Gespielt gelernt? Leseprobe aus Digital Game-based Learning in der Bildungspraxis. Möglichkeiten, Herausforderungen und Perspektiven von Björn Allmendinger und Petra F. Köster (Hrsg.).
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Einleitung: Gespielt gelernt – Potenziale und Herausforderungen des Digital Game-based Learning
Björn Allmendinger und Petra F. Köster
Digital Game-based Learning1 erfreut sich in den letzten Jahren in der schulischen und außerschulischen Bildung zunehmender Beliebtheit, wenngleich derartige Lernformate im Bildungsalltag nach wie vor eher eine Randerscheinung darstellen – „[i]nsbesondere Computerspiele […] [finden bislang] nur schwer Eingang in die erziehungswissenschaftliche Diskussion“ (Aufenanger 2020: 7). Dies erscheint mit Blick auf die vielfältigen Angebote und die zahlreichen Veröffentlichungen der letzten Jahre sowie vor dem Hintergrund der vermehrten Stimmen, die die grundsätzlichen Vorteile des Digital Game-based Learning hervorheben (vgl. u.a. Becker/ Metz 2022) zunächst etwas überraschend.2 So kann bei geeigneter didaktischer Rahmung das intensive „Abtauchen“ in die digitale Welt zu einer lernfördernden Atmosphäre beitragen und dem Verstehen betrieblicher Systeme, therapeutischer Abläufe, historischer Entwicklungen oder gesellschaftspolitischer Zusammenhänge durchaus förderlich sein. Viele Lehrkräfte erhoffen sich vom Einsatz Digital Game-based Learnings bspw. ein aktives, handlungsorientiertes Lernsetting, das die Motivation der Lernenden steigert, zu einem explorativen Lernen anregt und eine zielgruppenadäquate Ansprache ermöglicht. Eine damit oftmals verbundene Zielvorstellung ist, lernfördernde Arrangements zu schaffen, die den als lernhemmend wahrgenommenen Leistungsdruck durch reine Wissensabfragen minimieren und durch den so genannten Flow-Effekt einen vereinfachten Zugang zum Lerngegenstand ermöglichen. Als vorteilhaft werden außerdem die zeitliche und räumliche Flexibilisierung des Lernens sowie die lernfördernde Wirkung von Immersionseffekten betrachtet. Mareike Ottrand betont diesbezüglich etwa:
„Die große Kraft von digitalen Spielen ist der immersive Sog, den sie entfalten, um Spieler*innen in ihren Bann zu ziehen. In diesen Sog, erzeugt durch Gameplay, Story und Ästhetik, lassen sich auch Lerninhalte einspeisen. Das Potential, sich in diesem Zusammenhang Fertigkeiten anzueignen und zu festigen, kennt keine Grenzen“ (Ottrand 2022: 43).
