Kompetenzen für eine Nachhaltige Entwicklung aus der Perspektive beruflicher Praxis
Eine empirische Untersuchung zu idealtypischen subjektiven Theorien über nachhaltigkeitsbezogene Anforderungen
von Corinne Ruesch Schweizer
Über das Buch
Wozu soll Nachhaltigkeitskompetenz Hochschulabgänger*innen in ihrer beruflichen Praxis befähigen? Corinne Ruesch Schweizer geht dieser bisher zumeist normativ diskutierten Frage mit einer qualitativ-empirischen Studie nach. Über Situationsschilderungen der von ihr befragten Praxisexpert*innen arbeitet sie typische nachhaltigkeitsbezogene Anforderungen beschäftigungspraktischer Situationen heraus. Damit liefert sie nicht nur eine empirisch-fundierte Entscheidungs- und Reflexionsgrundlage für die curriculare Gestaltung von Studienangeboten im Kontext der Hochschulbildung für Nachhaltige Entwicklung, sondern zeigt auch die Relevanz des organisationalen Handlungskontextes für die Präzisierung der Nachhaltigkeitskompetenz auf.
Leseprobe aus den Seiten 11 bis 15
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1 Hochschulbildung und die Verantwortung für eine Nachhaltige Entwicklung – Einleitung
Nachhaltige Entwicklung – wie sie von den Vereinten Nationen postuliert wird – ist als gesellschaftspolitisches Ziel allgemein anerkannt. Auch Hochschulen werden mit der Forderung konfrontiert, diesbezüglich Verantwortung zu übernehmen. Eine Antwort auf die Frage, wie die Hochschulbildung diese Verantwortung wahrnehmen kann, ist, Kompetenzen der Studierenden für eine Nachhaltige Entwicklung zu fördern. Dies erfordert die Gestaltung von Studienangeboten, die zum Erwerb von Kompetenzen für eine Nachhaltige Entwicklung beitragen. Unterschieden werden kann zwischen Kompetenzen, die mit dem Leistungsanspruch verbunden sind, an der Erreichung von Nachhaltigkeitszielen, die für einen bestimmten historisch-kulturellen Kontext definiert wurden, mitzuwirken, und der Nachhaltigkeitskompetenz im spezifischeren Sinne, die dazu befähigt, an den gesellschaftlichen Prozessen der übergeordneten – regulativen – Idee der Nachhaltigkeit teilzuhaben und diese mitzugestalten. Insbesondere im Zusammenhang mit Letztgenannter stellt sich die Frage, wozu Absolventinnen und Absolventen von Studienangeboten, die den Erwerb dieser Kompetenz fördern, in der Lage sein sollten.
Geleitet von diesem didaktischen Erkenntnisinteresse stehen in der vorliegenden Arbeit nachhaltigkeitsbezogene Anforderungen im Mittelpunkt, mit denen Hochschulabgängerinnen und -abgänger in ihrer zukünftigen Beschäftigungspraxis umgehen müssen. Dabei richtet sich der Blick auf nachhaltigkeitsbezogene Anforderungen, mit denen potenziell alle Hochschulabgängerinnen und -abgänger in ihrer Beschäftigungspraxis konfrontiert sein können, unabhängig von ihrem disziplinären Hintergrund und ihrem beschäftigungspraktischen Tätigkeitsfeld.
In diesem Kapitel wird zunächst der Kontext entfaltet, in den die Gestaltung von nachhaltigkeitsbezogenen Studienangeboten eingebettet ist und in dem sich die Frage stellt, wozu Absolventinnen und Absolventen solcher Studienangebote in der Lage sein sollten. Im Praxisdiskurs der Hochschulbildung für eine Nachhaltige Entwicklung (HBNE) und in einschlägigen Befunden, die diese Praxis beleuchten, wird deutlich, dass es an einer Entscheidungsgrundlage für die Gestaltung solcher Studienangebote fehlt (Kap. 1.1). Dieses Praxisproblem lässt sich vor dem theoretischen Hintergrund des Kompetenzdiskurses als Frage danach verstehen, wie sich die Präzisierung der Nachhaltigkeitskompetenz aus hochschuldidaktischer Perspektive konzeptualisieren lässt (Kap. 1.2). Aus dieser theoretischen Perspektive wird deutlich, welche empirischen Befunde eine Entscheidungsgrundlage für die Präzisierung der zu erwerbenden Nachhaltigkeitskompetenz bieten können. Der dazu skizzierte Forschungsstand ermöglicht sodann das Forschungsdesiderat zu erschließen (Kap. 1.3). Daran anknüpfend wird die Forschungsfrage formuliert und geschärft sowie der Aufbau der vorliegenden Arbeit dargestellt (Kap. 1.4).
