„Um feministische Staatstheorie intersektional weiterzuentwickeln, braucht es zukünftig noch viele weitere Arbeiten.“ – Interview mit Gundula Ludwig, Autorin von „Geschlecht, Macht, Staat”

Cover "Geschlecht, Macht, Staat" Gundula Ludwig

Ist der Staat ein weißer Männerbund? Wie hängen Geschlecht und Staatsbürgerschaft zusammen? Inwiefern ist staatliche Biopolitik rassistisch? Wir haben ein Inteview mit Gundula Ludwig, Autorin von „Geschlecht, Macht, Staat“, geführt.

 

Interview mit Gundula Ludwig

 

Liebe Gundula Ludwig, bitte fassen Sie den Inhalt Ihrer aktuellen Publikation Geschlecht, Macht, Staat für unsere Leser*innen zusammen.

Das Buch ist eine Einführung in Konzepte, Begriffe und Debatten feministischer Staatstheorie. Grundlage feministischer Staatstheorie ist, dass die Architektur des modernen westlichen Staates auf weißen, androzentrischen, heteronormativen, bürgerlichen Logiken beruht und der Staat ein zentraler Akteur in der Aufrechterhaltung von Geschlechterverhältnissen als Ungleichheits-, Gewalt- und Ausbeutungsverhältnissen ist. Die Art und Weise, wie die vergeschlechtlichte Verfasstheit und somit das Verhältnis von Staat und Geschlecht gedacht wurde, hat sich seit den ersten Ansätzen feministischer Staatstheorie in den 1980er und 1990er Jahren gewandelt und ausdifferenziert – gleichsam parallel zur (Weiter-)Entwicklung feministischer Theorie sowie der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Entsprechend vielfältig sind also auch die Konzeptualisierungen und Gegenstände feministischer Staatstheorie, in die im Buch ein Einblick gegeben wird. In dem Buch werden u.a. folgende Fragen behandelt:

  • Inwiefern ist die Genese des modernen westlichen Staates vergeschlechtlicht?
  • Wie hängen Geschlecht und Staatsbürgerschaft zusammen?
  • Ist das Recht maskulinistisch?
  • Wie lässt sich der Zusammenhang von Gewalt, Staat und Zweigeschlechtlichkeit konzeptualisieren?
  • Ist der Staat ein weißer Männerbund?
  • Inwiefern ist staatliche Biopolitik rassistisch?
  • Wie reguliert der Staat vergeschlechtlichte Körper?
  • Kann der Staat Adressat für emanzipatorische Geschlechterpolitiken sein?

 

Wie kamen Sie auf die Idee, die 1. Auflage dieses Buches zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Der Stein des Anstoßes war eigentlich ein zufälliger: Ich hatte sehr viele Textfragmente zu feministischer Staatstheorie, die quasi von meiner Dissertation ‚übriggeblieben‘ waren. Ich hatte eine viel zu lange Einleitung für meine Dissertation verfasst, in der ich viele Grundlagen feministischer Staatstheorie zusammengetragen hatte, um daran wiederum mit meiner Dissertation, die eine explizit queer-theoretische Erweiterung feministischer Staatstheorie war, anknüpfen zu können. Nach dem Feedback von Freund*innen und Kolleg*innen wurde mir – damals leider – klar, dass eine Einleitung von 100 Seiten wohl viel zu lange sei. Daher habe ich die Einleitung der Dissertation radikal gekürzt und die Textfragmente erstmal bloß in meinem PC archiviert.

Als ich dann gemeinsam mit meinen Kolleg*innen des damaligen Sprecherinnen-Rates des Arbeitskreises Politik und Geschlecht der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW), Brigitte Bargetz, Andrea Fleschenberg, Ina Kerner und Regina Kreide, mit dem Verlag Barbara Budrich die Reihe „Politik und Geschlecht kompakt“ konzipierte, hatte ich ein geeignetes Publikationsformat für genau diese Textfragmente gefunden. Freilich musste ich sie für das Buch stark überarbeiteten, was mir allerdings sehr viel Freude bereitet hat, da ich während des Schreibens nochmals viel über die Breite und auch über vielfältige Stränge und Entwicklungen feministischer Staatstheorie lernte.

Die Erstveröffentlichung fiel dann in eine Zeit, in der es u.a. an der Universität Wien zu einem institutionellen Rückbau feministischer Staatstheorie kam. Bedauerlicherweise lässt sich ja in den letzten Jahren insgesamt sowohl ein Abbau von Gender Studies als auch von Theorieforschung beobachten. Darüber hinaus sind die neoliberalen Arbeitsbedingungen an den Universitäten insgesamt für das Arbeiten an und mit Theorien nicht förderlich. Vor diesem Hintergrund politischer Veränderungen bin ich sehr froh, dass die Textfragmente aus meiner Dissertation schließlich in einem Einführungsbuch zu feministischer Staatstheorie gemündet sind, das hoffentlich einen guten Ein- und Überblick über die vielen Themenfelder und Stränge feministischer Staatstheorie gibt, und das hoffentlich viele Kolleg*innen und Studierende zum Weiterarbeiten an feministischer Staatstheorie anregt.

