Ein neuer Blick auf 1968. Impulse für eine engagierte Politikwissenschaft
von Rainer Eisfeld
Über das Buch
1968 haben sich Teile der Politikwissenschaft radikal-reformerisch engagiert. Gestützt auf biographische Erfahrungen sucht der Autor den Grundgedanken dieser Revolte in einem Verständnis von Demokratie, das sich auf die niemals endende Aufgabe der Herstellung demokratischerer Verhältnisse durch radikale Reformen konzentriert – und fordert die Politikwissenschaft zu einer Rückkehr zu diesem Grundgedanken auf.
Leseprobe aus den Seiten 143 – 147
Hierarchisierung statt Demokratisierung – und zurück?
„Operative Autonomie“ muss, wie oben bereits erwähnt, an der Management-Universität als weitere Zauberformel aus dem Instrumentenkasten des New Public Management herhalten. Im Untertitel von Brinckmanns Schrift proklamiert als Autonomie für „Lehre und Forschung an Hochschulen“, klang die Wortprägung in Verbindung mit dem Titel Die neue Freiheit der Universität regelrecht verheißungsvoll. In der Konkretisierung wurde daraus freilich rasch jene „operative“ Autonomie der Hochschulleitungen, deren neue Machtfülle die Entscheidung über den Wirtschaftsplan, die Aufhebung/Einrichtung ganzer Studiengänge und Fakultäten sowie die längerfristige Entwicklungsplanung einschließt.
Das aber sind keine „operativen“ Fragen, sondern (Konzil 2001)
„fundamentale Strukturentscheidungen, deren Folgen die Hochschulen unter Umständen jahrzehntelang prägen. Dafür sind nicht ‚managementerfahrene‘ Präsidien, sondern die vielfältige Kompetenz und reiche Erfahrung der im Senat versammelten Universitätsmitglieder erforderlich. Analog zu den Zuständigkeiten des Senats sind die Kompetenzen der Fakultätsräte zu regeln.“
Bekanntlich verfingen derartige Plädoyers nicht. Dem unternehmensfixierten New Public Management und seinen Ablegern ist akademische Selbstverwaltung wesensfremd. Der Übergang zur quasi-unternehmerisch orientierten Universität schließt nicht nur (wie die verworfenen Verfassungsbeschwerden gegen das Brandenburgische Hochschulgesetz dokumentieren) eine einschneidende interne Einflussverschiebung ein, die vorrangig zu Lasten der Professoren geht. Sie bewirkt auch – je länger, desto mehr – eine Abwertung dieser Statusgruppe, die für den angelsächsischen Bereich drastisch formuliert worden ist: Aus der Perspektive politischer Parteien und Wirtschaftskonzerne reduziert die vormals prestigeträchtige Autorität des Professors sich auf die weit weniger glanzvolle Rolle eines „informational worker“, eines unter vielen Informationsspezialisten (Slaughter/Leslie 1997: 60). Gemessen am herkömmlichen deutschen Professorenbild zeichnet sich damit ein Wandel ab, wie er tief greifender kaum sein könnte.
Gleichzeitig erweist die viel gepriesene Drittmittelakquisition, die als Kriterium für „Berufungsfähigkeit“ zu problematischer Prominenz aufgerückt ist, sich bei genauerem Hinsehen mindestens in Teilen als Seifenblase. Ein Vergleich der Streuung von DFG-vergebenen Forschungsgeldern (Basis: DFG-Förderranking) mit Publikationsleistungen (Grundlage: CHE-Forschungsranking) ergab, dass „die Akquisition von Drittmitteln und die Produktion von Erkenntnisfortschritt durch Publikationen … sich offenbar in zwei weitgehend separaten Welten vollziehen“ (Münch 2006: 472). Das lässt auf eine „Fehlallokation“ von Fördermitteln schließen (ebd.: 473), die mit Effizienz oder Effektivität wenig zu tun hat, wohl aber mit der Konzentration von Gutachtern an bestimmten Hochschulstandorten und durch sie ausgeübtem Einfluss.