1.1 Ansprüche an Hochschulen im Zusammenhang mit Nachhaltiger Entwicklung – Problemkontext
Seit der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro im Jahr 1992 gilt die Idee der Nachhaltigkeit als international anerkannte Leitlinie für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die auf nationaler Ebene Aufnahme in Staatsziele, Strategien, Programme etc. in diversen Ländern gefunden hat (z. B. Michelsen & Adomßent 2014). Auch die Hochschulen sind mit diesem gesellschaftspolitischen Ziel einer Nachhaltigen Entwicklung konfrontiert ‒ sowohl direkt als auch indirekt.
Wie alle anderen gesellschaftlichen Akteure sind Hochschulen direkt mit der Erwartung konfrontiert, einen Beitrag zum gesellschaftspolitischen Ziel einer Nachhaltigen Entwicklung zu leisten. Im Zusammenhang mit ihrer Funktion, die Gesellschaft mit dem für die gesellschaftliche Entwicklung notwendigen Wissen und den notwendigen Kompetenzen auszurüsten, fordern beispielsweise die UNESCO „Guidelines on sustainability science in research and education“, dass der Erwerb von Kompetenzen für eine Nachhaltige Entwicklung in alle Studienangebote integriert wird (UNESCO 2017). Diese Erwartung an das Bildungsangebot von Hochschulen wird unter anderem auch unter dem Stichwort „Third Mission“ aufgenommen (vgl. z. B. Michelsen 2008; Roessler, Duong & Hachmeister 2015; Schneidewind 2016).
Neben dieser direkt auf eine Nachhaltige Entwicklung bezogene Erwartung sind Hochschulen aufgrund ihres Bildungsauftrags aber auch indirekt mit der Idee der Nachhaltigkeit konfrontiert. Bildungspolitisch sind Hochschulen – nicht erst, aber insbesondere seit der Bologna-Reform – dazu angehalten, „angemessen und verantwortlich auf die Anforderungen an berufliche und außerberufliche gesellschaftliche Praxis vor[zu]bereiten“ (Wildt 2012: 262). Diskutiert wird diese Vorbereitung auf die Praxis unter den Stichworten „Employability“ und „Citizenship“ (vgl. z. B. Wildt 2012; Schaper, Schlömer & Paechter 2012; Schubarth & Speck 2014). Da gegenwärtig sowohl in der beruflichen als auch in der außerberuflichen Praxis das gesellschaftspolitische Ziel einer Nachhaltigen Entwicklung an Relevanz gewinnt, fordert die Vorbereitung der Studierenden auf diese Praxis auch eine Auseinandersetzung mit der Idee der Nachhaltigkeit (vgl. z. B. Schaltegger&Harms 2014; Jonker, Stark & Tewes 2011).
Die Hochschulen sind somit unter dem Stichwort „Third Mission“ direkt und unter den Stichworten „Employability“ und „Citizenship“ indirekt dazu aufgefordert, Studierenden zu ermöglichen, Kompetenzen für eine Nachhaltige Entwicklung zu erwerben. Dies stellt die Hochschulen vor die Herausforderung, diesen Kompetenzerwerb in das Studienangebot zu integrieren ‒ entweder in bestehende Studienangebote oder durch Zusatzangebote (vgl. Otte, Prien-Ribcke & Michelsen 2014).
Mit der Frage, wie solche nachhaltigkeitsbezogenen Lehrangebote in Hochschulen integriert und gestaltet werden bzw. werden sollen, setzt sich der Diskurs zur Hochschulbildung für eine Nachhaltige Entwicklung (HBNE) auseinander. Eine Vielzahl von Fallstudien geben Einblicke, wie Hochschulen den Erwerb von Kompetenzen für eine Nachhaltige Entwicklung in ihr Lehrangebot integrieren (vgl. z. B. Fallstudien in Jones, Selby & Sterling 2010 oder in Leal Filho 2018a). Aus hochschulübergreifenden und meta-analytischen Studien sind Erkenntnisse zu hochschulinternen und -externen Faktoren vorhanden, welche die Integration nachhaltigkeitsbezogener Studienangebote in der Hochschulbildung beeinflussen. So zeigt sich unter anderem die Rolle der akademischen Mitarbeitenden als entscheidender Faktor für deren Integration (vgl. z. B. Thomas 2016; Leal Filho 2018b). Entscheidend sind die in der Lehre tätigen akademischen Mitarbeitenden nicht nur dafür, ob nachhaltigkeitsbezogene Studienangebote integriert werden, sondern auch dafür, wie diese integriert werden. Sie entscheiden darüber, wie solche Studienangebote didaktisch gestaltet werden: welche Lernziele diesen zugrunde gelegt werden und wie die dazu erforderlichen Lernprozesse gestaltet werden (vgl. z. B. Christie, Miller, Cooke&White 2015; Ruesch Schweizer, Di Giulio&Burkhardt-Holm 2018).
