Die Fallauswahl gezielt und methodisch reflektiert gestalten mit Fallauswahl in der qualitativen Forschung. Ein Leitfaden für Studium und Methodenpraxis von Margrit Schreier und Nicole Weydmann. Eine Leseprobe.
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Fallauswahl in der qualitativen Forschung: eine Einladung
Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt.
– Albert Einstein –
Eine neue Studie beginnen, Daten erheben – das ist immer auch ein Schritt in eine bis dahin unbekannte Welt. Als Forschenden geht es uns hier ähnlich wie einer Künstlerin, die mit dem Pinsel in der Hand vor einer leeren und unberührten Leinwand steht. Quantitativ Forschende machen sich vorab einen Plan: Sie überlegen, wie das Bild am Ende aussehen soll, unterteilen die Leinwand in abgegrenzte Bereiche und entscheiden, wo genau sie mit dem Pinsel dieses Braun und jenes Blau auftragen. Sie sehen das Bild schon vor sich, bevor sie noch den ersten Pinselstrich ausgeführt haben.
Ganz anders stellt sich die Situation für qualitativ Forschende dar: Für sie ist die unberührte Leinwand eine Welt unendlicher Möglichkeiten, und das endgültige Bild entsteht erst im Verlauf des künstlerischen Prozesses. Und auch wenn die Sonne ihre Lichtmuster auf die Leinwand wirft und versucht, sie zu inspirieren, stehen sie vor der Wahl der Pinsel und vor der Fülle an Farbtuben und -nuancen. Jede einzelne Farbe will sorgfältig ausgewählt sein, denn mit jedem neuen Pinselstrich kommt immer beides zum Ausdruck: die äußere Welt, die es darzustellen gilt, und die innere Welt, die Wahrheit der Künstler:innen.
Als qualitativ Forschende müssen wir, ähnlich einer Künstlerin, die sorgfältig ihre Farben und Werkzeuge aussucht, mit Bedacht diejenigen Fälle auswählen, die in der Lage sind, unser persönliches Bild von Wirklichkeit klar und vielschichtig wiederzugeben. Denn neben der Wahl der Farbe wird spätestens beim zweiten Pinselstrich auch die Frage aufkommen, welche Perspektiven und welcher Fokus in unsere Bemühungen einfließen sollen. Wen beziehen wir ein, welche Gruppen und Milieus sind ausschlaggebend für unseren Fokus? Wir können nicht alles Wahrnehmbare in unserer einen Studie abbilden – nicht ein ganzes Meer, sondern vielleicht nur einen Regentropfen. Aber dieser eine Regentropfen kann tiefe Einsichten vermitteln, die im gesamten Meer vielleicht gar nicht in den Blick kommen und so untergehen würden.
Und genau darin liegt die Kunst der absichtsvollen Entscheidungen: die Welt in ihrer überwältigenden Komplexität, der Vielzahl von Momenten und flüchtigen Eindrücke im Rahmen unserer begrenzten Mittel zu verstehen, zu ordnen und schließlich nachvollziehbar darzustellen. Deshalb ist die absichtsvolle Fallauswahl für uns nicht nur ein schlichtes methodisches Werkzeug, sondern auch ein systematisches Nachdenken über unsere eigenen Entscheidungen und die damit verbundenen Herausforderungen. Es geht darum, angesichts der unendlichen Möglichkeiten der unberührten Leinwand bewusste Entscheidungen zu treffen; zu akzeptieren, dass mit dem Fokus auf die eine Perspektive notwendig der Verzicht auf andere Perspektiven verbunden ist; uns zu begrenzen; und diese Entscheidungen auch nach außen zu vertreten.
Allerdings sind auch qualitativ Forschende vor der Leinwand ihrer Studie nicht auf sich allein gestellt. Sie mögen noch keine klare Vorstellung davon haben, wie ihr Bild am Ende aussehen wird und wo sie welchen Farbton aufbringen müssen. Aber natürlich können auch sie auf eine reiche Tradition zurückgreifen. So wie Künstler:innen über Wissen zu Kompositionsformen, Bildaufteilung, Perspektive oder Blickführung verfügen müssen, sollten qualitativ Forschende bestimmte Grundbegriffe kennen. Ebenso sollten sie sich darüber im Klaren sein, welche Entscheidungen bei der Fallauswahl anstehen und wie diese sich über den gesamten Forschungsprozess hinweg erstrecken. Und nicht zuletzt sollten sie sich Gedanken darüber machen, wann sie ihre Datenerhebung beenden. Denn genauso, wie ein Bild nicht unbedingt gewinnt, wenn die Künstlerin immer noch weiter verändert und neue Akzente setzt, kommt auch in einer qualitativen Studie irgendwann der Punkt, an dem weiteres Material keinen Erkenntnisgewinn mehr bringt. An diese Grundbegriffe führen wir die Leser:innen im ersten Kapitel heran und zeigen auf, welche Vorgehensweisen sich bisher bewährt haben.