Digitale spielbasierte Lernformen eröffnen zahlreiche neue Vermittlungswege, die einen wichtigen Beitrag zu einer innovativen, an den Erfordernissen einer digitalen Gesellschaft ausgerichteten Bildung leisten können. Mit ihnen werden u.a. positive Effekte auf das räumliche Vorstellungsvermögen und die Sensomotorik oder auch eine verbesserte Hand-Augen-Koordination und Problemlösungsfähigkeit der Lernenden assoziiert. Einer der wesentlichen Vorteile von Digital Game-based-Formaten besteht darin, dass sie Handlungsräume eröffnen, „die real nicht erlebbar wären“ (Nidermeier/Müller 2016: 193). Auf diese Weise können „unternehmensspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten in einer realitätsnahen und gleichzeitig risikolosen Spielumgebung“ (ebd.) abgebildet und spezielle Handlungsmuster simuliert werden (wie z.B. Verkaufs-/Kundengespräche). Angesichts dieser Vorteile wurden in den vergangenen Jahren auch vermehrt digitale Lernwelten im Zuge der Vorbereitung auf Schulungen in Präsenz („flipped classroom“-Prinzip) oder als Übung bzw. Simulation von speziellen Notfall- und Stresssituationen angewandt. Ein Beispiel aus dem Pflegebereich ist das Serious Game „StressRekord“3, das Führungskräfte dabei unterstützt, Stressoren zu identifizieren und proaktiv mit ihnen umzugehen. Für den militärischen Bereich ist bspw. „SanTrain“ zu nennen, das von der Sanitätsakademie der Bundeswehr zusammen mit Informatiker*innen der Universität der Bundeswehr München und Fachärzt*innen des Bundeswehrkrankenhauses Ulm entwickelt wurde. In verschiedenen Szenarien kann hier zur Vorbereitung auf den Kampfeinsatz die taktische Verwundetenversorgung ohne reale Konsequenzen in einem digitalen Lernraum eingeübt werden.4
Im Kontext der beruflichen Aus- und Weiterbildung sind in den letzten Jahren diverse digitale spielbasierte Anwendungen erschienen, die etwa für die Personalentwicklung und Personalförderung konzipiert wurden.5 Gerade in der Ausbildung von Pilot*innen fand z.B. frühzeitig eine Nutzung und Einbindung von digitalen Flugsimulatoren statt. Und auch die so genannten „Corporate Games“ fanden in vielen Unternehmen Eingang in die Ausbildung und das Training von Führungskräften sowie das Onboarding. Der Hotelkonzern Accor entwickelte bspw. schon frühzeitig mit „Service Storys“ eine computergestützte Simulation, in dem die Spielenden erste Einblicke in den Hotelalltag erlangen konnten (vgl. Alisch/Treske 2012 oder Treske 2015: 181). Das Telekommunikationsunternehmen Vodafone nutzte ab 2009 das betriebseigne Serious Game „Vodafone Code“ für das Training von spezifischen Prozessabläufen und die realitätsnahe Darstellung von Kundengesprächen, in denen ein virtueller Mentor zudem Ratschläge und Feedback gab (vgl. Unger et al. 2015: 172). Die Daimler AG entwickelte mit Unterstützung der Universität Frankfurt schon 2008 das Serious Game „Fertigungs- und Instandhaltungs-Strategie“ (FISS) für den Einsatz in Mitarbeiter*innentrainings. Im Rahmen dieses rundenbasierenden Strategiespiels hatten die Mitarbeiter*innen die Aufgabe, „die Effektivität der Fertigungslinie durch möglichst optimale Instandhaltungsstrategien aufrechtzuerhalten“ (Bufe 2010: 26).
In der jüngsten Vergangenheit haben ebenfalls diverse VR-Lernsettings Eingang in verschiedene Aus- und Fortbildungsbildungszweige gefunden. Auf der Trainingsplattform „Firefighter VR“6 des Werkfeuerwehrverbandes Deutschland haben Feuerwehrleute die Möglichkeit, unterschiedliche Szenarien des Feuerwehralltags zu erproben (wie bspw. das Vorgehen bei Bränden in Büroräumen) und sich auch auf komplexe Spezialfälle virtuell vorzubereiten. Letzteres betrifft z.B. die Vegetationsbrandbekämpfung, die aufgrund der Unfallverhütungsvorschriften in der Praxis nur schwer zu üben ist. In „Firefighters VR“ werden bestimmte Einsatzformen in der digitalen Welt nachgebildet und zudem Grundlagen für die Feuerwehrausbildung vermittelt. Ein weiteres Beispiel ist das Projekt DigiCare7, in dem in Kooperation mit der AG Versorgungsforschung der Universitätsmedizin Halle, dem Deutschen Roten Kreuz Sachsen-Anhalt und dem Unternehmen prefrontal cortex sowie finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung VR-Lernsettings für die Pflegeausbildung entwickelt werden. Der Fokus liegt hier insbesondere auf praxisnahen Lernszenarien, die zur Unterstützung in der Pflegeausbildung und zur Vorbereitung auf spezielle Pflegesituationen eingesetzt werden sollen. Und auch die Deutsche Bahn setzt inzwischen zunehmend VR-Anwendungen in ihren Schulungen ein. Exemplarisch steht hierfür das VR-Training „ICE Dachgarten“, in dem unabhängig von der Verfügbarkeit des Fahrzeugs grundlegende Handlungsabläufe erlernt sowie auch Notfälle geprobt werden können. Seitens der Deutschen Bahn wird in diesem Kontext jedoch ausdrücklich betont, dass „keine praktischen Anteile im Lernkonzept durch virtuelle ersetzt [werden], sondern VR als eigene, neue Lernform ergänzt und integriert“ (DB-T 2024) wird.
