Biographische Bedeutung von Natur und Landschaft

BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 1+2-2019: Wald als „Lebensstichwort“. Zur biographischen Bedeutung der Landschaft des Naturerlebnisses und des Naturbewusstseins [BIOS 9 (1996), Heft 2, 143-154]

Eine Leseprobe zum Thema biographische Bedeutung von Natur und Landschaft von Albrecht Lehmann aus der Zeitschrift BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Heft 1+2-2019.

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Wald als „Lebensstichwort“. Zur biographischen Bedeutung der Landschaft des Naturerlebnisses und des Naturbewusstseins [BIOS 9 (1996), Heft 2, 143-154]

Albrecht Lehmann

BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Heft 1+2-2019, S. 218-229

 

I. Landschaft und Lebensgeschichte
Die lebensgeschichtliche Bedeutung der Landschaft in ihrer Konstanz und in ihrem Wandel hat die Biographieforschung noch nicht berücksichtig. Das ist bemerkenswert, da doch jeder, der sich mit biographischen oder autobiographischen Texten befasst, darin auf einen reichen Bestand von Naturerinnerungen trifft, auf Erinnerungen an Heimat- und Urlaubslandschaften, auf Landschaftstopoi und -stereotype. Außerdem finden sich in den Texten regelmäßig bilanzierende Aussagen vom Typ „Kindheit in einem Dorf des bayerischen Waldes“, „Jugend an der Kieler Förde“ etc. Vermutlich besteht in unserer Gesellschaft eine übersubjektiv geltende Vorstellung darüber, wie solche Wahrnehmungs- und Erinnerungsmuster und Topoi zu gebrauchen und zu verstehen sind. Aussagen dieser Tendenz und Qualität reichen jedenfalls im alltäglichen Erzählen fürs erste als ein Hintergrund für biographisch relevante Informationen aus.

Im Folgenden soll es indes weniger um die kommunikative Funktion solcher Erinnerungsbilder und –muster gehen als um ihre Bedeutung bei der Orientierung in der eigenen Lebensgeschichte. Natürliche oder künstliche Landschaften, also Stadt- oder Dorfensembles, einzelne Straßen, Plätze, Alleen, Gebirgszüge, Flussläufe und Wälder prägen sich dem Gedächtnis ein und bilden einen Orientierungsrahmen für lebensgeschichtliche Reflexionen von Individuen und in Gruppen. Offensichtlich beeindrucken uns in der Wahrnehmung und dann später in der Erinnerung sowohl räumliche Spezifika (Lehmann 1983: 178) wie die darauf bezogene „Stimmung“ eines als „Landschaft“ wahrgenommenen „natürlichen“ oder künstlich geschaffenen Raumes (Simmel 1957: 149). Schließlich binden sich einzelne lebensgeschichtliche Abschnitte und einzelne Ereignisse in der Selbstreflexion an bestimmte erinnerte Erlebnisräume. Wer eine wichtige Situation seines Lebens im Gedächtnis rekapituliert, rekonstruiert dabei immer neben anderen Eindrücken (etwa Personen und Tätigkeiten) relevante Elemente des Ortes, an denen sich das Ereignis einmal abspielte. Auch unsere Erinnerungen „finden in Landschaften statt“.

