„Deutsche Sicherheitspolitik“: Leseprobe

Leeres Plenum des deutschen Bundestages, von oben

Deutsche Sicherheitspolitik. Herausforderungen, Akteure und Prozesse

von Stephan Böckenförde und Sven Bernhard Gareis (Hrsg.)

 

Über das Buch

Praxisnahe Analyse der deutschen Sicherheitspolitik von ausgewiesenen Experten: das unentbehrliche Grundlagenwerk für Studium, Lehre und Politik in dritter Auflage. Das Lehrbuch bietet eine Einführung in die wichtigsten Handlungsfelder und Fragestellungen deutscher Sicherheitspolitik. Von einem umfassenden Sicherheitsverständnis ausgehend werden dabei die wichtigsten Akteure, Zusammenhänge und Entscheidungsprozesse sowie die politische Praxis auf nationaler und internationaler Ebene vorgestellt und diskutiert. Die Kapitel bilden in sich geschlossene Einheiten, die sich mit ihren Diskussions- und Arbeitsfragen sowie annotierten Literaturvorschlägen bestens zur Vorbereitung von Seminarsitzungen eignen.

Für die dritte Auflage wurden die Texte umfassend überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht. Zudem wurde der Band um neue Themenbereiche erweitert.

Leseprobe: S. 83-88

 

Kapitel 3: Die Organisation deutscher Sicherheitspolitik – Akteure, Kompetenzen, Verfahren und Perspektiven

Sven Bernhard Gareis

Wie in jedem modernen Gemeinwesen gehört es auch in Deutschland zu den zentralen staatlichen Aufgaben, eine Sicherheitsordnung zu schaffen und aufrechtzuerhalten, durch welche Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum der Bürger abgewehrt werden und auf deren Grundlage sich Freiheit und Wohlstand entfalten können. Die Gewährleistung dieser Staatsaufgabe gestaltet sich jedoch als zunehmend anspruchsvoll. Dies liegt schon daran, dass „Sicherheit“ ein schillerndes Konstrukt ist: zum einen ist es gar nicht erreichbar, weil weder auf der individuell-persönlichen noch auf der kollektiven Ebene – etwa in Staaten oder im internationalen System – alle Risiken und Bedrohungen kontrolliert werden können. Zum anderen unterliegt „Sicherheit“ höchst subjektiven Wahrnehmungen und Einschätzungen und ist mithin in politisch-konzeptioneller Hinsicht äußerst schwer zu fassen.

Während des Ost-West-Konflikts war die deutsche Sicherheitspolitik lange durch die Unterscheidung zwischen äußeren und inneren Bedrohungen gekennzeichnet, die es durch spezialisierte Akteure abzuwehren galt: Die Wahrung grundlegender Interessen wie die politische Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit des Landes gegen die Bedrohung seitens der Sowjetunion und deren Verbündeter war die Aufgabe der deutschen Diplomatie im Rahmen von Bündnissen und anderen internationalen Foren, ihre militärische Verteidigung oblag der Bundeswehr in Kooperation mit den Alliierten. Für die Prävention, Bekämpfung und Verfolgung von Kriminalität und anderen innerstaatlichen Sicherheitsproblemen waren hingegen das Justizwesen und die Polizei zuständig.

Mit der weltpolitischen Wende von 1989/90 schien die Gefahr eines großen Krieges zwischen Ost und West überwunden. Allerdings entwickelten sich neue sicherheitspolitische Herausforderungen für Deutschland und seine Partner, zu denen seit 2014 mit dem Vorgehen Russlands in der Ukraine bzw. den Machtdemonstrationen gegenüber NATO-Mitgliedstaaten auch wieder Bedrohungen mit zwischenstaatlicher Gewalt an den Grenzen des Bündnisses gehören. Bezüglich dieser Herausforderungen lassen sich drei große Trends ausmachen:

