„Junge Frauen mit Fluchterfahrungen zwischen Resilienz und Vulnerabilität“: Leseprobe

Leseprobe Tiefenthaler Cover "Junge Frauen mit Fluchterfahrungen"

Welche Bedingungen und Faktoren beeinflussen die Verhandlungsprozesse von Resilienz und Vulnerabilität bei geflüchteten Frauen? Eine Leseprobe aus Junge Frauen mit Fluchterfahrungen zwischen Resilienz und Vulnerabilität. Eine feministisch ethnographisch-partizipative Studie in italienischen Aufnahmezentren von Sabine Tiefenthaler.

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Junge Frauen mit Fluchterfahrungen zwischen Resilienz und Vulnerabilität –
1 Einleitung

 

1.1 Problemaufriss & Forschungsfragen

Aus globaler Sicht sind etwa 50% der Personen, sie sich weltweit auf der Flucht befinden Frauen und Mädchen (UNHCR 2018). Die Gründe für die Flucht von Frauen aus ihren Heimatländern unterscheiden sich von denen der Männer, da sie neben Konflikten und Kriegen auch häufig von geschlechtsspezifischen Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen betroffen sind (Pittaway & Bartolomei 2001; Freedman 2015). So wird in Kriegen sexuelle Gewalt oft als Waffe eingesetzt, um gegnerische Clans zu beschämen, zu bestrafen oder zu entmachten, und auch 75 % aller Opfer von Menschenhandel weltweit sind Frauen und Mädchen (OCHA 2016). Aktuelle wissenschaftliche Literatur und Forschungsergebnisse deuten ebenso darauf hin, dass geflüchtete Frauen und Mädchen in besonderem Maße geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind und infolgedessen Frauen mehrfach oder in vielfacher Hinsicht Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind (Pittaway & Bartolomei 2001).

Italien ist während der sogenannten Flüchtlingskrise beginnend im Jahr 2015 eines der zentralen Länder Europas für die Unterbringung von Geflüchteten geworden. Viele Personen sind über den Meerweg nach Italien gekommen und waren aufgrund des Dublin-Verfahrens dazu angehalten, ihr Recht auf Asyl in Italien geltend zu machen. Asylwerber*innen in Italien verbringen aufgrund der langen aufenthaltsrechtlichen Verfahren meist mehrere Jahre in sporadisch ausgestatteten Erstaufnahmezentren (Italienisch: CAS – Centro di accoglienza straordinaria). Die Unterbringung in Erstaufnahmezentren sollte eigentlich nur temporär und für Notfälle zur Verfügung stehen, ist aber in den letzten Jahren die Regelunterbringung für Asylsuchende in Italien geworden.

Die dargestellte Forschung wurde auf Sardinien, einer Insel im Süden Italiens, die in den letzten Jahrzehnten nur wenig von Migration betroffen war und somit unvorbereitet die Unterbringung von zahlreichen Geflüchteten organisieren musste, durchgeführt. Wie durch eine Studie (In Migrazione 2018) festgestellt wurde, weisen die Ausschreibungen für Erstaufnahmezentren in Sardinien gemeinsam mit Sizilien die schlechtesten Ergebnisse Italiens auf. Für viele Asylsuchende stellt Sardinien dennoch den Ausgangspunkt für eine Zukunft in Europa dar, sie treffen aber gleichzeitig auch auf benachteiligende sozioökonomische Bedingungen und eine isolierte geografische Lage, welche jegliche Integrationsprozesse erschweren. Innerhalb der letzten Jahre ist ein starker Anstieg von weiblichen Asylsuchenden in Italien zu verzeichnen. Waren im Jahr 2015 noch 11,5% aller Asylwerber*innen weiblich, so suchten 2019 bereits 26,72 % Frauen mit Fluchterfahrungen um Asyl an (EASO 2020).

Werden die geflüchteten Frauen in Europa in Unterkünften für Geflüchtete untergebracht, so ist die langläufige Meinung noch immer, dass sich Gewalt und Diskriminierung ausschließlich auf die Erfahrungen in Herkunfts- und Transitländern begrenzen und daher der Vergangenheit angehören. Freedman (2016) stellt hingegen fest, dass Frauen, die sich alleine auf die Flucht gemacht haben, also weder Kinder noch Partner bei sich haben, besonders für geschlechtsspezifische Gewalt und Diskriminierung während und nach der Flucht gefährdet sind. Diese Gefahr wird umso größer, wenn es an angemessenen Unterbringungsmöglichkeiten fehlt. Es kann also von einem Kontinuum von Gewalt (vgl. Ferris 1990; Krause 2017a) gesprochen werden, welches sich in Europa auf eine andere Art und Weise fortsetzt, indem sozialer und institutioneller Missbrauch auch die Orte kennzeichnet, an denen Schutz und Sicherheit erwartet und gefordert werden (vgl. Pinelli 2016; Pinelli 2019; Freedman 2016).