Diese lebensgeschichtliche Dimension der Landschaft ist in der belletristischen Literatur schon früh bemerkt worden. – „Die einzelnen Straßen und Häuser, die Anton täglich wiedersah, waren das Bleibende in seinen Vorstellungen, woran sich das immer Abwechselnde in seinem Leben anschloß, wodurch es Zusammenhang und Wahrheit erhielt, wodurch er das Wachen von Träumen unterschied“, schreibt 1785 der Vorläufer einer Biographieforschung Karl Philipp Moritz (Moritz 1972: 91)1 in seinem psychologischen Roman Anton Reiser. Ähnliche lebensgeschichtlich relevante Reflexionen über die Bedeutung der „Hauptlinien“ von „Städtebildern“ teilt Fontane in seinen Erinnerungen am Beispiel Berlins der 1840er Jahre mit (Fontane 1973: 353). In klassischer Weise hat Maurice Halbwachs die bewusstseinsprägende Wirkung des Raumes für das Individuum und für das Milieu den Kultur- und Sozialwissenschaften präsentiert. Der „Normalfall“ in der Geschichte ist es nach Halbwachs, dass „die Gruppe“ sich weiterentwickele, während das „äußere Stadtbild“ (Halbwachs 1967: 133) konstant bleibe. Halbwachs geht bei der Formulierung seiner These sehr weit, wenn er der bewusstseinsprägenden Bedeutung von Konstanz und Veränderungen der räumlichen Umwelt einen zentralen Wert für das individuelle und kollektive Bewusstsein beimisst. Das Verschwinden einer bestimmten Straße oder eines Gebäudes habe für „die Mehrzahl“ der Bevölkerung einer Stadt tiefer gehende Auswirkungen als etwa schwerwiegende nationale, religiöse oder politische Ereignisse.

Seit der Industrialisierung, verstärkt seit den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, dem Wiederaufbau und den Entwicklungen der Jahre danach hat sich das traditionell gegebene Verhältnis der Menschen zur städtischen und auch zur „natürlichen“ Landschaft an vielen Stellen der Welt verkehrt. Inzwischen werden viele Stadtbezirke und -silhouetten sowie Teile der nichtbebauten Landschaft permanent umgestaltet, vor allem durch Maßnahmen des Wohnungs- und Straßenbaus sowie der Tourismusförderung. Oft fällt es nach solchen Baumaßnahmen dem Einzelnen nach einer Abwesenheit von ein paar Jahren schwer, sich in einem ihm früher wohlvertrauten Gebiet zurechtzufinden. Die Auswirkungen dieses Wandels des Verhältnisses der Menschen zu ihrer räumlichen Umwelt betreffen ein zentrales Thema unserer Kultur. Jedenfalls ist es an der Zeit, Reflexionen wie die von Maurice Halbwachs über die Bedeutung des Raumes für das Gedächtnis und die Kultur systematisch mit Mitteln empirischer Forschung zu untersuchen.

Wie ich andeutete, ist das Thema „Landschaft und Lebensgeschichte“ in der Biographieforschung der Kultur- und Sozialwissenschaften bisher nicht genügend erörtert worden (Lehmann 1983). Das gleiche gilt für die Oral History-Forschung (Plato 1991a, 1991b). Diese versteht sich teilweise als ein Aspekt einer „Alltagsgeschichte“, vornehmlich aber als politische Erfahrungsgeschichte mit Schwerpunkten wie Frauenforschung, NS-Forschung und Geschichte der Nachkriegszeit. Als Primärmaterialien dienen überwiegend persönliche Dokumente, die historische Erinnerungen von der Gegenwart her reflektieren. Zweifellos könnte eine Bewusstseins- und Erfahrungsgeschichte auch bei diesen Fragestellungen und Themen davon profitieren, wenn sie die Wirkung der räumlichen Umwelt und der Landschaft auf die Lebensgeschichte in ihre Analysen einbezieht. Schließlich wirken auf das biographische Bewusstsein nicht allein die Veränderungen der politischen und sozialen Umwelt ein, sondern auch die räumlichen Gegebenheiten, in denen die Ereignisse sich abgespielt  haben. Dabei können räumliche Gegebenheiten durchaus im Handeln und in der Erinnerung ihre politische Dimension haben, nicht allein im Kontext von Kommunal- und Umweltpolitik, sondern auch in dem von Reiseerinnerungen und -wiederholungen. Dazu ein Beispiel: Viele der deutschen Flüchtlinge des Jahres 1945 kehrten auf einer „Erinnerungsreise“ fast ein Menschenalter später in die von ihnen verlassenen Gebiete im heutigen Polen zurück (Lehmann 1991: 112 ff.). Dabei entdeckten sie die Kontinuität in ihrer Lebensgeschichte, wenn sie den „einzigartigen Duft der Wälder“ und die unveränderten Gegebenheiten einer Gebirgslandschaft wiedererlebten. Andererseits interpretierten sie bestimmte Veränderungen der städtischen oder landschaftlichen Umwelt als Indikatoren gerade auch für den Wandel der Gesellschaft. Das Verschwinden von Bäumen, die früher am Elternhaus gestanden hatten, bedeutete mehr als eine der überall auf der Welt beobachtbaren „natürlichen Entwicklungen“. Die „Natur“ wurde zu einem bildhaften Ausdruck für den politischen Wandel, der sich in den dreißig oder vierzig Jahren ihrer Abwesenheit in der früheren Heimat ereignet hatte. Veränderungen der Landschaft erreichen ihre biographisch-politische Dimension in diesem und in anderen Fällen unabhängig davon, ob die der Landschaftsgestaltung zugrundeliegenden Absichten einen politischen Zweck verfolgen oder nicht.2