Für Künstler:innen ebenso wie qualitativ Forschende stellt sich als nächstes die Frage: Was will ich überhaupt abbilden, was soll mein Bild, meine Studie zeigen? Will ich beispielsweise ein buntes Gewimmel von Eisläufer:innen darstellen, mit Mützen und Handschuhen in vielen verschiedenen Farben? Oder will ich mich auf die Pirouette einer einzelnen Läuferin konzentrieren? Und wieviel von der Bildgestaltung will ich vorab festlegen – oder soll das Bild ganz aus sich heraus im Gestaltungsprozess entstehen? Diese verschiedenen Vorgehensweisen entsprechen verschiedenen Strategien der Fallauswahl, die qualitativ Forschenden zur Verfügung stehen. Im zweiten Kapitel stellen wir die wichtigsten dieser Strategien dar und erläutern, wo ihre Stärken liegen.
Wenn einmal die Entscheidung gefallen ist, was in dem Bild dargestellt, was in der Studie fokussiert werden soll, dann ist damit noch nichts darüber ausgesagt, wie diese Entscheidung im Einzelnen umgesetzt wird. Eine Künstlerin hat beispielsweise die Wahl, ob sie ihr Bild abstrakt oder realistisch gestalten will. Vielleicht neigt sie zum Impressionismus oder zum Surrealismus. Vergleichbar stehen qualitativ Forschenden ganz unterschiedliche Forschungstraditionen zur Verfügung, innerhalb derer sie ihre Studie verorten und anlegen können, beispielsweise die Grounded-Theory-Methodologie, die Phänomenologie oder die Fallstudie. In Kapitel 3 gehen wir auf einige dieser Ansätze genauer ein, die in der qualitativen Forschung über verschiedene Disziplinen hinweg besonders oft angewandt werden, und zwar insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Fallauswahl.
Angenommen, eine Künstlerin möchte eine einzelne Eiskunstläuferin in einer ganz ungewöhnlichen Drehung im expressionistischen Stil darstellen. Nun muss sie noch entscheiden, in welchem Medium sie das umsetzen möchte. Möchte sie in Öl oder lieber mit Kreide arbeiten? Auch qualitativ Forschende müssen eine Entscheidung über ihr Medium treffen bzw. über die Art der Daten, die sie erheben möchten, und über die Erhebungsmethode. Sollen Daten aktiv erhoben werden, etwa im Interview? Oder wäre eine Auswahl aus Blogbeiträgen angemessener? Handelt es sich um verbale, um visuelle oder vielleicht um multimodale Daten? In Kapitel 4 stellen wir verschiedene Methoden der Datenerhebung und verschiedene Datenarten im Hinblick auf ihre Konsequenzen für die Fallauswahl dar. Wir zeigen auf, welche Arten der Fallauswahl für welche Datenarten und Erhebungsmethoden besonders geeignet sind. Auch dabei mussten wir selbst wieder Entscheidungen treffen und uns auf ausgewählte Datenarten und Methoden begrenzen.
Ein Gemälde steht einerseits für sich selbst; es vermittelt einen intensiven und unmittelbaren Eindruck. Zugleich bringt es aber in der Regel auch etwas Übergreifendes, Allgemeingültiges zum Ausdruck – im Bild der Eiskunstläuferin in ihrer kunstvollen Drehung ist dies vielleicht eine ganz bestimmte Kombination von Leichtigkeit und Grazie einerseits und einer ungeheuren Anstrengung nach Jahren des Trainings andererseits. Dies trifft ebenso auf die qualitative Forschung zu. Eine qualitative Studie ist einerseits aus sich selbst heraus von Interesse. Zugleich führen Forschende ihre Studien jedoch nicht nur um ihrer selbst willen durch. Ihre Ergebnisse und Schlussfolgerungen sollen auch etwas über die einbezogenen Fälle und Daten hinaus aussagen. Dabei geht es in der qualitativen Forschung mit ihrer bewussten Beschränkung auf eher wenige ausgewählte Fälle meist nicht darum, von diesen Fällen auf eine umfassende Grundgesamtheit zu schließen. Entsprechend wurden in der qualitativen Forschung andere Formen der Verallgemeinerung entwickelt, auf die wir im fünften Kapitel eingehen. Wir zeigen auf, welche Möglichkeiten qualitativ Forschende haben, über ihre Daten hinaus etwas auszusagen, was sie aussagen können und was sie dabei im Forschungsprozess beachten müssen.
Und damit laden wir Sie ein, mutig die ersten Farbtupfer auf die Leinwand Ihrer Studie zu setzen.
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Margrit Schreier, Nicole Weydmann: