf, das sich auch dem Alltag stellt. Sie macht forschungslogisch das zum Fall, was schon in der sozialen Welt zum Fall geworden ist.
Diese Herangehensweise profitiert von der alltagsweltlichen S u g g e s t i v i t ä t des Interesses am Außergewöhnlichen, Außerordentlichen, Außeralltäglichen. Forschungslogisch steht die die Befragung des alltagsweltlich Unbefragten dem nicht nach. Die Fragestellung verliert dann aber ihre (vorwissenschaftliche) Suggestivität. Das Erkenntnisinteresse liegt dann nicht auf der Hand, sondern bedarf einer expliziten Begründungsleistung.
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18 Exemplarisch zu ,erwartungswidrigen‘ Schulkarrieren: Silkenbeumer/ Wernet 2012.
19 Zu diesem Begriff: Bourdieu 1992.
20 Dazu exemplarisch: Schmeiser 2003.
21 Für diese Forschungshaltung hat Clifford Geertz die berühmte, etwas überdramatisierende Formel „What the devil is going on?“ (Geertz 1973: 27) geprägt.
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Andreas Wernet: Einladung zur Objektiven Hermeneutik. Ein Studienbuch für den Einstieg
© Unsplash 2022 / Foto: Ben White