Erstens ist das Szenario einer offenen Bedrohung durch mächtige, zugleich aber auch bekannte und berechenbare Akteure einem Bündel unterschiedlichster direkter und indirekter Sicherheitsrisiken in einer globalisierten und damit enger verbundenen Welt gewichen. Dieses umfasst ein globales und polyzentrisches Szenario, das von klassischen Krisen und Kriegen über den transnationalen Terrorismus und das Problem der Proliferation von Massenvernichtungswaffen bis hin zu den durch soziale und wirtschaftliche Disparitäten, Umweltzerstörung, Klimawandel oder Krankheiten verursachten Herausforderungen reicht. Diese Risiken entziehen sich oft schon einer klaren Zuordnung zu konkreten Akteuren und entfalten ihre Wirkungen nicht am Ort ihres Entstehens, sondern in oft weit entfernten Ländern und Regionen. Vor allem aber lassen sie sich nicht mehr in den scheinbar eindeutigen Kategorien wie „Innen“ oder „Außen“ fassen: Die Grenzen zwischen Verbrechensbekämpfung und Verteidigung, zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen seit Jahren immer mehr (siehe Wiefelspütz 2007: 9 f.) und mit ihnen die überbrachte Aufgabenübertragung an die klassischen staatlichen Sicherheitsagenturen wie Militär, Polizei oder Justiz. Dies gilt auch und gerade für die seit 2014 von Russland verfolgten Ansätze einer nicht-linearen oder hybriden Kriegführung (siehe dazu auch den Beitrag von Schmid in diesem Band). Dabei bleibt die Anwendung offener oder verdeckter militärischer Gewalt meist bewusst unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs. Viele Maßnahmen wie die Einwirkung auf die Cyberund Kommunikationsinfrastruktur oder die Beeinflussung der öffentlichen Meinung eines Landes fallen gar nicht in den Bereich klassischer, vorwiegend militärischer Kriegführung und sind oft nur schwer bestimmten Akteuren zuzuordnen. Die „lineare Kriegführung“ tritt zunehmend in den Hintergrund und wird ersetzt durch Maßnahmen wie Desinformation oder Infiltration, welche die Funktionsfähigkeit einer politisch-gesellschaftlichen Ordnung destabilisieren sollen. Solchen etwa an sozio-ökonomischen oder ethnisch religiösen Bruchstellen ansetzenden Aktionen ist mit Mitteln der klassischen Verteidigung nicht beizukommen. Sie können aber erhebliche Schäden und politisch-gesellschaftliche Verwerfungen bewirken (Gareis 2018: 157).

Zweitens verlangt die Komplexität dieser Sicherheitsrisiken nach einem umfassenden Politikansatz, der neben den traditionellen sicherheits- und verteidigungspolitischen Handlungsfeldern auch präventive Bemühungen in Bereichen wie der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, der Bildung, der Armutsbekämpfung und der Hilfe zur guten Regierungsführung einschließt. Ein solcher Ansatz erfordert indes auch, die auf diesen Feldern tätigen, äußerst unterschiedlichen Akteure sowie deren Arbeitsweisen und Instrumente in einem umfassenden Konsultations-, Koordinations- und Kooperationskontext zusammenzuführen. In Deutschland postulierte das 2006 vom Verteidigungsministerium vorgelegte Weißbuch einen solchen Ansatz unter der Überschrift der „Vernetzten Sicherheit“ (Bundesministerium der Verteidigung 2006: 29 f.). Ganz ähnliche Ziele verfolgt bereits seit längerem der „Aktionsplan Zivile Krisenprävention“ (Bundesregierung 2004), der 2017 in die Leitlinien der Bundesregierung zu „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (Bundesregierung 2017) überführt wurde. Das Weißbuch 2016 der Bundesregierung spricht in diesem Zusammenhang von einem Konzept „Gesamtstaatlicher Sicherheitsvorsorge“ (Bundesregierung 2016: 48). Im Zentrum dieser gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge steht die Erkenntnis, dass nicht alle Bedrohungen frühzeitig erkannt und ihnen entgegengewirkt werden kann. Vielmehr geht es um „Resilienzbildung“, womit die Fähigkeit eines Staates und einer Gesellschaft beschrieben wird, im Falle des Scheiterns aller präventiven Maßnahmen die Folgen eines gravierenden Ereignisses zu absorbieren, die Schäden zu begrenzen und so rasch wie möglich zur größtmöglichen Normalität zurückzukehren. Dies entspricht einem wirklichen Paradigmenwechsel: Weg vom Versuch der Kontrolle aller denkbaren Schadensereignisse hin zur Aufrechterhaltung staatlicher und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit – in der Früherkennung und Prävention, insbesondere beim Schadensmanagement und schließlich bei der Befähigung zur Reaktion. Die neue Komplexität der Sicherheitsrisiken erfordert ein komplexes sowie gut orchestriertes Instrumentarium zu ihrer Bewältigung – und verlangt letztlich auch die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure wie Unternehmen oder gesellschaftliche Gruppen in einen Ansatz gesamtgesellschaftlicher Sicherheitsvorsorge.

