Welches Störpotenzial hat der rechte Rand im Europaparlament?

Interview Stöss Der rechte Rand Europas

Welches Potenzial hat „der rechte Rand“ im Europaparlament, die Demokratie und Einigung Europas zu stören? Diese hochaktuelle Frage hat Richard Stöss empirisch aufgearbeitet.

Wir haben ein Interview mit dem Autor zu seinem daraus entstandenen Buch Der rechte Rand Europas. Rechtsextremismus und Rechtskonservatismus bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 1979 bis 2024 geführt.

 

Interview zu „Der rechte Rand Europas“

 

Lieber Richard Stöss, worum geht es in Der rechte Rand Europas?

Im Rahmen meiner wissenschaftlichen Beschäftigung im Bereich der Parteien- und Wahlforschung habe ich mich immer auch mit rechtsextremen Parteien befasst, zunächst nur für Deutschland, seit den ersten Direktwahlen zum Europaparlament 1979 dann auch darüber hinaus.

Ich fragte mich schon damals, mit welchen Absichten sich Parteien aus unterschiedlichen Ländern, die egoistisch und dogmatisch auf dem Primat ihres eigenen Volks und ihrer eigenen Nation beharren, in supranationalen Gremien engagieren. Ich wollte herausfinden, ob sich eine für die europäische Einigung gefährliche „Internationale des Nationalismus“ abzeichnet. In meinem Referat „Zur Vernetzung der extremen Rechten in Europa“ auf dem Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) in Halle im Oktober 2000 bin ich noch zu dem Ergebnis gelangt, dass sich die Kommunikation zwischen den nationalen Rechtsaußenparteien im Verlauf der Nachkriegszeit zwar ständig verbessert hat, dass von einer Euro-Rechten im Sinne eines bedrohlichen politischen Akteurs aber keine Rede sein konnte.

Im Laufe der Jahre hat der Erfolg der Parteien am rechten politischen Rand allerdings dramatisch zugenommen. Das Buch behandelt den detaillierten Verlauf und die globalen Ursachen dieser massiven Rechtsentwicklung und benennt das Störpotenzial dieser Parteienfamilie für die Demokratie und die Einigung Europas.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Ein konkreter „Stein des Anstoßes“ für das Buch existiert nicht. Ich habe die Entwicklung der Rechtsaußenparteien in Europa zwar intensiv verfolgt und auch immer wieder Beiträge zu einzelnen Aspekten dieser Entwicklung veröffentlicht, bin aber aus zeitlichen Gründen nicht dazu gekommen, den Gesamtkomplex umfassend und zusammenhängend darzustellen. Denn ich war vorrangig mit der einheimischen Parteienlandschaft und mit den etablierten Parteien in West- und Osteuropa befasst.

Mit meiner Entpflichtung vom aktiven Dienst an der Freien Universität Berlin Ende 2016 eröffnete sich mir dann aber die Möglichkeit, mit angemessenem Eifer zwei größere Projekte zu realisieren, die mir schon lange am Herzen lagen: eine Untersuchung über die „Entsozialdemokratisierung“ der SPD („SPD am Wendepunkt“, erschienen 2022) und das nun vorliegende Europa-Buch.

 

Wie groß ist das Potenzial der rechten Randparteien, die Demokratie und die Einigung Europas zu stören?

Dass sich die Rechtsaußenparteien in Europa im Aufwind befinden, zählt mittlerweile zum Allgemeinwissen. Das genaue Ausmaß und der konkrete Verlauf dieser Entwicklung wurden meines Wissens bislang noch nie empirisch nachvollziehbar aufgearbeitet.

Nach meinen Untersuchungen besetzten Rechtsaußenparteien bei den ersten Europawahlen nur ein Prozent der Mandate im Europaparlament, mittlerweile beträgt der Anteil 25 Prozent. Nun könnte man annehmen, dass das Störpotenzial dieser Parteien trotz ihres beträchtlichen Machtzuwachses begrenzt ist, da drei Viertel der Parlamentsabgeordneten eben nicht dem rechten Rand zuzurechnen sind. Das würde auch zutreffen, wenn die Parteien im demokratischen Zentrum gemeinsam eine Brandmauer gegen ultrarechte Bestrebungen bilden würden.