Digital Game-based Learning findet überdies im medizinischen Bereich, bspw. im Kontext der Rehabilitation, zur Unterstützung von Therapien, zur Verbesserung der Feinmotorik oder etwa zur Vermittlung fachspezifischen Wissens, Anwendung. Ein bekanntes Beispiel in diesem Feld ist etwa Re-Mission (2006), das zur Unterstützung der Krebstherapie bei Kindern und Jugendlichen entwickelt wurde. In Re-Mission wird die*der User*in vor die Aufgabe gestellt, als Nanobot das menschliche Immunsystem zu unterstützen und die sich stark vermehrenden Krebszellen zu bekämpfen. Dabei erhält die*der User*in auf spielerische Weise Informationen über die Vielzahl von Behandlungsmethoden. Re-Mission führte zu positiven Effekten hinsichtlich der Therapietreue und der psychosozialen Verfassung junger Krebspatient*innen, sodass aufgrund dieses Erfolgs 2013 schließlich ein zweiter Teil veröffentlich wurde. Serious Games wie Re-Mission werden in der Regel als Begleitinstrument im Rahmen des Behandlungs- und Genesungsprozesses eingesetzt und dienen insbesondere dazu, das Verständnis für einzelne Behandlungsschritte zu fördern, Informationen über das Krankheitsbild zu vermitteln sowie den Patient*innen und deren Angehörigen Ängste zu nehmen.
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1 Eine Einordnung und Definition dieser und ähnlicher Fachtermini ist dem beigefügten Glossar zu entnehmen.
2 Da die Entwicklung vieler digitaler, spielbasierter Lernumgebungen mit einem erheblichen finanziellen Mehraufwand für die jeweiligen Bildungsträger*innen verbunden ist, können diese zumeist nur im Rahmen von drittmittelfinanzierten Projekten realisiert werden. Dies führt oft dazu, dass nach dem jeweiligen Launch bzw. Abschluss des Projekts eine Weiterentwicklung, kontinuierliche Aktualisierung der Lerninhalte oder auch systematische Auswertung sowie Erfolgs- und Wirkungskontrolle von Lehr-Lern-Prozessen selten erfolgt und damit dessen Potenziale im wissenschaftlichen Diskurs und der Bildungspraxis vielfach unberücksichtigt bleiben.
3 Siehe: https://game.stressrekord.slfg.de
4 Eines der ersten Beispiele für die Nutzung digitaler Lernwelten für militärische Trainingszwecke ist die Panzersimulation „The Bradley Trainer“ (1981), deren Entwicklung vom „U.S. Army Training and Doctrine Command“ beauftragt und als digitales Trainingsgerät für die Kanoniere des Bradley-Schützenpanzers auf Basis des Atari-Spiels „Battlezone“ entwickelt wurde.
5 Die Übergänge von „Game“ und „Simulation“ sind stets fließend, eine klare Abgrenzung ist in vielen Fällen kaum möglich.
6 Siehe: https://www.firefightervr.de
7 Siehe: https://inno-tdg.de/projekte/digicare
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