Woher kommen Antijudaismus und Israelhass?

Cover und Zitat Stephan Grigat Vom Antijudaismus zum Hass auf Israel

Woher kommt der tief verwurzelte Antisemitismus, der sowohl in der westlichen als auch in der arabischen Welt existiert? Eine Leseprobe aus Vom Antijudaismus zum Hass auf Israel. Interventionen zur Kritik des Antisemitismus von Stephan Grigat.

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Antisemitismuskritik vor und nach dem 7. Oktober: Israels Selbstbehauptung und der Ruf nach Frieden

Dieser Band aktualisiert und dokumentiert Beiträge, mit denen in der letzten De­kade in antisemitismus- und gesellschaftskritische Debatten und in Diskussionen über Geschichte und Gegenwart der Konflikte im Nahen und Mittleren Osten im deutschsprachigen Raum interveniert wurde. Es werden die Konsequenzen die­ser Debatten für aktuelle Auseinandersetzungen verdeutlicht und gegenwärtige Ereignisse kontextualisiert – insbesondere das Massaker vom 7. Oktober 2023 in Südisrael, die Angriffe auf Nordisrael ab dem 8. Oktober 2023 und die daran anschließenden Auseinandersetzungen über israelbezogenen Antisemitismus in Deutschland und Europa.

Ausgehend von Darstellungen der christlichen und islamischen Tradition des Antijudaismus und der Zuspitzung im modernen, rassistischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts wird der Fokus der sowohl historisch als auch theore­tisch orientierten Beiträge auf die unterschiedlichen Ausprägungen eines antise­mitischen Antizionismus gerichtet. Linke und rechte Theorietraditionen werden ebenso behandelt wie unterschiedliche Ausprägungen des Islamismus – der israel­bezogene Antisemitismus wird als eine zentrale Integrationsideologie der Gegen­wart analysiert.

Eingebettet in Erörterungen im Anschluss an die klassische Kritische Theorie werden Ausdifferenzierungsprozesse in linken Positionierungen gegenüber Israel nachvollzogen und die unterschiedlichen Ausprägungen des politischen Islam vor dem Hintergrund der Geschichte der Konflikte im Nahen Osten diskutiert. Ein be­sonderer Fokus wird auf die Analyse und Kritik der Holocaustleugnung und des eliminatorischen Antizionismus des iranischen Regimes und seiner Verbündeten gerichtet, die im Kontext des iranischen Atomwaffenprogramms und der deut­schen Nahost-Politik erörtert werden.

 

Das Ende einer Illusion

Die Attacken der vom iranischen Regime aufgerüsteten und finanzierten djihadis­tisch-palästinensischen Einsatzgruppen vom 7. Oktober in Südisrael waren eine Zäsur in der Geschichte des „Nahost-Konflikts“ – ein Begriff, mit dem sämtliche den Nahen Osten prägende Konflikte jenseits der israelisch-arabischen Ausein­andersetzungen zum Verschwinden gebracht werden und dem immer schon die Tendenz zur Verharmlosung des seit Jahrzehnten währenden Krieges gegen Israel innewohnte. Dieser Krieg resultiert maßgeblich aus der antisemitisch motivierten Nicht-Anerkennung des jüdischen Staates in großen Teilen der islamisch geprägten Welt, die auch den historischen Hintergrund für die Angriffe im Oktober 2023 dar­stellt.

Die Attacken von 10/7 wurden keineswegs alleine von der Hamas durchge­führt, auf die sich nichtsdestotrotz die mediale Berichterstattung und das akade­mische Interesse in den letzten eineinhalb Jahren konzentriert haben, sondern von einer Art Koalition des eliminatorischen Antizionismus. In dieser hat der Hass auf Israel sowohl islamistische als auch arabisch-nationalistische und (zumindest ehemals) marxistisch-leninistische Organisationen zusammengebracht: Neben den Qassam-Brigaden – dem militärischen Arm des palästinensischen Zweigs der Muslimbrüder – waren beispielsweise auch die Al-Quds-Brigaden des Palästinen­sischen Islamischen Djihad, die aus der Fatah hervorgegangenen Al-Aqsa-Mär­tyrer-Brigaden und die Abu-Ali-Mustafa-Brigaden der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) an den Mordaktionen beteiligt (Ragad et al. 2023). Letzteres muss besonders betont werden, weil die PFLP und ihre Vorfeldorganisationen bei den vermeintlich „propalästinensischen“ Demonstrationen in Deutschland und an­deren europäischen Ländern ein wichtiger positiver Bezugspunkt sind.

In den meisten Darstellungen der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts gilt die Zweite Intifada Anfang der 2000er Jahre mit über 1.000 ermorde­ten Israelis als tiefer Einschnitt und Wendepunkt in der Konfliktgeschichte (Grigat 2014: 29–44). In der Zweiten Intifada dauerte die Ermordung von 1.000 Israelis jedoch mehrere Jahre – am 7. Oktober einen Vormittag. Das Massaker von 10/7, das durch den Massenmord und die exzessive Gewalt auf israelischem Staatsterri­torium auf das Sicherheitsgefühl nicht nur von Israelis, sondern von Juden welt­weit zielte, lässt sich schwer mit einem einzelnen Begriff erfassen: Es war eine Vernichtungsaktion und zugleich ein Pogrom unter Beteiligung von Teilen der pa­lästinensischen Zivilbevölkerung, ein erschreckend gut koordinierter militärischer Angriff mit genozidaler Intention und ein ebenso antisemitischer wie misogyner Blutrausch, bei dessen Beschreibung auch heute noch die Worte versagen: „Wie bei den historischen Vorbildern gingen auch am 7. Oktober zügelloses Wüten, unter Mitwirkung von sogenannten Zivilpersonen, und planvolle militärische Präzision miteinander einher“ (Fuchshuber 2024: 102) – ein Zusammenspiel, das man zu wiederholen gedenkt: Die Hamas hat nach 10/7 mehrfach öffentlich erklärt, dass man genau solche auf Vernichtung zielende Angriffe und Massenmordaktionen so oft wie möglich wiederholen wird (MEMRI 2023). Explizit wird „die genozidale In­tention“ (Fuchshuber 2024: 102) bekräftigt. Hier wird bereits deutlich, dass beim abstrusen Vorwurf des „Genozids“ an die Adresse Israels Projektionen der eigenen oder der unterstützten Gewalt und der Vernichtungsversuche und -absichten eine entscheidende Rolle spielen.1