Der Frage nach der biographischen Bedeutung bestimmter Ausschnitte von Natur und Landschaft will ich im Folgenden am Beispiel des Themas „Wald“ nachgehen (vgl. Lehmann 1996). Wälder und ihre Teile (Bäume, Waldwege und Waldränder, Lichtungen) zählen in unserer Kultur neben Gebirgen und dem Meer zu den privilegierten Ausschnitten von „Landschaft“. Wald wird in den mittel-, nord- und osteuropäischen Nationalkulturen schlechthin als „die“ Metapher für Natur empfunden. Fast jeder „weiß“: „richtige Wälder“ sind „schön“ und „einsam“, der Aufenthalt in ihnen dient der Erholung und beruhigt die Nerven. Die Behauptung von Politikern und Umweltschützern, dass Wälder und Bäume hier und anderswo durch menschliche Einwirkungen „sterben“ (Holzberger 1995), hat eine Krise der Kultur bewirkt und das gegenwärtige politische Bewusstsein vieler Zeitgenossen sehr weitgehend beeinflusst.

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1 Vgl. sein Magazin für Erfahrungsseelenkunde, 10 Bde., 1783-1793.
2 Die alltägliche und die lebensgeschichtliche Bedeutung emotional besetzter Landschaftsausschnitte lässt sich auch mithilfe von bildlichen Darstellungen im populären Wandschmuck der Haushalte nachweisen. Wie Leute mit ausgewählten Landschaftsbildern an ihrer Wohnzimmer- oder Küchenwand leben, das lässt Schlüsse auf ihre Natur- und Landschaftsbewertung und -erfahrung zu. Eine Ausstellung der National Gallery in London, „At Home with Constable‘s Cornfield“, dokumentierte das aufs Anschaulichste. Sie zeigte zugleich, wie die Biographieforschung für die Museologie und die Rezeptionsforschung in der Kunstgeschichte fruchtbar werden kann. Auf einen Zeitungsaufruf hin meldeten sich zahlreiche Einzelpersonen und Familien, die mit einem Druck oder einer kunstgewerblichen Wiedergabe – Wandbild, Kissenbezug, Wandteller, Stickerei etc. – dieses berühmten Gemäldes John Constables aus dem Jahre 1826 zusammenlebten und darin das typisch „Englische“ dieses Landschaftsbildes gesucht und gefunden hatten. Die Ausstellung präsentiert neben dem Original einzelne ausgewählte Kopien sowie Fotos der Besitzer vor diesem Kornfeld-Bild in ihrer Wohnung. Dazu werden exemplarische Aussagen der Bildeigentümer wiedergegeben, die sowohl die lebensgeschichtliche Bedeutung dieses Wandschmucks wie die allgemeinere lebensgeschichtliche Dimension von Landschaften dokumentieren. Einzelne Statements lassen sowohl die identitätsprägende Bedeutung einer als typisch empfundenen Landschaft erkennen wie die romantische Blickrichtung, die hier die Ansichten über schöne Landschaften und schöne Landschaftsdarstellungen leitet: „It is a typical summer‘s day in peaceful rural England – a picture to daydream with.“ „The picture evokes, of course, the English countryside, nineteenth-century novels and a feeling of harmony with nature which is almost lost today.“ (Painter 1996).

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Der Autor

Prof. Dr. em. Albrecht Lehmann forschte und lehrte am Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Hamburg.

 

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