Wahlen in Zeiten der Polykrise? Baustellen der Europäischen Union im Europawahljahr 2024
Andreas N. Ludwig
GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, Heft 1-2024, S. 44-54.
Zusammenfassung
Die Europawahlen 2024 finden in unsicheren Zeiten, unter den Bedingungen einer vermeintlichen Polykrise statt. Der Beitrag beleuchtet zunächst diesen aktuell vielfach diskutierten Begriff, zeigt bestehende Herausforderungen der EU im Wahljahr auf und hinterfragt abschließend diesen Krisendiskurs.
2024 wird in Europa ein wichtiges Wahljahr. In etlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) – etwa in Belgien, Kroatien, Portugal und Österreich –, einigen ihrer Beitrittskandidaten und im Vereinigten Königreich sind landesweite Wahlen geplant. Vom 6. bis 9. Juni wählen die Bürgerinnen und Bürger der EU ferner zum zehnten Mal direkt das Europäische Parlament (EP) (vgl. Europäisches Parlament 2023). Global betrachtet wird 2024 gar ein „Superwahljahr“, wie Daniela Schwarzer jüngst in der Zeitschrift Internationale Politik treffend formulierte (2023, S. 90). Für The Economist, der traditionell im November einen Ausblick auf das Folgejahr und seine möglichen Entwicklungen wagt, ist es das Superwahljahr: Noch nie in der Geschichte hätten weltweit so viele Wahlen angestanden, noch nie seien so viele Menschen zu den Urnen gerufen, so die Chefredakteurin der einflussreichen britischen Wochenzeitung, Zanny Minton Beddoes (2023): von Algerien, Indien, Indonesien, über Kanada, Russland und Südafrika bis zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Zu diesen kommen regionale wie kommunale Urnengänge in einer Vielzahl an Staaten mehr. Man denke im deutschen Kontext an die Kommunalwahlen in etlichen Bundesländern oder die drei im September 2024 bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen (vgl. Die Bundeswahlleiterin 2023).
Wenn auch nicht alle Wahlen zu politischen Umwälzungen führen werden, so muss man angesichts ihren schieren Zahl zumindest mit der Möglichkeit tiefgreifender Veränderungen rechnen – für die jeweiligen Gemeinwesen, Weltregionen bin hin zum globalen System. Was aus liberal-demokratischer Perspektive eine Sternstunde der Demokratie weltweit sein sollte, warnt Minton Beddoes schon zu Beginn ihres Beitrags daher genauso eindrücklich wie pessimistisch, drohe in der Praxis zum Gegenteil zu werden. Es stehe ein „nerve-racking and dangerous year“ (Minton Beddoes 2023) – ein nervenaufreibendes und gefährliches Jahr ins Haus.
Egal wohin man blickt, dieses Wahljahr findet in der Tat in unruhigen Zeiten statt. Nun ist Ungewissheit eine der Grundbedingungen unserer durch permanenten Wandel geprägten, komplexen Welt des 21. Jahrhunderts (siehe dazu bspw. Mitchell 2008; Morin 2008). Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität sind deren Charakteristika, was gemeinhin unter dem Kürzel der „VUKA-Welt“ zusammengefasst wird (bspw. Mack und Khare 2016). Unsicherheit ist insofern Normalität, mit der es in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft umzugehen gilt. Die Covid 19-Pandemie erhöhte dafür bei vielen Entscheidungstragenden, aber auch der Öffentlichkeit das Bewusstsein. Zugleich trug sie zur verstärkten Wahrnehmung der Häufung von Krisen, einer sogenannten „Polykrise“ bei, die seither prominent zurück in der wissenschaftlichen wie auch der medialen Diskussion ist. Die Unwägbarkeit des Wahlausgangs in vielen Fällen – und die Europawahlen bilden hier keine Ausnahme – vergrößert die politisch, wirtschaftlich bzw. gesamtgesellschaftlich empfundenen Unsicherheiten 2024 noch weiter. Angesichts dieser Umstände, aber vor allem mancher krisenhafter Entwicklungen und europäischer Wahlergebnisse zuvor, verwundern weder die eben beschriebene Skepsis noch konkreter Daniela Schwarzers Anmerkung bezogen auf die bevorstehenden EU-Wahlen, wenn sie betont, dass „[v]iele in der EU mit Unbehagen auf das Wahljahr [blicken] – und auf das, was danach folgen mag“ (2023, S. 90).
Ein Wahljahr also in Zeiten der Polykrise? Was steht hinter diesem Schlagwort? Welchen Risiken sieht sich die EU gegenüber? Zunächst sollen im Folgenden der Begriff der „Polykrise“ im Lichte der ihm zugrundeliegenden Komplexitätsforschung und sein derzeitiger Diskussionsstand umrissen werden. Sodann werde ich überblicksartig aktuelle Risiken und einhergehende Herausforderungen, – metaphorisch gesprochen – Baustellen der EU im Kontext der bevorstehenden Wahlen knapp skizzieren und abschließend den einleitend erwähnten Krisendiskurs hinterfragen.
