„Demokratie als Selbst-Regieren“: Leseprobe

Leseprobe Demokratie als Selbst-Regieren

Die Zukunft der Demokratie muss neu gestaltet werden – Demokratie als Selbst-Regieren. Demokratische Innovationen von und mit Bürgerinnen und Bürgern von Brigitte Geißel bietet einen innovativen Ansatz.

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Demokratie als Selbst-Regieren: Einführung

Eine Weltkarte ohne Utopia ist keinen Blick wert …

Fortschritt ist die Verwirklichung einer Utopie

(A map of the world that does not include Utopia is not worth even glancing at …

Progress is the realization of Utopia.)

Oscar Wilde

Viele Menschen verstehen unter Demokratie, dass sie wählen und von gewählten Vertreter*innen regiert werden – also repräsentative Demokratie. Allerdings scheint diese Art von Demokratie nicht unbedingt gut zu funktionieren. Publikationen zur aktuellen Krise der repräsentativen Demokratie füllen derzeit Bibliotheken. Dieses Demokratie-Modell bringt Probleme mit sich. Wir erleben einen Höchststand an politischer Unzufriedenheit, wie ein aktueller Bericht zeigt, der über 100 Demokratien umfasst.2 Während in den 1990er Jahren etwa zwei Drittel der Befragten mit dem Funktionieren der Demokratie in ihren Ländern zufrieden waren, ist heute die Mehrheit frustriert. Das Vertrauen in Politiker* innen und Parlamente ist dramatisch gesunken. Die Kluft zwischen Bürger* innen und Entscheidungsträger*innen hat sich erheblich verbreitert. Immer größere Teile der Gesellschaft fühlen sich von ‚der Politik‘ ausgeschlossen. In extremen Fällen, wie kürzlich in den Vereinigten Staaten, greifen die Bürger*innen zu den Waffen und stürmen ihr Parlament. Das Versprechen der Demokratie als ‚Herrschaft des Volkes‘ scheint in einem Bermuda-Dreieck aus korrupten Politiker* innen, dysfunktionalen politischen Institutionen und enttäuschten Bürger* innen verloren gegangen zu sein.3

Wir sind Zeugen einer wachsenden Sehnsucht nach Veränderung. Die Bürger* innen wollen Demokratie. Sie wollen eine Demokratie, die ihre Bedürfnisse, Interessen und Vorlieben in den Mittelpunkt stellt. Sie wollen eine Demokratie, in der sie tatsächlich Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen können (siehe Kapitel 4, Abschnitt 4.1). Die Unzufriedenheit mit den derzeitigen Strukturen und die Sehnsucht nach Veränderungen sind die Triebfeldern für die Suche nach neuen Ideen.

Aber es ist nicht klar, wohin die Reise geht. Wie würden neue Visionen für die Demokratien der Zukunft aussehen? Dieses Buch will Communitys helfen, Ideen zu entwickeln, wie sie sich selbst regieren können. Es wirbt nicht für eine bestimmte politische Praktik, ein bestimmtes Verfahren oder Modell. Es versucht nicht, Communitys davon zu überzeugen, Bürgerversammlungen einzurichten, direkte Demokratie einzuführen oder sich für eine Experten-Herrschaft (Expertokratie) zu entscheiden. Es will Bürger*innen ermuntern, über ihre Demokratie nachzudenken. Es bietet Vorschläge an. Es ist eine Art ‚Geburtshilfe‘ für die Entwicklung neuer Visionen.

Visionen sind in der Welt der Politik wohlbekannt. So haben wesentliche politische Veränderungen immer als visionäre Ideen begonnen. Das beste Beispiel ist die Demokratie selbst, die vor 300 Jahren nicht mehr als eine Vision war. Tausende von Menschen träumten davon, in die politische Entscheidungsfindung einbezogen zu werden. Sie stellten sich vor, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Die Vereinigten Staaten entstanden aus diesem Traum, der damals noch nirgendwo verwirklicht worden war. Dennoch waren die Menschen, die den Traum träumten, davon überzeugt, dass die Demokratie eine gute Sache wäre. Und sie kämpften für die Verwirklichung ihrer Vision. So können auch die im Folgenden vorgestellten Visionen für selbstbestimmte Demokratien ein Wegweiser für zukünftige Entwicklungen werden.

Das vorliegende Buch ist eine Übersetzung meiner englischen Publikation (The Future of Self-Governing, Thriving Democracies). In meinem englischen Buch arbeite ich mit dem Begriff thriving. Der Begriff thriving hat zwei miteinander verknüpfte Bedeutungen. Thriving bedeutet sowohl florierend als auch nach Verbesserung strebend. Nur wenige Autoren haben den Begriff thriving democracy verwendet, der berühmteste war wohl der Dichter Walt Whitman (1819-1892). In seinen Gedichten stellt Whitman Demokratien als ein Ideal dar. Aus seiner Sicht ist jede Demokratie eine „democracy to be“, eine ‚Demokratie im Werden‘4 – also eine thriving democracy. Eine Eins-zu-eins-Übersetzung des Wortes thriving ins Deutsche ist leider nicht möglich. Ähnliche Begriffe wie blühend, lebendig oder florierend haben im Deutschen andere Konnotationen und es fehlt der Aspekt des kontinuierlichen Strebens nach Verbesserung. Ich habe mich deshalb entschieden, den Begriff thriving in der deutschen Übersetzung nicht zu nutzen, sondern von selbstbestimmter Demokratie und synonym von Selbst-Regieren zu sprechen.

