Leseprobe aus „An den Nationalsozialismus erinnern“ von Harry Friebel

Leseprobe aus "an den Nationalsozialismus erinnern"

Eine Leseprobe aus den Seiten 7 bis 10 aus An den Nationalsozialismus erinnern. Entwicklung der Erinnerungskultur und zukünftige Perspektiven. Ein Essay von Harry Friebel, Kapitel „1 Einleitung“.

 

Über „An den Nationalsozialismus erinnern“

Was war der Holocaust damals und wie wirkt der Holocaust heute noch? Harry Friebel betrachtet den Themenkomplex „Erinnerungskultur“ aus einer interdisziplinären Perspektive und untersucht Motivationen, Bedeutungen und Interessenlagen auf verschiedenen Ebenen. Besondere Aufmerksamkeit wird der Wechselseitigkeit von Täter- und Opferperspektive innerhalb der NS-Diktatur und im Leben der Nachkommen in einer multikulturellen Moderne gewidmet. Abschließend diskutiert der Autor die Frage, wie eine Erinnerungskultur für die Zukunft aussehen kann.

 

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1 Einleitung

Fast 90 Jahre nach der politischen Machtübergabe 1933 in der Weimarer Republik an den späteren Reichskanzler Adolf Hitler: Während antifaschistische Forderungen wie „Nie wieder…“ gerufen werden, passiert es.

  • 2019: Schüsse auf die Tür der Synagoge in Halle (Saale).
  • 2022: Schüsse auf die Tür der Synagoge in Essen.

Jüdische Gotteshäuser als Ziele eines rassistisch-antisemitischen Wahns in Deutschland – mehr als 75 Jahre nach Holocaust und Shoah. Das ist der Gipfel eines alltäglichen Antisemitismus, der nun, wie unter einem Brennglas, deutlich sichtbar wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es bereits zahllose solcher Anschläge auf Juden, Jüdinnen und jüdische Einrichtungen gegeben. Die normative Holocaust-Erzählung „Nie wieder…“ wird ad absurdum geführt.

Schalwa Chemsuraschwilli, Vorstandsvorsitzender der jüdischen Gemeinde in Essen, wertet den Anschlag auf die Synagoge als eine neue Stufe der Eskalation: „Die Gewaltspirale dreht sich. Früher gab es Schmierereien, dann Steinwürfe, jetzt sind es Schüsse mitten in der Stadt“ (vgl. Greiner 2022).

Steffen Greiner, Journalist, weist nach dem Anschlag auf die Synagoge in Essen auf die potentielle Gefährdung jüdischen Lebens in Deutschland hin. Nur mithilfe einer stabilen Tür konnte Schlimmeres vermieden werden:

„[…] wieder eine stabile Tür, als wäre die wichtigste Sicherheitsgarantie für jüdisches Leben in Deutschland eher solides Handwerk als die ewige Beteuerung eines ‚Nie wieder‘“ (ebd.).

Debora Amtmann, jüdische Feministin und Autorin, verweist nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle auf die Gegenwärtigkeit des Antisemitismus: „Nichts, was in Halle passiert ist, ist unfassbar oder unvorstellbar“ (vgl. Amtmann 2019).

Die Zitate verweisen auf die Tatsache, dass antisemitische und rassistische Ressentiments in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik bereits eine Historie haben. Bereits in den ersten Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung führten zahllose rechtsterroristische, rassistische und antisemitische Gewaltexzesse zu neuen Ängsten: „Zwischen 1991 und 1993 begingen Extremisten insgesamt rund 4500 gewalttätige Angriffe auf Flüchtlinge, Zuwanderer und Juden, bei denen 26 Menschen ermordet und 1800 verletzt wurden“ (Eder 2020, 260). Es ist die Wiederkehr der „hässlichen Deutschen“, denen wir z. B. in Hoyerswerda, in Mölln, in Rostock-Lichtenhagen und anderswo begegnen.

Mit meinem Beitrag zur NS-Erinnerungskultur will ich im Sinne eines unvollständigen Essays auf Verschränkungen von individueller und kollektiver Problematik, auf den Zusammenhang von NS-Geschichte und Gegenwart, auf die Perspektiven der Täter und Opfer hinweisen.1

Leitend ist für mich der Versuch der Antwortfindung auf die Doppelfrage: Was war der Holocaust damals und wie wirkt der Holocaust heute noch? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns öffnen für die Logik der Subjekte (Individuen gestalten ihr eigenes Leben auf der Grundlage ihrer Entscheidungen und Handlungen innerhalb ihrer eigenen Möglichkeiten) als auch für die Logik der Gelegenheitsstrukturen2 (der Lebenslauf der Individuen ist sowohl eingebettet als auch berührt durch die historische Zeit und ihre Ereignisse) in der Vergangenheit und Gegenwart. Auch die NS-Diktatur muss also doppelt gelesen werden: Sowohl in der Subjekt- als auch in der Strukturperspektive. Jedoch sind individuelle Lebensläufe und Relevanzstrukturen von subjektivem Sinn in der NS-Forschung bislang eher unterbelichtet, unsystematisch aufgearbeitet bzw. nur als Subtexte identifizierbar; anders als die Strukturen der Gesellschaft, die als offizielle Beiträge zur Geschichtsschreibung verfügbar sind.

