Endre Sík und das Rassenproblem im sowjetischen Diskurs. Zur Geschichte eines frühen „konstruktivistischen“ Rassenbegriffs
Stanislav Serhiienko
PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur, Heft 176 (3-2024), S. 439-459.
Zusammenfassung
Dieser Artikel untersucht einen frühen Versuch des ungarischen Kommunisten Endre Sík in der stalinistischen Sowjetunion, einen „konstruktivistischen“ Begriff der Rasse auf marxistischer Grundlage zu formulieren. Der Artikel zeigt, wie die Idee der „Rasse als soziale Kategorie“ in den Diskussionen innerhalb der Komintern über die „Negerfrage“ durch den Versuch, einen „genuin“ marxistischen Ansatz für die Rassenfrage herauszuarbeiten, aufkam und wie die Stalinisierung der Komintern und der kommunistischen Parteien, der Dogmatismus und der Antipluralismus zur Unterdrückung und schließlich zum völligen Vergessen dieses frühen Versuchs führten.
Schlagwörter: Rasse, Marxismus, Komintern, Sowjetunion, USA, „Negerfrage“
Endre Sík and the Race Problem in Soviet Discourse – On the History of an Early “Constructivist” Concept of Race
Summary
This article explores an early attempt to formulate a “constructivist” notion of race on a Marxist basis by the Hungarian communist Endre Sík in the Stalinist Soviet Union. It shows how the idea of “race as a social category” emerged in the discussions within the Comintern world on the “Negro question” through an attempt to find a “genuinely” Marxist approach to the racial question, and how the Stalinization of the Comintern and Communist parties, dogmatism and anti-pluralism led to the suppression and eventually total oblivion of this early attempt.
Keywords: Race, Marxism, Comintern, Soviet Union, USA, „Negro question“
„Menschliche Rassen sind keine realen Gesamtheiten wie Tierrassen; die anthropologische Einteilung in ‚Rassen‘ ist an sich für die Soziologie ohne Bedeutung. […] [In] der modernen Gesellschaft gibt es soziale Unterscheidungen; zwischen bekannten Gruppen von Menschen entlang ‚rassischer‘ Linien, Unterscheidungen, deren wirkliche Wurzeln natürlich überhaupt nicht in den biologischen Unterschieden zwischen diesen Gruppen liegen, sondern in Phänomenen der sozio-ökonomischen Ordnung, deren Verhalten aber dennoch untrennbar mit den biologischen Eigenheiten dieser Gruppen verbunden ist.“ (Šijk 1930b: 8)1
Dieses Zitat klingt sehr modern, vor allem, wenn man bedenkt, dass der Autor im weiteren Verlauf über die Künstlichkeit von Rasse und Rassentrennung schreibt. Aber es handelt sich um das Buch Rasovaja problema i marksizm (Rassenproblem und Marxismus) des ungarischen Kommunisten Endre Sík, das 1930 in der stalinistischen Sowjetunion veröffentlicht wurde (Šijk 1930b: 10f). Es geht um den vermutlich ersten, aber vergessenen Versuch, ein „konstruktivistisches“ Konzept von Rasse auf marxistischer Grundlage zu formulieren. Síks Buch erschien 18 Jahre früher als das klassische Werk von Oliver Cox (1959 [1948]), auch früher als W.E.B. Du Bois’ Black Reconstruction in America (2013 [1935]) und Dusk of Dawn (2007 [1940]). Seine Ideen klingen sicherlich wie eine Art Vorläufer der heutigen kritischen Rassentheorie und der Theorie der Rassenformation, aber obwohl er amerikanische und afrikanische Radikale unterrichtete, kann von einem direkten Einfluss nicht die Rede sein.
Der am 2. April 1891 in Budapest geborene Sík studierte Jura und promovierte mit einer Arbeit über das Streikrecht zum Doktor der Rechtswissenschaften. Während dieser Zeit schrieb er auch Artikel für die sozialdemokratische Presse. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde Sík mobilisiert und geriet in Gefangenschaft, wo er zum Bolschewiken wurde und beschloss, in Sowjetrussland zu bleiben. Im März 1920 trat Sík der Kommunistischen Partei bei, und drei Jahre später begann er sein Studium am Institut der Roten Professur in der Abteilung für Philosophie, das er 1926 erfolgreich abschloss (Dolgova 2018: 88). Seit 1924 unterrichtete Sík historischen Materialismus, Leninismus und Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion an der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens (KUTV) bei der Komintern, darunter auch Afroamerikaner:innen (s. dazu McClellan 2007). Im Jahr 1928 wurde er zum Leiter der Abteilung, die sich mit Afrika auseinandersetzte, ernannt. Im Herbst 1930 wurde Sík an das Internationale Agrarinstitut und die Internationale Lenin-Schule versetzt, wo Revolutionär:innen aus Europa und Amerika studierten, ebenfalls bei der Komintern (Sík 1970c: 61f; RGASPI: F. 532, Op. 12, D. 5669, 9). Zu dieser Zeit veröffentlichte die Forschungsgemeinschaft für das Studium der nationalen und kolonialen Probleme (kurz: NIANKP) sein eingangs genanntes Buch, die erste marxistische Behandlung der Rassenfrage in der UdSSR, als Diskussionsmaterial (Šijk 1930b: 6).