Allerdings bestehen unter den etablierten Parteien heftige Konflikte vor allem über den Umgang mit der Einwanderung, der Klimaproblematik und der russischen Expansionspolitik. Im christlich-konservativen und teilweise auch im nationalliberalen Spektrum besteht eine gewisse Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit rechten Randparteien, um den Einfluss von „progressiven“ Kräften (von Sozialisten, Sozialdemokraten und Grünen) abzuwehren. Derartige Kooperationen tragen allerdings zur Normalisierung der Rechtsaußenparteien bei und vermitteln ihnen erheblichen politischen Einfluss und damit zusätzliche Wahlchancen.

 

Und welcher Umgang mit den Rechtsaußenparteien innerhalb des Europaparlaments ist aus ihrer Sicht empfehlenswert?

Da sich die Rechtsaußenparteien grundsätzlich gegen den Geltungsanspruch der Menschenrechte und gegen den darauf basierenden demokratischen Verfassungsstaat richten und zudem die weitere Einigung Europas ablehnen, sollten alle demokratisch und proeuropäisch eingestellten Akteure den „cordon sanitaire“ gegen die Parteien am rechten Rand konsequent verteidigen und im Europaparlament auf eine Zusammenarbeit mit Rechtsaußenparteien verzichten.

Die demokratischen Parteien können sich aus der prekären Lage, in die sie durch die Erfolge der Rechtsaußenparteien geraten sind, nur befreien, indem sie ihre ideologisch-programmatischen Differenzen vorübergehend zurückstellen, die aktuellen politischen Probleme möglichst einvernehmlich regeln und vereint gegen den Machtanspruch der Rechtsaußenparteien vorgehen. Die Wiederwahl von Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin hat eindrucksvoll bestätigt, dass im Europaparlament eine solide demokratische Mehrheit möglich ist.

Weiterhin sollte die Kritik der Rechtsaußenparteien am Zustand der Europäischen Union nicht in Bausch und Bogen verdammt werden, auch wenn sie nationalistisch motiviert ist. Die Politik sollte die Vielfalt der demokratischen und weltoffenen Nationalstaaten als Fundament einer starken, handlungsfähigen und solidarischen Europäischen Union beherzigen, etwa nach dem Motto „So viel Einheit wie möglich, so viel Vielfalt wie nötig!“

 

Darum bin ich Autor bei Budrich

Ich habe bereits im Verlag Leske + Budrich mehrere Buchbeiträge und 1996 gemeinsam mit Gero Neugebauer die Studie „Die PDS. Geschichte. Organisation. Wähler. Konkurrenten“ veröffentlicht. In diesem Zusammenhang hatte ich auch Kontakt mit Edmund Budrich, der uns damals sehr unterstützt hat. Auch die Kooperation mit dem betont interdisziplinär und international ausgerichteten Verlag seiner Tochter Barbara Budrich gestaltete sich bei der Arbeit an diesem Buch ausgesprochen erfreulich. Lektorat, Vertrieb und Marketing erwiesen sich als sehr professionell und effektiv. Dank an alle Beteiligten.

 

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Cover Stöss Der rechte Rand Europas 150 pxRichard Stöss:

Der rechte Rand Europas. Rechtsextremismus und Rechtskonservatismus bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 1979 bis 2024

 

 

 

 

Der Autor

Richard Stöss 2024Prof. Dr. Richard Stöss, geb. 1944, studierte Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin (FUB), promovierte dort 1978 zum Dr. phil. und habilitierte sich 1984 für das Fach Politische Wissenschaft. Als wissenschaftlicher Assistent bzw. Angestellter war er am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der FUB für Parteienforschung und für das Parteienarchiv verantwortlich. Nach einigen Auslandsaufenthalten wurde er 2004 zum außerplanmäßigen Professor am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FUB berufen. Derzeit befindet er sich offiziell im Ruhestand und denkt über ein neues wissenschaftliches Projekt nach.

 

Über „Der rechte Rand Europas“

Rechte Parteien haben in den letzten 45 Jahren auf europäischer Ebene an Zuspruch gewonnen: Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament von 1979 bis 2024 ist ein steiler Aufstieg der Rechtsaußenparteien zu beobachten. Die Analyse behandelt den genauen Verlauf der dramatischen Rechtsentwicklung, die Ergebnisse der rechtsextremen und rechtskonservativen Parteien bei den einzelnen Wahlen, insbesondere die Anzahl, die Stärke, den Herkunftsstaat und die Ideologie der erfolgreichen Parteien. Der Autor identifiziert globale Ursachen für den Rechtstrend und diskutiert, wie groß das Potenzial dieser Parteien ist, die Demokratie und die Einigung Europas zu stören.

 

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