Diese Unsichtbarkeit der geschlechtsspezifischen Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen ist auch der Tatsache geschuldet, dass asylsuchende Frauen einerseits hinter dem Begriff Flüchtling versteckt werden und dieser Terminus „often overlooks distinctive stories and circumstances beyond preconceived classifications, meaning that women’s social worlds can be examined out of context” (Lenette & Boddy 2013, S. 73). Andererseits werden Frauen mit Fluchtbiografien häufig der Kategorie Frauen und Kinder subsumiert, was darauf schließen lässt, dass ihnen jegliche Handlungsfähigkeit abgesprochen wird und sie in der Haltung des passiven, hilflosen Opfers zementiert werden (vgl. Krause 2017b).1 Diese Ansichten fördern die Entstehung und Aufrechterhaltung stereotyper Bilder von Frauen mit Fluchtbiografien, die auf mehreren Ebenen agieren:

Eine unmittelbare Auswirkung der vorherrschenden Bilder ist auch in Bezug auf Unterstützungs- und Hilfsangebote erkennbar – Wenn Frauen anderen Kategorien untergeordnet werden, so erscheinen sie in vielen Statistiken und anderen Untersuchungen nicht separat auf und ihre Bedürfnisse und speziellen Lebenslagen bleiben dadurch unsichtbar und münden in unzureichenden geschlechtsspezifischen Hilfs- und Unterstützungsangeboten in Unterkünften für geflüchtete Frauen. Besonders in Erstaufnahmezentren in Italien, die eigentlich nur als Übergangslösungen konzipiert waren, in denen aber die meisten Asylsuchenden durch die lange Dauer der aufenthaltsrechtlichen Verfahren mehrere Jahre verbringen, fehlt es bis auf wenige Untersuchungen (z.B. Pasquero & Palladino 2017; Lombardi 2019) an Daten darüber, wie geflüchtete Frauen im Spannungsverhältnis institutioneller Machtverhältnisse den Herausforderungen begegnen und Resilienzprozesse zeigen.

Ein weiterer Wirkungsbereich dieser stereotypen Bilder bezieht sich auf das Handeln psychosozialer Fachkräfte in Erstaufnahmezentren. Durch vorhergehende Untersuchungen in italienischen Erstaufnahmezentren stellt Pinelli (2016) fest, dass „these organizations represent immigrants as human beings in need, devoid of any autonomy and agency“ (S. 31). Psychosoziale Fachkräfte nehmen also eine Position ein, in der sie Resilienzprozesse fördern, aber auch behindern können. Sie sind auf der einen Seite für die Versorgung der geflüchteten Frauen zuständig sind, auf der anderen Seite aber auch gleichzeitig aktiv an der (Re-)Produktion institutioneller Machtverhältnisse beteiligt sind. Ohne kritisches Bewusstsein laufen psychosoziale Fachkräfte Gefahr, Kompliz*innen institutioneller Unterdrückung zu werden und zur Aufrechterhaltung von stereotypen Geschlechterverhältnissen, in denen Gewalt gegen Frauen oft verharmlost wird, beizutragen (vgl. George 2012; Valtonen 2001).

Auch die Haltung der Forschenden kann von diesen viktimisierenden Sichtweisen beeinflusst werden und sich auf das konkrete Forschungshandeln auswirken. So kann es manchen Forschenden schwierig erscheinen, die Ressourcen von Geflüchteten überhaupt wahrzunehmen, und es folgt eine Konzentration auf Risikofaktoren oder Defizite der Beforschten. Häufig wird Forschung mit Geflüchteten gar nicht erst konzipiert mit dem Argument, dass mit potenziell traumatisierten geflüchteten Personen Gespräche vermieden werden sollen, um dadurch die Gefahr einer Re-Traumatisierung abzuwenden. Mit dieser Ansicht muss jedoch mitgedacht werden, dass den betroffenen Personen damit gleichzeitig auch das Recht auf eine eigene Entscheidung über die Offenlegung ihrer Erfahrungen genommen wird. Ob in der Forschung mit Geflüchteten Artikulationsräume eröffnet werden, hängt somit stark mit der Einstellung der Forschenden zusammen und die Wissenschaft riskiert dadurch, sich an einer (Re)Produktion von stereotypen Bildern zu beteiligen (vgl. Behrensen & Westphal 2019).

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1 Aufgrund dieser Ausführungen wird in der vorliegenden Arbeit auf die Verwendung des Begriffs Flüchtling verzichtet. Stattdessen wird entweder von Geflüchteten, Frauen mit Fluchtund Migrationsbiografien bzw. -erfahrungen oder geflüchteten Frauen gesprochen. Das Wort Flüchtling wird in dieser Arbeit nur im Sinne der Genfer Konvention als juristische Kategorie verwendet.

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3D Cover Tiefenthaler Junge Frauen mit Fluchterfahrungen 150 pxSabine Tiefenthaler:

Junge Frauen mit Fluchterfahrungen zwischen Resilienz und Vulnerabilität. Eine feministisch ethnographisch-partizipative Studie in italienischen Aufnahmezentren

Schriftenreihe der ÖFEB-Sektion Sozialpädagogik, Band 13

 

 

Die Autorin

Dr. Sabine Tiefenthaler, hauptberuflich tätig an der Pädagogischen Hochschule Tirol für den Bereich Inklusion und Diversität; freie Dozentin an der Universität Wien und der Freien Universität Bozen

 

Über „Junge Frauen mit Fluchterfahrungen zwischen Resilienz und Vulnerabilität“

Welche Bedingungen und Faktoren beeinflussen die Verhandlungsprozesse von Resilienz und Vulnerabilität bei geflüchteten Frauen? In dieser feministisch-ethnographisch-partizipativen Studie werden diese Prozesse bei Frauen in italienischen Notaufnahmezentren untersucht. Die Ergebnisse betonen die Bedeutung des kontextuellen Einflusses auf Resilienz und Vulnerabilität und zeigen, wie visuelle partizipative Methoden zur ko-konstruktiven Wissensgenerierung beitragen können.

 

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© Titelbild: gestaltet mit canva.com