Drittens folgt aus der Entgrenzung der genannten Herausforderungen unter den Vorzeichen der Globalisierung, dass ihre Bewältigung die Kräfte und Möglichkeiten jedes einzelnen Staates bei weitem überschreitet. Auch die deutsche Sicherheitspolitik ist daher nur im Zusammenwirken mit Deutschlands Partnern im internationalen System sowie im Rahmen internationaler Organisationen wie EU, NATO, OSZE oder VN denkbar. Dies gilt insbesondere, wenn es darum geht, Risiken bereits am Ort ihrer Entstehung entgegenzutreten, um so einer möglichen Entwicklung zu manifesten Bedrohungen der Sicherheit Deutschlands oder Europas vorzubeugen. Neben einer je anlassbezogenen internationalen Zusammenarbeit bedarf es hier auch der Schaffung von völkerrechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, die kein einzelner Staat setzen kann.

Diese Entwicklungen stellen seit drei Jahrzehnten erhebliche Ansprüche an die deutsche Sicherheitspolitik und deren Akteure, die sich auf den Ebenen von Bund und Ländern neu aufstellen und organisieren müssen. Hinzu tritt die internationale Ebene: Deutschland sieht sich seitens seiner Bündnispartner sowie weiterer Mitspieler im internationalen System wachsenden Erwartungen und härteren Forderungen etwa hinsichtlich seines militärischen Engagements oder der Steigerung seiner Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes konfrontiert (Krause 2019) – was in den innenpolitischen Diskursen oft auf Skepsis, wenn nicht gar Ablehnung stößt. Dieses Wechselspiel zwischen externen Erfordernissen und internen Meinungsbildern und Haltungen prägt seit langem die deutsche Sicherheitspolitik (vgl. Höse/Oppermann 2011).

Im demokratischen Rechtsstaat sind der sicherheitspolitische Entscheidungs- und Handlungsapparat sowie die durch ihn gesteuerten Prozesse und Maßnahmen in ihren Grundzügen durch konstitutionelle bzw. gesetzliche Normierungen und Vorgaben reglementiert. Jedoch können formale Festlegungen immer nur einen Teil der komplexen Realität sicherheitspolitischer Entscheidungen und Prozesse abbilden. Schon innerhalb der für die auswärtige Politik vorrangig zuständigen Exekutive auf der Bundesebene sind zahlreiche, oft genug situative oder informelle Faktoren wie Koalitionskonstellationen, die Persönlichkeit der Bundeskanzlerin/ des Bundeskanzlers, die Beziehungen zwischen den Fachministerinnen/Fachministern und vieles mehr von großer Bedeutung. Hinzu treten die Mehrheitsverhältnisse im Parlament, die Interessen privater Akteure wie Lobbygruppen, Wirtschaftsunternehmen oder Nichtregierungsorganisationen und nicht zuletzt die sich in Medien und demoskopischen Erhebungen artikulierende öffentliche Meinung (vgl. dazu den Beitrag von Jacobs und Pötzschke in diesem Band). Des Weiteren existieren vielfältig verästelte Strukturen, die sich aus der föderalen Ordnung Deutschlands und dem Vorhandensein von sechzehn parteipolitisch heterogenen „Nebenregierungen“ in den Ländern ergeben.

Eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der sicherheitspolitischen Entscheidungsprozesse und Verfahrensbestimmungen in Deutschland steht noch aus. Gleichwohl erscheint es möglich, einige grundsätzliche Aussagen zu den beteiligten Akteuren, den ihnen kraft Verfassung bzw. Gesetz übertragenen Kompetenzen sowie den zwischen ihnen bestehenden formellen und informellen Interaktionsbedingungen und Beziehungsgeflechten zu machen, um die praktische Ausgestaltung deutscher Sicherheitspolitik in ihren Grundzügen zu erläutern und Anforderungen an ihre Ausgestaltung abzuleiten. Dies soll im vorliegenden Beitrag unternommen werden.