Der 7. Oktober hat eine Illusion zerplatzen lassen, die in den letzten 15 Jahren auch Teile des israelischen Sicherheitsestablishments gehegt haben – mit fatalen Konsequenzen. Auf lange Sicht kann Israel sich nicht mit hochgerüsteten antise­mitischen Terrorarmeen direkt an seinen Grenzen abfinden. Sie lassen sich nicht dauerhaft abschrecken, und ganz egal, wie man sich ihnen gegenüber verhält, weichen sie keinen Millimeter von ihrem erklärten Ziel ab, den jüdischen Staat zu vernichten und Juden auf der ganzen Welt zu attackieren. Dementsprechend wur­de die Netanjahu-Regierung schon vor Jahren von israelischen Analysten unter­schiedlichster Couleur dafür kritisiert, die Hamas in Gaza gewähren zu lassen und nicht präventiv gegen die immer bedrohlichere Bewaffnung der Hisbollah im Liba­non vorzugehen.

Auch wenn nach eineinhalb Jahren Krieg, in denen insbesondere die deutsche Außenpolitik und Institutionen der Vereinten Nationen (Markl 2025) den Feinden Israels immer wieder zur Seite gesprungen sind, vollkommen unklar ist, ob Israel seine Kriegsziele erreichen kann – nach 10/7 war es in der israelischen Politik zu­nächst Konsens, dass die Hamas militärisch komplett zerschlagen werden muss und in jedem Zukunftsszenario für den Gaza-Streifen keine Rolle spielen darf. Darauf zielte das militärische Vorgehen der israelischen Armee nach dem 7. Ok­tober, und jegliche wohlfeile Forderung nach einer bedingungslosen Beendigung der Kampfhandlungen in den ersten Monaten nach 10/7 musste sich den Vorwurf gefallen lassen, Israel seinen Feinden ausliefern zu wollen. Gegen den israelfeindli­chen Pseudo-Pazifismus, dem jede konsequente Reaktion des israelischen Militärs als „unverhältnismäßig“ gilt, habe ich bereits in meiner Rede auf der ersten Israel- Solidaritätskundgebung in Frankfurt am Main, die am Abend des 7. Oktober 2023 auf dem Römerberg stattfand (Hessenschau 2023), an einen Satz des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, erinnert. Spiegel meinte zu Zeiten der Zweiten Intifada hinsichtlich der Kritik an den israe­lischen Verteidigungs- und Antiterrormaßnahmen: „Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzen sich die Mörder.“

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1 Für die Diskussion über das Leiden der palästinensischen Bevölkerung in den von der Palästi­nensischen Autonomiebehörde beanspruchten Gebieten sei auf eine frühere Intervention aus der Zeit des Gaza-Krieges der Jahre 2008/2009 verwiesen, die von der prozionistischen, sich tungskommentar während des Gaza-Krieges 2012, der sich den Slogan „Free Gaza from Hamas“ zu eigen gemacht hat, habe ich Aspekte daraus aufgegriffen: „Jene Menschen in den palästinen­sischen Gebieten […], die den Aufstieg der Hamas schon immer gefürchtet haben und auch der Fatah noch nie viel abgewinnen konnten, haben bessere Freunde verdient als jene, die stets am lautesten gegen den jüdischen Staat schreien und jederzeit bereit sind, die individuelle Sehn­sucht der Menschen nach Glück dem großen Ganzen des islamischen Djihad zu opfern.“ (Grigat 2012) Es ist bemerkenswert, wie wenig präsent die Stimmen jener Palästinenser in westlichen Diskussionen sind, die vor der Hamas aus Gaza fliehen mussten (Altlooli 2021).­

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Cover Grigat Vom Antijudaismus zum Hass auf Israel 9783847431473Stephan Grigat:

Vom Antijudaismus zum Hass auf Israel. Interventionen zur Kritik des Antisemitismus

Schriften der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Band 45

 

 

 

Der Autor

Prof. Dr. Stephan Grigat, Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule NRW (katho), Leiter des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) in Aachen

 

Über „Vom Antijudaismus zum Hass auf Israel“

Wie lässt sich der Hass auf Israel erklären? Woher kommt der tief verwurzelte Antisemitismus, der sowohl in der westlichen als auch in der arabischen Welt existiert? Stephan Grigat beleuchtet die verschiedenen Gesichter des Antisemitismus – von christlichem und islamischem Antijudaismus über modernen Antisemitismus bis hin zum Antizionismus. Er untersucht, wie diese Formen des Hasses nicht nur aus historischen Wurzeln hervorgehen, sondern auch als Ideologien in politischen Bewegungen auf beiden Seiten des politischen Spektrums agieren – vom arabischen Nationalismus bis zum politischen Islam.

 

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