Síks Name ist in der heutigen Literatur über die Geschichte des Marxismus praktisch unbekannt. Das liegt zum einen an der allgemeinen Vernachlässigung des sowjetischen Marxismus und zum anderen daran, dass er nicht in das vorherrschende Narrativ des sowjetischen Marxismus passt, das ständig auf der Suche nach Widerstand und Opposition gegen die stalinistische Diktatur ist. Endre Sík war kein Oppositioneller. Zwar hatte er, wie er selbst schreibt, in den Jahren 1920 und 1923 „Schwankungen“, aber danach versuchte er immer, der Parteilinie zu folgen (Sík 1970c: 76). Er überlebte die stalinistischen Säuberungen, die die Reihen der ungarischen kommunistischen Emigrant:innen stark ausdünnten, und bekleidete in den Nachkriegsjahren hohe Positionen in der ungarischen Volksrepublik. Schließlich wurde er sogar Außenminister in der Regierung Kádár (1958-1961).2 Sík bezeichnete sich selbst, vermutlich halbironisch, als „Minister des Kalten Krieges“ (Davidson 2019: 71). Obwohl er, wie sein Landsmann, der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Jenő Varga, vielen der Taten Stalins kritisch gegenüberstand, waren beide dem autoritären Modell des Kommunismus verpflichtet (Duda 1994: 311).
Die wenigen Studien, die sich mit seinem Erbe auseinandersetzen, lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen: das institutionelle Gedächtnis der (post-)sowjetischen und ungarischen Afrikastudien (für sie erscheint Sík als einer ihrer Gründungsväter oder führenden Vertreter) (Davidson 1971; 2009; 2019; Búr 2007), die Geschichte der „Negerfrage“3 in der Komintern (Sík wird beiläufig als Gegner der These von der schwarzen Nation und der Losung der Selbstbestimmung erwähnt) (Drachewych 2019: 54; Weiss 2014: 117, 120; Zumoff 2014: 344) sowie Studien über Rasse und Rassismus in der UdSSR (in einigen Passagen wird seine bahnbrechende Forschung erwähnt, ohne den spezifischen historischen Kontext ihrer Entstehung zu berücksichtigen) (Šnirel’man 2011: 82, 228; Zakharov 2015: 8). Obwohl Sík sein Buch als einen Beitrag zur marxistischen Theorie verstand, wurde es nie aus dieser Perspektive betrachtet.4
Meinen Aufsatz widme ich Síks Theorie der „sozialen Rasse“ als dem frühen marxistischen Versuch, einen konstruktivistischen Begriff von Rasse zu formulieren. Ich untersuche zunächst den Entstehungskontext seines Werkes, seine Hauptthesen als Reaktion und Beitrag innerhalb der konkreten Debatten in der Komintern. Schließlich wende ich mich der Reaktion auf die Veröffentlichung des Buches und ihren Folgen für den Autor sowie den Gründen für das Ausbleiben einer breiteren Rezeption des Buches zu. Seine Beschäftigung mit Afrika lasse ich weitgehend unberücksichtigt, da sie in zahlreichen anderen Artikeln behandelt wird.5 Meine Analyse stützt sich vor allem auf Bücher und Veröffentlichungen von Sík selbst, seiner „Verbündeten“ und seiner Gegner:innen in der Presse sowie auf die Memoiren, die Sík in der Nachkriegszeit verfasste.
Der Marxismus wird oft für seine Blindheit gegenüber der Problematik der Rasse kritisiert. Die Rassenfrage wurde von Marx zwar nicht ignoriert, nahm aber in seiner Forschung einen marginalen Platz ein (Anderson 2014: 79-114). Wie ich jedoch in diesem Artikel zeige, entstand bereits in der zweiten Hälfte der 1920er und frühen 1930er Jahre im Schoß der Komintern aus den Diskussionen über kommunistische Strategien in den USA ein Rassenbegriff , den wir heute als konstruktivistisch bezeichnen würden. Die Stalinisierung der Komintern und der fehlende Raum für den freien Austausch von Ideen führten dazu, dass diese Episode in der Geschichte des marxistischen Denkens völlig in Vergessenheit geriet.