 

Inwiefern unterscheidet sich die 2. Auflage konkret von der vorherigen?

Die erste Auflage erschien 2015, d.h. beinahe vor 10 Jahren. Für die zweite Anlage habe ich versucht, jene Arbeiten, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit Staat und Geschlecht in den letzten 10 Jahren auseinandergesetzt haben, einzuarbeiten. Erfreulicher Weise hat dies dazu geführt, dass das Buch auch mehr Konzepte, Begriffe, Theorien und Kritiken vorstellen kann, die die Vergeschlechtlichung des Staates mit weiteren gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen in Verbindung bringen.

Feministische Staatstheorie war – und ist es in vielerlei Hinsicht immer noch – im deutschsprachigen Raum sehr lange durch Leerstellen gekennzeichnet, die sich daraus ergeben, dass Geschlecht und mithin auch die Vergeschlechtlichung des Staates nicht intersektional konzipiert wurde bzw. wird. In den letzten Jahren sind einige Arbeiten dazu veröffentlicht worden, wie in den Staat Gender als heteronormatives, rassifiziertes Konstrukt eingeschrieben ist, und wie der Staat multiple, miteinander verwobene Ungleichheits-, Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse aufrecht erhält, die ich in die 2. Auflage aufgenommen habe. Um feministische Staatstheorie intersektional weiterzuentwickeln und um beispielsweise staatliche Institutionen oder staatliche Biopolitik systematisch mit Cis-Zweigeschlechtlichkeit, Klasse, race, Kolonialismus und Disability zu verknüpfen, braucht es freilich zukünftig noch viele weitere Arbeiten.

 

Gibt es besondere Herausforderungen bei den Neuauflagen von Geschlecht, Macht, Staat? Wie begegnen Sie diesen?

Ich hatte zuvor noch nie ein Buch für eine zweite Auflage überarbeitet. Im Großen und Ganzen ist das Schreiben natürlich mit viel weniger Ups and Downs, Selbstzweifel und Umwegen verbunden, wenn es sich lediglich um die Überarbeitung eines Manuskripts handelt und die Grundstruktur des Buches bereits vorgegeben ist. Dennoch war es auch nicht immer leicht, in ein bereits bestehendes Gerüst Erweiterungen und neue Debatten einzuschreiben.

 

Darum bin ich Autorin bei Budrich

Budrich ist im deutschsprachigen Raum ein wichtiger Verlag für feministische Veröffentlichungen und Debatten, insbesondere in der Politikwissenschaft; nicht zuletzt erscheint ja die einzige feministische politikwissenschaftliche Zeitschrift – die Femina Politica – dort. Daher freue ich mich sehr, dass mein Einführungsbuch in feministische Staatstheorie im Verlag Barbara Budrich veröffentlicht wird. Zudem hat der Verlag ein tolles Team an Mitarbeiter*innen, sodass die Zusammenarbeit stets sehr zuverlässig und erfreulich verlief.

 

Die Autorin: Kurzvita in eigenen Worten

Budrich-Autorin Gundula LudwigGundula Ludwig ist Professorin für Sozialwissenschaftliche Theorien der Geschlechterverhältnisse an der Universität Innsbruck und Leiterin der Forschungsplattform Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck. Sie hat 2010 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien im Bereich queer-feministischer Staatstheorie promoviert. 2021 habilitierte sie sich mit einer Arbeit an der Schnittstelle von Politischer Theorie, Medizingeschichte und Gender Studies an der Universität Bremen. Sie war Universitätsassistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, wissenschaftliche Geschäftsführerin am Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung der Philipps-Universität Marburg und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien an der Universität Bremen. Sie hatte Gastprofessuren an der HU Berlin, der FU Berlin und an der University of Minnesota und war Visiting Scholar an der University of California, Berkeley, am Zentrum für transdisziplinäre Gender Studies der Humboldt-Universität zu Berlin sowie am Institut für Medizingeschichte der Charité in Berlin. Sie ist Mitherausgeberin der Femina Politica. Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung (ÖGGF).

 

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Politik und Geschlecht – kompakt, Band 2

Leseprobe

 

Über das Buch

Ziel feministischer Staatstheorie ist es, die Vergeschlechtlichung des Staates sichtbar zu machen. Auf diese Weise soll aufgezeigt werden, wie der moderne westliche Staat dazu beiträgt, geschlechtliche Ausbeutungs-, Gewalt- und Ungleichheitsverhältnisse zu ermöglichen und zu legitimieren. Die Autorin stellt dazu frühe Ansätze feministischer Staatstheorie ebenso vor wie neuere queer-feministische und intersektionale Konzepte. Dabei werden sowohl Theoretisierungen des Verhältnisses von Staat und Geschlecht als auch zentrale Themenfelder feministischer Staatstheorie vorgestellt und diskutiert. Für die Neuauflage wurde das Werk umfassend überarbeitet.

 

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© Foto Gundula Ludwig: Michelle Schmollgruber | Titelbild gestaltet mit canva.com