Auch an anderen Enden hapert es. Einer Untersuchung zufolge sind durch „Verschulung des Studiums und strikte Effizienzorientierung“ gerade die „Kreativitätszonen“ unter Druck geraten, die als „assoziative Arbeitsformen, Freiräume und Vertrauensbeziehungen“ realiter jene innovativen Durchbrüche garantieren, um deren Förderung sich das Konzept der unternehmerischen Universität angeblich dreht (Dörre/Neis 2010: 153). Als wenig hilfreich erweist sich dabei das „Nebeneinander von marktförmigem Wettbewerb, modifizierten Hierarchien, überkommenen ständischen Elementen und neuartigen Konzentrationsprozessen von Macht und Ressourcen“, das die faktische Ausprägung des Leitbilds der Management-Universität kennzeichnet (ebd.: 145).
Hier sammelt sich auf mehreren Ebenen Konfliktstoff an. Denkbar wird die radikal-reformerische Perspektive eines Programms, das auf die (Wieder)-Herstellung solcher „Kreativitätszonen“ gerichtet ist – kombiniert mit Regelungen, die sicherstellen, dass deren Schaffung (ebd.: 157) „nicht länger an die Willkür professoraler Machtausübung gebunden würde“, sondern „von Angehörigen aller universitären Gruppen eingeklagt werden könnte“ (man erinnere sich an das oben wiedergegebene Sondervotum der Verfassungsrichter Simon und Rupp-von Brünneck!).
Auf solche Weise ließe sich, so die Hoffnung, bei einer wachsenden Zahl von Hochschulmitgliedern jene „Faszination auf Neues“ auslösen, die der Gruppenuniversität fehlte. Im Übrigen könnten, wie Klaus Dörre und Matthias Neis zu Recht hervorheben (ebd.: 131), „Freiräume“ und „Kreativitätszonen“ durchaus universitätsweit verstanden werden, sei es durch Schaffung sozial- und geisteswissenschaftlicher Schwerpunkte im Gegensatz zum vorherrschenden Trend oder durch Etablierung von Wirkungsmöglichkeiten für profilierte „kritische Geister und oppositionelle Köpfe“ mit breiter öffentlicher Sichtbarkeit.
Wiederum gilt es im Zweifelsfall, die neoliberale „Kommodifizierungs“politik insgesamt auf den Prüfstand zu stellen, partizipatorische an Stelle monokratischer Konzepte der Hochschulverwaltung wieder aufzugreifen, dabei auf behebbare Schwächen überprüfen. Dafür spricht, außer den bereits aufgeführten, ein zusätzlicher Grund: Die jüngst nachdrücklich vorgetragene Einsicht, dass „die Kumulation von Informationen in Gruppen zu gemeinsamen Entscheidungen führen“ kann, „die oft besser sind als Lösungsansätze einzelner Teilnehmer“ (Prittwitz 2021: 232). In der unumwundenen Sprache des New Yorker-Redakteurs James Surowiecki, der in seiner Studie Die Weisheit der Vielen diese These verfochten hat: „Wir sollten aufhören, hinter Experten her zu hecheln“ (Surowiecki 2005: 12; vgl. im Weiteren 16/17). Stattdessen sollten – unter der unabdingbaren Voraussetzung einer „breitere[n] Streuung wirklicher Entscheidungsmacht“ (ebd.: 277) – zur Problemlösung Gruppen flexibler, selbstbestimmter, gemeinsamen Regeln verpflichteter Individuen herangezogen werden, wie man sie in Hochschulgremien auch nach zwei und mehr Jahrzehnten Management-Universität hoffentlich noch findet.
Mit ihrem Plädoyer für „Marktförmigkeit“, Nachfrageorientierung“, „Wirtschaftlichkeit“ solcher Universitäten hatten deren Befürworter, wie erinnerlich, die Forderung verbunden, Forschung und Lehre hätten künftig zur „Stärkung der [sprich: internationalen] Wettbewerbsfähigkeit“ der eigenen Wirtschaft beizutragen, um „damit der gesellschaftlichen Verantwortung und dem politischen Auftrag eher gerecht zu werden“ (Brinckmann 1998: 113; HniO). Im Lauf der Zeit verbarg dieser unverblümte Anspruch – dessen internationaler Bezugspunkt bei der „Exzellenzinitiative“ des Bundes noch deutlich durchscheint – sich hinter verschämteren Formulierungen wie der, Universitäten müssten mit ihren Erkenntnissen „auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Bedürfnisse antworten“ (Nickel 2011: 123). Doch alle Verschwommenheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dahinter ein „trojanisches Pferd“ (Demeritt 2000: 313) für Ansprüche steckt, die politische und wirtschaftliche Akteure je nach Einfluss und Interessen von außen an Hochschulen herantragen.