 

Von repräsentativen zu selbstbestimmten Demokratien

Im Allgemeinen bedeutet Demokratie die Herrschaft des Volkes. Ein politisches System ist demokratisch, wenn es sich an den Vorlieben, Interessen und Bedürfnissen seiner Bürger*innen orientiert (siehe Box 0.2 zur Definition des Begriffs Bürger*innen). Dies ist das wichtigste Versprechen der Demokratie. Doch wie wird das Versprechen eingelöst? Bis vor kurzem haben viele Bürger*innen und Expert*innen Demokratie auf Wahlen, Parteienwettbewerb und Repräsentation reduziert. Ein politisches System gilt als Demokratie, wenn freie und faire Wahlen abgehalten werden, bei denen mindestens zwei Parteien zur Wahl stehen.5

Diese Interpretation beruht auf der Theorie der repräsentativen Demokratie. Die Herrschaft des Volkes sei gewährleistet, wenn Bürger*innen die Wahl zwischen verschiedenen Parteien haben und die Partei mit den meisten Stimmen die Regierungsgeschäfte für die jeweilige Amtsperiode übernimmt. Wenn es verschiedene Parteien gibt, können die Bürger*innen wählen, welche Partei ihren Vorlieben und Interessen am besten entspricht. Die gewählten Parteien bzw. deren Vertreter*innen treffen politische Entscheidungen im Namen der Bürger* innen. Auch wenn die Entscheidungsfindung fest in den Händen der Vertreter* innen liegt, haben die Bürger*innen also die Kontrolle. Dieses Modell scheint in der Theorie logisch überzeugend zu sein.

Doch die derzeitigen repräsentativen Demokratien funktionieren nicht (mehr) nach dieser Logik. Sie sind zunehmend dysfunktional – weil das Modell der repräsentativen Wahl- und Parteiendemokratie veraltet und überholt ist. Dieses Modell wurde im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt. Es war angemessen für die damalige Zusammensetzung der Gesellschaften. Gesellschaften waren in soziale Großgruppen entlang klarer Trennlinien geteilt, zum Beispiel Arbeiter* innen versus Unternehmer*innen. Jede Großgruppe teilte gemeinsame, spezifische, klare und eindeutige Interessen in fast allen Bereichen des Lebens, zum Beispiel wollten alle Arbeiter*innen eine angemessene Entlohnung, gute Arbeitsbedingungen und soziale Absicherung. Aus diesen klar abgegrenzten Großgruppen entstanden Parteien, die als Sprachrohr für ihre jeweilige Gruppe tätig waren. Die Partei, die die Arbeiter*innen vertrat, setzte sich beispielsweise für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen sowie für ein arbeiterfreundliches Sozialsystem ein. Die Partei, welche die Unternehmer*innen vertrat, engagierte sich für Eigentums- und Unternehmerrechte sowie für ein schlankes Sozialsystem.6

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2 Foa u. a. 2020

3 Tormey 2015; Van Reybrouck 2016; J. Fishkin und Mansbridge 2017

4 Siehe https://whitmanarchive.org/criticism/current/encyclopedia/entry_429.html, Zugriff im Juni 2021

5 Geissel, Kneuer, und Lauth 2016; Marshall, Jaggers, und Gurr 2012; Vanhanen 2000; Munck 2016

6 Lipset und Rokkan 1990

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3D Cover Demokratie als Selbst-Regieren 150 pxBrigitte Geißel:

Demokratie als Selbst-Regieren. Demokratische Innovationen von und mit Bürgerinnen und Bürgern

 

 

 

Die Autorin

Prof. Dr. Brigitte Geißel, Institut für Politikwissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt, Leiterin der Forschungsstelle Demokratische Innovationen

 

Über „Demokratie als Selbst-Regieren“

Die Zukunft der Demokratie muss neu gestaltet werden – dieses Buch bietet einen innovativen Ansatz. Es argumentiert, dass Bürger*innen selbst entscheiden sollen, wie sie sich regieren wollen. Überzeugend verknüpft die Autorin theoretische Begründungen und empirische Erkenntnisse, die ihr Konzept von Demokratie als Selbst-Regieren untermauern. Für die praktische Umsetzung schlägt sie Verfahren und Praktiken vor, die Bürger*innen und Communitys unterstützen, ihre eigenen Visionen von Demokratie zu entwickeln. Damit ist dieses Buch von Interesse für Wissenschaftler*innen, Studierende, Bürger*innen und politische Entscheidungsträger*innen, denen die Zukunft der Demokratie am Herzen liegt.

 

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© Titelbild gestaltet mit canva.com