Die Komintern und die „Negerfrage“
Die Ursprünge von Rassenproblem und Marxismus liegen in den Debatten der Komintern und der Kommunistischen Partei der USA über die „Negerfrage“. Irgendwann im Jahr 1926 stellten die afroamerikanischen kommunistischen Studierenden, die Sík Leninismus und historischen Materialismus lehrte, die Frage, ob die schwarzen Amerikaner:innen eine Nation oder eine Rasse seien. Er hatte darauf keine klare Antwort; auch in der marxistischen Literatur war das Thema kaum behandelt worden.6 Weder Marx, Engels, Lenin noch Stalin haben einen systematischen Ansatz für die Rassenfrage entwickelt. Ihre Aussagen dazu sind bruchstückhaft. Diese unterschieden die Kategorie der Rasse zum Beispiel von Kategorien wie Klasse (Lenins Definition) und Nation (Stalins Definition). Die Rasse spielte in der innersowjetischen Politik keine zentrale Rolle – es gab Frauenabteilungen, nationale Abteilungen, es wurde über Arbeiter, Bauern und Soldaten gesprochen, aber nicht über die weiße und schwarze Rasse. Mit anderen Worten: Innerhalb des sowjetischen Marxismus („Marxismus-Leninismus“), der zunehmend monologisch wurde, gab es immer noch Raum für die Auseinandersetzungen unterschiedlicher Auffassungen der Rassenfrage und kommunistischer Strategien des Umgangs mit ihr. Daher nahm Sík mit Unterstützung des damaligen Rektors der KUTV, Boris Šumjackij, Forschungen zur Rassenfrage auf und versuchte, auch seine schwarzen Studierenden einzubeziehen (Haywood 1978: 162; Sík 1971: 9f). Bereits 1919 hatte Lenin das Konzept der „Östlichen Revolution“ formuliert, d.h. der Revolution der kolonialen und halbkolonialen Länder gegen die imperialistische Vorherrschaft. Die neu gegründete Komintern hatte die Aufgabe, revolutionäre antikoloniale Bewegungen als Verbündete der proletarischen Revolution zu unterstützen. Die „Negerfrage“ wurde als Teil des antiimperialistischen und antikolonialen Kampfes gesehen, die sowohl die schwarzen US-Amerikaner:innen als auch die schwarzen Afrikaner:innen einte, was auch zur Vernachlässigung der lokalen Zusammenhänge führte (Zumoff 2014: 305; Hauchman 2016).
Die „Negerfrage“ in den Vereinigten Staaten forderte die KPUSA heraus. Die Kommunistische Partei hatte nur wenige Schwarze in ihren Reihen und war in vielerlei Hinsicht rassenblind, da sie diese auf eine Klassenfrage reduzierte. Erst durch den Druck der Komintern wurde sie aufmerksamer für diese Frage. Das Hauptziel war es, schwarze Arbeiterschaft auf ihre Seite zu bringen. Die damalige Bewegung der Schwarzen verfolgte zwei Hauptstrategien – den „Integrationismus“ (National Association for the Advancement of Colored People, deren bekanntester Vertreter W.E.B. Du Bois war) und den schwarzen Nationalismus (zwei Formen: „external emigrationism“ wie die Bewegung von Marcus Garvey oder „internal statism“7). Die letztere Position nahm der Sechste Kongress der Komintern ein, der neben der Losung der politischen und sozialen Gleichheit auch die Losung des Rechts der Afroamerikaner:innen auf Selbstbestimmung im Black Belt vertrat. Nikolaj Nasonov,8 ein Mitglied der „Negerkomission“ und Funktionär der Kommunistischen Jugendinternationale, und Harry Haywood, ein junger afroamerikanischer Kommunist, gehörten zu den Schlüsselfiguren, die in der Komintern diese These vorantrieben. Diese Position vertrat auch Stalin, obwohl er sie nicht öffentlich äußerte (Haywood 1978: 219). Der schwarze Nationalismus und die Idee der Selbstbestimmung waren in der schwarzen Bewegung nicht neu (Draper 1971: 57-63), aber die Position der Komintern beruhte in erster Linie auf Lenins flüchtigen Worten, dass