Dabei sollte die Konkretisierung der vage umschriebenen „Bedürfnisse“ eigentlich keine Mühe bereiten: Es geht um jene drängenden Herausforderungen, mit denen immer zahlreichere Bürger sich konfrontiert sehen und die nur zu oft hinauslaufen auf eine Erosion der Demokratie. Mehrere Präsidentinnen und Präsidenten der American Political Science Association sowie von ihnen eingesetzte Studiengruppen (APSA Task Forces) haben diese Gefährdungen in ihren Reden und Berichten benannt:
- immer weiter auseinanderklaffende Einkommens-, Vermögens- und Bildungsunterschiede, die sich auswirken in ungleicher Fähigkeit wie Bereitschaft zu politischer Beteiligung und Demokratien in Richtung auf Plutokratien verschieben;
- rassistische Vorurteile, die Gesellschaften spalten, in die Diskriminierung und Ghettoisierung ethnischer Minderheiten münden;
- Antiterror-Strategien umfassender Überwachung von zweifelhafter Wirksamkeit, dabei Bürgerrechte massiv untergrabend;
- ein Verzicht auf konsequente Regulierungspolitik, der kapitalistischen Wirtschaften erlaubt, enthemmter zu verfahren, krisenanfälliger zu bleiben;
- tief verankerte Besitzstandsinteressen und Ideologien, die eine effektive Klimapolitik zu unterminieren drohen.
Die universitären Ausbildungs-, Finanzierungs-, Partizipations- und nicht zuletzt Finanzierungsprogramme, die es ermöglichen, derartige Kernfragen einer humanen Existenz konsequent anzugehen, müssen überwiegend erst verwirklicht werden. Mit Hochschulen, die auf kurzfristige Vermarktung ihrer Ergebnisse setzen, dürfte das nur zu einem geringen Teil möglich sein. Doch deren Risse beginnen sichtbar zu werden.
Quellen
Brinckmann, Hans (1998): Die neue Freiheit der Universität. Operative Autonomie für Lehre und Forschung an Hochschulen. Berlin: Edition Sigma Rainer Bohn Verlag
Demeritt, David (2000): „The New Social Contract for Science: Accountability, Relevance and Value in US and UK Science and Research Policy“, Antipode, Jg. 32, 308–329
Dörre, Klaus/Neis, Matthias (2010): Das Dilemma der unternehmerischen Hochschule:
Hochschulen zwischen Wissensproduktion und Marktzwang. Berlin: edition sigma
Konzil (2001): Konzil der Universität Osnabrück: Stellungnahme zum Anhörungsentwurf eines „Gesetzes zur Hochschulreform in Niedersachsen, 7. Februar
Münch, Richard (2006): „Wissenschaft im Schatten von Kartell, Monopol und Oligarchie“, Leviathan Jg. 34, 466–486
Nickel, Sigrun [CHE] (2011): „Governance als institutionelle Aufgabe von Universitäten und Fachhochschulen“, in: Brüsemeister, Thomas/Heinrich, Martin (Hrsg.): Autonomie und Verantwortung. Governance in Schule und Hochschule. Münster: Monsenstein & Vanderdat, 123–144
Prittwitz, Volker von (2021): Zivilität. Norderstedt: BoD
Slaughter, Sheila/Leslie, Larry L. (1997): Academic Capitalism. Politics, Policies and the Entrepreneurial University. Baltimore/London: John Hopkins University Press
Surowiecki, James (2005): Die Weisheit der Vielen. München: Bertelsmann
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Buchvorstellung und Diskussion mit Dr. Rainer Eisfeld
am Freitag, 8. April in Osnabrück
Beginn: 20 Uhr
Ort: „Unikeller”, Neuer Graben 29 (Schloss), 49074 Osnabrück
Eintritt frei
Anmeldungen unter: lese-rampe@gmx.de.
Weitere Informationen:
www.unikeller.de
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