 

1 Sicherheitspolitik im föderalen Staat

Blickt man durch das Prisma eines komplexen Sicherheitsbegriffs auf die Anforderungen an einen Staat bzw. eine Regierung, so verlangt im Falle Deutschlands dessen föderale Ordnung besondere Aufmerksamkeit. Durch das Grundgesetz (GG), zahlreiche weitere Gesetze und Verordnungen und nicht zuletzt durch die politische Praxis werden sicherheitspolitische Verantwortlichkeiten, Aufgaben und Befugnisse sowie Machtinstrumente einem breitgefächerten Ensemble von Akteuren in Bund und Ländern zugewiesen. So überträgt Art. 30 GG den Ländern die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben, allerdings vorbehaltlich weiterer im Grundgesetz verankerter Regeln. Diese finden sich in zahlreichen Verfassungsartikeln, in denen dem Bund exklusive Befugnisse übertragen werden. Grundlegend geregelt wird die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern durch die Art. 70-74 GG, die festlegen, in welchen Politikfeldern der Bund ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse für sich beansprucht (Art. 73 GG) bzw. in denen im Rahmen der sog. konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72 GG in Verbindung mit Art. 74 GG) Zuständigkeiten bei den Ländern verbleiben, solange der Bund keine eigenen Regelungsansprüche erhebt.

Im Feld der staatlichen Sicherheitsvorsorge überträgt das Grundgesetz zentrale Befugnisse an den Bund. So legt Art. 73 (1) GG fest, dass der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten sowie die Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung zuständig ist. Im Bereich der innerstaatlichen Sicherheitsvorsorge beansprucht der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet der Kriminalpolizei, beim Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, bei der Abwehr von gewaltsamen Gefährdungen der auswärtigen Belange Deutschlands, bei der Einrichtung eines Bundeskriminalamtes (BKA) sowie bei der internationalen Verbrechensbekämpfung (Art. 73 (1) Nr. 10). Vor dem Hintergrund veränderter Bedrohungswahrnehmungen nach dem 11. September 2001 sind dem Bund durch die Verfassungsänderungen im Zuge der Föderalismusreform des Jahres 2006 weitere exklusive Zuständigkeiten übertragen worden: In den Katalog des Art. 73 aufgenommen wurde die Abwehr von Gefahren durch den internationalen Terrorismus für die Fälle, in denen Bedrohungen länderübergreifender Art sind, die Zuständigkeit einer Landespolizeibehörde nicht erkennbar ist oder die oberste Landesbehörde um eine Übernahme ersucht (Art. 73 (1) Nr. 9a; Lachmuth et al. 2006: 7). Die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz eröffnet dem Bund somit weite Gestaltungsspielräume – sind jedoch, wie etwa im Falle des Art 73 (1) Nr. 9a Interessen und Zuständigkeiten der Länder mit betroffen, können diese über ihre Mitwirkungsrechte im Bundesrat erheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung durch den Bund nehmen (s. u.).

Diesen verfassungsrechtlichen Kompetenzzuweisungen an die Ebenen von Bund und Ländern entspricht auch die institutionelle Zuordnung von Sicherheitsaufgaben: Während der Bund für die gesamtstaatliche Sicherheit zuständig ist, obliegt den Ländern vor allem die Aufrechterhaltung von öffentlicher Ordnung und Sicherheit im täglichen Leben, also vor allem der Schutz der Bürger vor Kriminalität, Unglücken oder anderen innerhalb der Ländergrenzen auftretenden Gefahren.

Hinzu kommen funktionale Differenzierungen, die nicht allein mit dem föderalen Prinzip zu begründen sind, aber einem seiner wichtigsten Anliegen dienen, nämlich der Dezentralisation von Macht. So sind in Deutschland – anders als etwa in Frankreich oder Italien, wo militärische Formationen wie die Gendarmerie oder die Carabinieri auch polizeiliche Funktionen wahrnehmen – die Aufgaben von Bundeswehr und Polizei strikt voneinander getrennt. Ähnliches gilt für das Trennungsgebot der Befugnisse von Polizei und Nachrichtendiensten: Etwas vereinfacht ausgedrückt haben die Nachrichtendienste weitreichende, verdachtsunabhängige Befugnisse zur Informationsbeschaffung, aber keine exekutiven Kompetenzen. Umgekehrt hat die Polizei im Zuge der Strafverfolgung zwar starke Durchsetzungsmöglichkeiten, denen jedoch eingeschränkte Ermittlungsmöglichkeiten gegenüberstehen (Möllers 2018a: 2311; siehe dazu auch den Beitrag von Möllers in diesem Band). Die Aufgaben von Polizei und Nachrichtendiensten sind zudem noch auf je eigene Einrichtungen im Bund und in den Ländern übertragen worden. So existieren neben je sechzehn Polizeien der Länder und Landeseinrichtungen für Verfassungsschutz (in sieben Ländern handelt es sich um eigene Ämter, in den übrigen neun in den jeweiligen Landesinnenministerien angesiedelte Abteilungen) mit Bundespolizei und Bundeskriminalamt noch zwei Polizeien des Bundes sowie drei nationale Nachrichtendienste, nämlich der für die Auslandsaufklärung zuständige Bundesnachrichtendienst (BND), das für den Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zuständige Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie der für die Sicherheit der Bundeswehr zuständige Militärische Abschirmdienst (MAD).