„alle kommunistischen Parteien die revolutionären Bewegungen in den abhängigen oder nicht gleichberechtigten Nationen (z.B. in Irland, unter den Negern Amerikas usw.) und in den Kolonien direkt unterstützen [müssen]. Ohne diese letzte, besonders wichtige Voraussetzung bleibt der Kampf gegen die Unterdrückung der abhängigen Nationen und der Kolonien sowie die Anerkennung ihres Rechts auf staatliche Lostrennung ein verlogenes Aushängeschild.“ (Lenin 1966: 136)
Lenin hatte wahrscheinlich keine eindeutige theoretische Auffassung von der „Rassenfrage“ in den Vereinigten Staaten. In einem anderen seiner Texte aus dem Jahr 1913 trennt er die Begriffe Rasse und Nation klar voneinander (Lenin 1974). Der Einfluss der These von der schwarzen Nation kann jedoch nicht auf die Stalinist:innen beschränkt werden. Auch Trotzki war geneigt, das Recht der amerikanischen Schwarzen auf Selbstbestimmung zu unterstützen (Trotsky o.J.).9 Harry Haywood war jedoch der einzige afroamerikanische Delegierte in der „Negerkommission“ der Komintern, der das Konzept vorantrieb (Weiss 2014: 115-117). Hinter dieser Erklärung stand ein strategisches Kalkül, das auf der Projektion des Erfolgs der Garvey-Bewegung10 beruhte, die während der Krise von 1919-1920 massenhafte Unterstützung fand. Daraus schlossen Nasonov und Haywood, dass die neue Krisensituation eine neue schwarze nationalistische Bewegung hervorbringen werde, die von den Kommunist:innen unterstützt und geleitet werden sollte (Chėjvud 1928: 84f; Haywood 1978: 230; Nasonov 1929: 74-76).
1 Šijk“ und „Sík“ sind zwei unterschiedliche Schreibweisen desselben Namens. Damit andere Forschende die genannten Schriften wiederfi nden können, ist es notwendig, diese beiden Schreibweise beizubehalten. In den russischen Veröffentlichungen wurde sein Vorname mit „A.“ abgekürzt.
2 Über seine Tätigkeit als Diplomat und Außenminister s. Radványi 1972: 47-50, 56f, 103; Sík 1966; 1970a; verkürzte Übersetzung ins Deutsche s. Sík 1975.
3 Hier und an anderen Stellen verwende ich das Wort „Neger“ nur, weil es in historischen Dokumenten vorkommt, und nur in Fällen, in denen es schwierig zu vermeiden ist. Um die Distanz zu einem solchen Sprachgebrauch zu betonen, setze ich es in allen Fällen außer in Zitaten in Anführungszeichen.
4 In einem Artikel wurde sein Beitrag zur marxistischen Theorie untersucht, aber die Rassenfrage wurde ignoriert; s. Darch & Littlejohn 1983.
5 Davidson 1971; 2009; 2019; Bernstein 1977; Darch & Littlejohn 1983; Darch 2020; Búr 2007.
6 Dies könnte nach einem Treffen mit Stalin im Jahr 1925 gewesen sein, an das sich der schwarze Kommunist Otto Hall (o.J.) erinnerte.
7 Die Begriffe entnommen aus Draper 1971.
8 In der überwiegenden Mehrheit der englischsprachigen Texte wird sein Nachname falsch als Nasanov geschrieben.
9 Damalige marxistische Diskussionen über die Frage, ob Afroamerikaner:innen eine Nation sind, haben sich oft darauf beschränkt, Attribute gemäß der stalinistischen Definition aufzulisten oder diese Definition selbst in Frage zu stellen. Tatsache ist jedoch, dass der schwarze Nationalismus als Bewegung existierte und nicht auf die Stalinist:innen reduziert werden kann. Daher sollte das Projekt der schwarzen Nation eher als ein nationales Projekt bezeichnet werden, das, in E.P. Thompsons Worten formuliert, nicht passiert ist.
10 Die Garvey-Bewegung, genannt nach ihrem Anführer Marcus Garvey (1887-1940), war eine schwarznationalistische Massenbewegung, die in den 1920er Jahren durch die Universal Negro Improvement Association and African Communities League (UNIA-ACL) Bekanntheit erlangte. Garvey propagierte die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die kulturelle Selbstbestimmung schwarzer Gemeinschaften, wobei seine Vision von einer Rückkehr nach Afrika (Back-to-Africa-Bewegung) eine zentrale Rolle spielte (Ewing 2014).
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