1. Polykrise: Karriere eines vieldeutigen Begriffs
Spätestens seit den 1970er Jahren werden in der Wissenschaft, aber schnell auch darüber hinaus, eine gleichzeitige Beschleunigung prägender Prozesse in etlichen Systemen im planetaren Kontext, ihre krisenhafte Entwicklung diagnostiziert und deren Folgen für die Menschheit diskutiert. Dies betrifft etwa Phänomene wie die fortschreitende Globalisierung der Weltwirtschaft, den Wandel des Weltklimasystems, Migrationsströme, gesellschaftliche Polarisierungstendenzen und demographischen Wandel in zahlreichen Gesellschaften, zwischenstaatliche wie transnationale Konflikte und Kriege und so weiter. Nun ist – zumindest in der Perspektive der fächerübergreifenden Komplexitätsforschung – kontinuierlicher Wandel eine der grundlegenden Eigenschaften eines komplexen Systems: „Alle lebende Schöpfung, die natürliche wie die soziale Welt, der Mensch selbst, sein Wissen über die und sein Erfahren der Welt, sind komplexe Systeme, die in permanentem Austausch mit einer Vielzahl anderer Systeme ihrer Umwelt stehen und dadurch in kontinuierlichem, aber stets kontingenten und damit ungewissen dynamischen Prozessen des Wandels unterschiedlicher Ausprägung begriffen sind. Durch diese stetig wachsende Verwobenheit nimmt im ursprünglichen lateinischen Sinne des Begriffs die Komplexität der Welt wiederum stetig zu“ (Ludwig 2020, S. 15). Der Unterschied liegt bei den genannten Entwicklungen daher in der Art des Wandels, seiner Geschwindigkeit und seiner Umfänglichkeit, da diese Dynamiken potenziell zu einer tiefgreifenden Veränderung der betroffenen komplexen Systeme sowie sogar deren Zusammenbruch führen können. Begriffsprägend für die Politikwissenschaft bezeichnete James N. Rosenau diese Art des Wandels als „turbulent change“ (vgl. 1990, S. 7f.). Eine solche „Transformation“ meint systemtheoretisch zunächst also allgemein eine Situation, in der die Dynamiken der Entwicklungen zu grundsätzlich veränderten Eigenschaften eines Systems als Ganzem führen. In Anlehnung an Rosenau, bezeichnet die erste Form der Transformation einen langsamen Prozess grundlegenden Wandels als Ergebnis neuer Rahmenbedingungen inner- oder außerhalb eines Systems. Die zweite hingegen ist durch ein dramatisches Anwachsen der Unordnung in einem System gekennzeichnet, die sich innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne bahnbricht. Bestehende Entwicklungstrends können zu dieser sich entfaltenden Destabilisierung wiederum verstärkend oder auch hemmend, durch sog. positive bzw. negative Feedback-Effekte, beitragen. Transformationen sind insofern ergebnisoffen und kontingent (vgl. Ludwig 2020, S. 117). Dabei kommt erschwerend hinzu, hierauf wies u. a. Hanns W. Maull hin, dass unter den Bedingungen der VUKA-Welt für das Entscheiden und Handeln in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ohnehin gilt:
„The ability of decision-makers to get what they want is seriously qualified, but they usually hate to admit this. As a result, across the whole spectrum of politics, from the local to the global level, a gap is opening between the growing demands made on politics by a multitude of ‚relevant’ actors and interests (and the common good of mankind), on the one hand, and the at best slowly increasing (if not stagnant or even declining) capacities of politics to steer events in the desired direction, on the other.” (2011, S. 17)
Ein Umstand, der in Zeiten einer Transformation noch verschärft ist. Seine eigenen Thesen über den turbulenten Charakter der Welt aus dem Jahr 1990 unterstrich James Rosenau in seinem letzten Buch noch einmal: „That a deep sense of uncertainty should pervade world affairs since the end of the Cold War is hardly surprising“ (2003, S. 207). In dieser Situation weiterreichender Veränderungen auf der Erde sei Ungewissheit die Norm und damit Verunsicherung die Grundstimmung – in Wissenschaft und Praxis.