Schließlich fokussiere ich die Wechselseitigkeit von Täter- und Opferperspektive innerhalb der NS-Diktatur und im Leben der Betroffenengeneration und ihrer Nachkommen in der multikulturellen Moderne.3 Auch diese Doppelperspektivität der Täter und der Opfer auf der einen Seite sowie die neue Komplexität der modernen deutschen Gegenwart als Einwanderungsland und seit mehr als dreißig Jahren inklusive dem Gebiet und der Bevölkerung der ehemaligen DDR4 auf der anderen Seite, lässt sich nicht in die Form einer geschlossenen Erzählung bringen. Mit meinem Ansatz ziele ich auf die Ermöglichung einer achtsamen NS-Erinnerungskultur der Zukunft – damit das Erinnern nicht zum bloßen Brauchtum degeneriert. Dabei betrachte ich auch meine eigene Herkunft und meinen eigenen Lebenslauf als Schlüssel zum Verständnis des Nationalsozialismus.

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1 Der Umgang mit dem Themenkomplex „Erinnerungskultur“ ist grundsätzlich aus interdisziplinärer Perspektive zu führen. Motivationen, Gewichte, Bedeutungen und Interessenlagen sind immer vielfältig, gegensätzlich und auf verschiedenen Ebenen zu lokalisieren. Wir fragen daher auch nach den „Beziehungsgeschichten“ (vgl. Zernack 1976) der früheren Kriegs- bzw. Konfliktbeteiligten im zwischennationalen, nationalen und im Täter-Opfer-Kontext. Die politische Dimension des zu Erinnernden wird aber häufig „entnannt“ (Eschenbach 2005, 59), womit das Gegenteil von „benannt“ gemeint ist. Z.B. lesen wir in der Inschrift der Neuen Wache in Berlin: „den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ (vgl. Moller 1998). Dies kann als Versuch interpretiert werden, die „Geschichte still zu stellen“ (Berek, 2008, 84). Erinnern ist dann nur noch ein sakraler Akt: „Erinnerungskultur ist Ziel und Werkzeug politischen Handelns […]. Sie hat die Herstellung der Kohärenz der Gesellschaft zum Ziel“ (Berek 2008, 74). Das ist „Versöhnungskitsch“ (vgl. Hahn u.a.2008). Deshalb ist es bedeutsam, dass die Interpretation der Beziehungsgeschichten zwischen den ehemaligen Kriegs- und Konfliktparteien unter Einschluss zivilgesellschaftlicher Aktionsgruppen erfolgt.

2 Gesellschaftliche Strukturen und individuelle Praxen gehen ein Verhältnis ein, was vergleichbar ist mit dem Verhältnis von Hintergrund und Figur. Hierbei können sich strukturelle Lenkung und individuelles Handeln gleichzeitig – und durchaus auch manchmal widersprüchlich zueinander – realisieren. Ich berufe mich hierbei auf die Grundlagen der Life-Course-Theory in Elders berühmter Studie „Children of the Great Depression“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Elder entwickelte dort eine Theorie mit grundlegenden Prinzipien zur Einheit von Individualisierung und Institutionalisierung innerhalb der gesamten Lebensspanne, zur Gleichzeitigkeit der Logik des Subjekts und der Logik der Struktur (vgl. Elder 1974) im Lebenslauf.

3 In Deutschland verfügt 2022 mehr als ein Viertel der Bewohner_ innen über einen Migrationshintergrund (vgl. bpb, 2022a). Damit liegt es nahe, von einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft auszugehen. Die gesellschaftliche Haltung zu integrations- und migrationsspezifischen Themen ist nach statistischer Datenlage überdurchschnittlich positiv. Das SVR-Integrationsbarometer (IB) misst das Integrationsklima im Einwanderungsland Deutschland. Der aktuelle Integrationsklima-Index (IKI) von 2022 hat sich gegenüber der letzten Erhebung von 2019/20 insgesamt wiederum weiter verbessert. Er erhebt Einschätzungen und Einstellungen zu integrations- und migrationsspezifischen Themen (vgl. SVR 2022).

4 Die NS-Erinnerungskultur in der DDR erörtere ich hier nicht in besonderer Weise. Als Einstieg in dieses Thema empfehle ich: Birgit Müller, Erinnerungskultur in der DDR, in: bpb 26.8.2008.

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