Das Grundgesetz verlangt und ermöglicht in seinem Art. 35 die gegenseitige Amtshilfe zwischen den Einrichtungen des Bundes und der Länder, doch ist diese vorrangig anlassbezogen und befristet, etwa beim Einsatz der Bundeswehr bei schweren Unglücksfällen oder Naturkatastrophen. Kontinuierliche Koordinationsmechanismen oder geregelte Informations- und Kommunikationswege zwischen den verschiedenen Einrichtungen auf Bundesund Länderebene gibt es nicht bzw. nur in Ansätzen (s. u.).

Diese so entstandene dezentrale Sicherheitsordnung in Deutschland ist eine wesentliche Antwort des Grundgesetzes auf die Erfahrungen des grenzenlosen Missbrauchs staatlicher Macht durch zentralistische und alles durchdringende Strukturen, wie sie im „Dritten Reich“ mit dem Reichssicherheitshauptamt und der Geheimen Staatspolizei existierten. Mit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben unterschied sich die Bundesrepublik schon bei ihrer Gründung deutlich von der DDR, die bis zum Ende der SED-Diktatur ebenfalls an überdimensionierten und zentralisierten „Sicherheitsapparaten“ festhielt. Durch die Streuung von Aufgaben, Befugnissen und Instrumenten soll eine Machtbeschränkung der Sicherheitsinstitutionen erreicht und deren demokratische Kontrolle gewährleistet werden (Bukow 2007: 69).

Allerdings muss auch gesehen werden, dass in Deutschland so nicht nur ein dezentraler, sondern auch ein stark fragmentierter Entscheidungs- und Handlungsapparat in der Sicherheitspolitik entstanden ist. Die Steuerung dieses Apparates gestaltet sich folglich schwierig. Vor dem Hintergrund neuer Risiken und Bedrohungen für die öffentliche Sicherheit in Deutschland stellen sich daher auch Fragen bezüglich seiner Effektivität. Spätestens nach der im November 2011 erfolgten Aufdeckung der Terroraktivitäten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), denen zwischen 2000 und 2006 zehn Menschen zum Opfer fielen, oder dem offenkundigen Behördenversagen im Zusammenhang mit dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 („Fall Amri“) traten die Abstimmungsschwierigkeiten zwischen den zahlreichen Sicherheitsinstitutionen auf Bundes- und Länderebene überdeutlich hervor und wurden dann auch Gegenstand parlamentarischer Untersuchungsausschüsse (Münchow 2017).

Auf der anderen Seite jedoch ist – verstärkt seit den Anschlägen des 11. September 2001 – auch eine Tendenz zu einer engeren Koordination der bislang so strikt getrennten Ebenen und Zuständigkeiten zu beobachten. Mit den sog. Sicherheitspaketen I und II sowie ihrem Kern, dem Terrorismusbekämpfungsgesetz, wurden die Kompetenzen der Polizeien und der Nachrichtendienste erweitert (Hein 2004), eine ebenen- und ressortübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsinstitutionen findet auch in dem im Dezember 2004 geschaffenen Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin statt. Dort werden die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch zwischen allen Polizeien und Nachrichtendiensten in Bund und Ländern sowie dem Zoll, insgesamt vierzig Behörden, vor allem auf dem Gebiet der Terrorprävention und unter Zugriff auf die 2007 aktivierte zentrale Antiterrordatei koordiniert (Borsdorff 2018: 926; vgl. dazu auch den Beitrag von Möllers in diesem Band). Um dem durch die Ermittlungspannen im Falle des NSU-Terrors zutage getretenen Bedarf an institutionalisierten Kommunikations- und Informationskanälen Rechnung zu tragen, wurde zudem im September 2012 die von Bundes- und Landesbehörden getragene Rechtsextremismus-Datei (RED) ins Leben gerufen.