Diese drei Aspekte – Diagnose der gleichzeitigen Dynamisierung, Ansätze einer ergebnisoffenen, also ungewissen Transformation und die Herausforderung des Umgangs damit – fasste der französische Soziologe und Pionier der sozialwissenschaftlichen Komplexitätsforschung Edgar Morin in den 1990er Jahren unter dem Stichwort der „Polykrise“ zusammen. Hierunter versteht er die komplexe Gesamtheit der gleichzeitigen Krisen verschiedener Systeme, die letztliche eine planetare Krise befeuere (vgl. Morin und Kern 1999, S. 74; Morin 2011, S. 20ff.). Der österreichische Friedensforscher Werner Wintersteiner sieht im Unterschied zu vergleichbaren Ansätzen das Besondere des Konzepts Morins genau in dessen systematischer Verbindung von „ökonomische[n,] politische[n] und ökologische[n] Faktoren mit kulturellen und geistigen Entwicklungen, und dies in einem langen Zeithorizont. Man könnte bei ihm von einem System der Polykrise sprechen“ (2021, S. 66).
Im europäischen Kontext wurde der Begriff durch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in den 2010er Jahren dann geradezu popularisiert. Er beschrieb die Polykrise der EU bei einer Rede in Athen im Juni 2016 wie folgt:
„I have often used the Greek word ‚polycrisis‘ to describe the current situation. Our various challenges – from the security threats in our neighbourhood and at home, to the refugee crisis, and to the UK referendum – have not only arrived at the same time. They also feed each other, creating a sense of doubt and uncertainty in the minds of our people.” (Juncker 2016)
Wenn auch Juncker zwei Jahre später meinte, die EU habe ihre Polykrise hinter sich gelassen, so blieb sie dennoch als Referenz wichtig (bspw. Gieg et al. 2023; Zeitlin und Nicoli 2021) und schaffte es bis ins Gabler Wirtschaftslexikon (vgl. Werth O.J.). Die Covid 19-Pandemie und der russische Angriffskrieg in der Ukraine samt seiner Folgen haben dem Begriff seither neue Aktualität und Tragweite verliehen – im europäischen wie im globalen Kontext. Dies mag nicht zuletzt dem britischen Wirtschaftshistoriker Adam Tooze geschuldet sein, der an der Columbia University in New York lehrt. Sein jüngstes Buch (vgl. Tooze 2021), seine zahlreichen Zeitungsartikel und Vorträge, etwa bei der Willy-Brandt-Stiftung (vgl. Tooze 2022), oder die Kontroverse mit seinem wohl noch bekannteren Historikerkollegen Niall Ferguson beim Weltwirtschaftsforum im Januar 2023 (vgl. Braunberger 2023) haben den Begriff und das Konzept der Polykrise prominent in die wissenschaftliche und mediale Diskussion zurückgebracht: Wir seien – und hier meint Tooze konkret Europa – in einer „nie dagewesenen Krise“ (Tooze 2022, S. 13). Im direkten Anschluss an die komplexen Annahmen Morins, den Tooze immer wieder als Urheber des Begriffs in Erinnerung ruft, versteht er unter „Polykrise“, eine
„‚Situation, in der das Ganze gefährlicher ist als die Summe seiner Teile‘. Die jetzige Problemkonstellation hat demzufolge ‚Gestaltqualität‘, insofern sie sich nur durch die Wechselwirkung der einzelnen Krisen erklären lässt. Wir haben es also nicht mit einem Nebeneinander zu tun, sondern mit einer Ganzheit: Alles hängt mit allem zusammen, schon weil sich (fast) alle in Echtzeit über (fast) alles informieren und darauf reagieren können. Das erzeugt ein Übermaß an Komplexität, und darin liegt Tooze zufolge eben die Gefahr begründet.“ (Häckermann und Ettrich 2023)
Angesichts der Vielzahl an krisenhaften Entwicklungen und der einhergehenden Konjunktur des Begriffs der Polykrise erscheint neben dessen hier knapp skizzierten theoretischen Grundlagen und Entwicklungen abschließend eine definitorische Präzisierung geboten. Die Komplexitätsforscher Scott Janzwood und Thomas Homer-Dixon unterscheiden dafür unterschiedliche Typen, was mit Blick auf die vermeintliche „europäische Polykrise“ oder eine planetare Krise im Sinne Morins hilfreich ist:
„A polycrisis is any combination of three or more interacting systemic risks that produces a single, emergent crisis. The consequences could be confined to a particular geographical region or geopolitical jurisdiction and not escalate to the global scale. A global polycrisis, in contrast, must be planetary in scale. Specifically, we define a global polycrisis as any combination of three or more interacting systemic risks with the potential to cause a cascading, runaway failure of Earth’s natural and social systems that irreversibly and catastrophically degrades humanity’s prospects.” (Janzwood und Homer-Dixon 2022, S. 6)
Eine Polykrise wird im Gegensatz dazu, so betonen die Autoren weiter, als potenziell reversibel, als zu bewältigen betrachtet.
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