Auch für die Bundeswehr werden im Bereich der innerstaatlichen Gefahrenabwehr Funktionszuschreibungen und Unterstützungsleistungen diskutiert. Die Bundeswehr hat der föderalen Ordnung des Landes entsprechende Strukturen geschaffen (Nationaler Territorialer Befehlshaber, Kommando Territoriale Aufgaben, Landeskommandos, Bezirks- und Kreisverbindungskommandos und Regionale Sicherungs- und Unterstützungskräfte), durch welche die Koordination mit den zivilen Behörden auf allen Ebenen gewährleistet wird. Offen ist jedoch die Frage nach den Mitteln, die durch die Streitkräfte eingesetzt werden dürfen: Hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz 2006 (Dau 2011: 21 f.) den Einsatz militärspezifischer Instrumente im Inneren ausgeschlossen, revidierte es in einem 2012 erfolgten Plenarbeschluss seine Position (s. u. Abschnitt 4.2). Demnach können militärische Mittel zur Abwehr schwerster Bedrohungen im Inneren herangezogen werden – die politische Diskussion um eine angemessene Ausfüllung dieses Handlungsrahmens tritt indes auf der Stelle (Rehage 2018: 103 ff.; Walter 2019: 12 f.).

Im Bereich der Auslandseinsätze changieren die Anforderungen an die deutschen Soldaten bereits seit langem zwischen militärischen und polizeilichen Aufgaben, wenn Soldaten im Anti-Terror-Kampf eingesetzt werden, im Einsatzland den Schutz der öffentlichen Ordnung in Städten und Dörfern gewährleisten, sich an der Suche nach Kriegsverbrechern beteiligen oder an der Ausbildung von Polizeikräften mitwirken.

Vor dem Hintergrund dieser insgesamt aber noch immer stark fragmentierten institutionellen Zuständigkeiten soll die Organisation deutscher Sicherheitspolitik daher auch unter der Fragestellung analysiert werden, in welchem Umfang und in welcher Qualität sich die in Weißbuch und Leitlinien geforderte Ressorts und Ebenen übergreifende Vernetzung sicherheitspolitischer Akteure in der Praxis gestaltet.

 

2 Zentrale Akteure und Verfahren auf Bundesebene

Wie oben bereits gezeigt, weist das Grundgesetz in Art. 73 dem Bund auf dem Wege der ausschließlichen Gesetzgebung zentrale Aufgaben und Zuständigkeiten für die gesamtstaatliche Sicherheit zu. Dies gilt insbesondere für die auswärtigen Beziehungen, deren Pflege Art. 32 (1) GG dem Bund überträgt. Dabei kommt der Bundesregierung aufgrund ihres umfassenden Initiativrechts und ihres allgemeinpolitischen Handlungsauftrages eine starke Rolle in der Außenpolitik und damit auch in deren Teilmenge der auswärtigen Sicherheitspolitik zu. Die Bundesregierung ist zuständig für die Unterhaltung diplomatischer Beziehungen zu anderen Staaten, sie handelt völkerrechtliche Verträge und Abkommen aus und verfügt über weitreichende Befugnisse bei deren Interpretation und Fortentwicklung, sie beschließt die Mitarbeit in internationalen Organisationen und Bündnissen wie EU, NATO oder VN und entscheidet über die Beteiligung an kollektiven Aktionen und Maßnahmen bis hin zu Militäreinsätzen. Dem Bundestag kommen in diesem Politikfeld vor allem Mitwirkungsrechte und indirekte Gestaltungsrechte etwa über das Haushaltsrecht zu (s. u.).

Ganz anders gestaltet sich das Verhältnis beider Organe in der Innenpolitik: Weil das innerstaatliche Handeln der Regierung vor allem an Gesetze gebunden ist, hat der Bundestag in Fragen der inneren Sicherheit ein ungleich größeres Gewicht als bei der auswärtigen Sicherheitsvorsorge. Zudem verfügt die Legislative über eigene Initiativrechte und kann damit sehr viel aktiver auf die Gestaltung von Politik einwirken.

Entlang der Trennung von auswärtiger und innerstaatlicher Politik besteht also ein deutliches Kompetenzgefälle zwischen den beiden wichtigsten Verfassungsorganen auf Bundesebene, der Bundesregierung und dem Bundestag. Da jedoch die Regierung üblicherweise durch die Bundestagsmehrheit getragen wird, sind abweichende Positionierungen des Parlamentes eher selten. Auch sieht weder das Grundgesetz eine Konkurrenzsituation zwischen einer starken Exekutive und einem machtvollen Parlament wie etwa im amerikanischen System vor noch hat sich in der politischen Praxis in Deutschland eine derartige Konstellation herausgebildet.

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Stephan Böckenförde, Sven Bernhard Gareis (Hrsg.): Deutsche Sicherheitspolitik. Herausforderungen, Akteure und Prozesse

 

 

© Unsplash 20221 / Foto: Claudio Schwarz