Hinsichtlich der mit den nachhaltigkeitsbezogenen Studienangeboten verfolgten Lernziele – im Zusammenhang mit kompetenzorientierter Lehre zumeist als „Learning Outcomes“1 bezeichnet – kann zwischen solchen unterschieden werden, mit denen Kompetenzen zur Erreichung konkreter Nachhaltigkeitsziele im Blick sind, und solchen, die auf eine nachhaltigkeitsspezifische Kompetenz zielen (vgl. Di Giulio 2006; Vare&Scott 2007; Barth 2015)2: Erstere sind mit dem Leistungsanspruch verbunden, die für einen spezifischen historisch- kulturellen Kontext konkretisierten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Solche Nachhaltigkeitsziele liegen für eine breite Palette von Problemstellungen vor: von der Armutsbekämpfung bis zur Erhaltung der Biodiversität (vgl. z. B. Rieckmann 2018b). Zur Lösung dieser Probleme sind Fachkompetenzen erforderlich, die an Hochschulen durch die verschiedenen Disziplinen gefördert werden und dann in einen interdisziplinären Problemlöseprozess eingebracht werden müssen. Damit der Fokus nicht auf bestimmte Problemstellungen beschränkt bleibt, sondern Hochschulabgängerinnen und -abgänger fähig sind, die Idee der Nachhaltigkeit als größeres Ganzes in den Blick zu nehmen, ist jedoch auch eine spezifisch auf Nachhaltigkeit bezogene Kompetenz erforderlich. Diese nachhaltigkeitsspezifische Kompetenz – im Folgenden als Nachhaltigkeitskompetenz bezeichnet – soll den Hochschulabgängerinnen und -abgängern ermöglichen, nicht nur an der Erreichung historisch-kulturell definierter Nachhaltigkeitsziele mitzuwirken, sondern selbstbestimmt, konstruktiv und gleichzeitig kritisch an einer Nachhaltigen Entwicklung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Prozessen – den Lernprozessen wie auch politischen Prozessen – teilzuhaben und diese mitzugestalten (vgl. Di Giulio 2006; Vare & Scott 2007; Barth 2015).
Dieses Verständnis von Nachhaltigkeitskompetenz ist der Ausgangspunkt dieser Arbeit. Mit Blick auf die Hochschulpraxis – und auch mit Blick auf die berufliche Praxis, dem Anwendungsfeld nachhaltigkeitsbezogener Kompetenzen – ist jedoch festzuhalten, dass dort nicht stringent zwischen den breitgefächerten Kompetenzen, die instrumentell für die Erreichung von historischkulturell definierten Nachhaltigkeitszielen sind, und der Nachhaltigkeitskompetenz, die einen emanzipierten Zugang zur Idee der Nachhaltigkeit erlaubt, unterschieden wird (vgl. z. B. Svanström, Lozano-García & Rowe 2008; Barth 2015).
Auf konzeptueller Ebene liegen eine Vielzahl von Kompetenzmodellen zur Nachhaltigkeitskompetenz vor (vgl. dazu die Metaanalyse von Wiek, Withycombe & Redman 2011), die als Heuristik dienen können, um Learning Outcomes für nachhaltigkeitsbezogene Studienangebote zu bestimmen und Studienangebote zu gestalten (vgl. z. B. Fadeeva&Mochizuki 2010; allgemein zur kompetenzorientierten Gestaltung von Studienangeboten vgl. z. B. Schaper, Reis & Wildt 2012). Dennoch bleibt die didaktische Gestaltung konkreter Studienangebote herausfordernd. So werden beispielsweise Schwierigkeiten bei der Konkretisierung und Übersetzung der abstrakten Kompetenzfelder in didaktische Konzepte beschrieben (Nölting, Dembski, Pape&Schmuck 2018), von Herausforderungen, die sowohl mit der Vagheit des Kompetenz- als auch des Nachhaltigkeitsbegriffs einhergehen, berichtet (Zinn 2018) oder auch auf die Gefahr eines Komplexitätsverlusts von nachhaltigkeitsbezogenem Engagement im Zuge der Konkretisierung der Nachhaltigkeitskompetenz, weil diese auf konkrete Handlungen reduziert wird, hingewiesen (Wals & Lenglet 2016). Die Herausforderungen, die mit der didaktischen Gestaltung von nachhaltigkeitsbezogenen Studienangeboten verbunden sind, bringt Apel (2013) auf den Punkt:
„Ein Sachverhalt, der auf Nachhaltigkeit rekurriert, sollte schulgemäß generationsübergreifend, global und lokal die Aspekte Ökonomie, Ökologie und Soziales, nach Möglichkeit noch Kulturelles umfassen. Ein so interdisziplinär aufgeladenes Themenfeld ist aus pädagogischer Sicht ein Bildungsungetüm. Die Kunst, Komplexität zu reduzieren, greifbar zu machen und ihren Kern doch zu bewahren, kommt der Quadratur des Kreises nahe.“ (Apel 2013: 231f.)
Angesichts dieser Herausforderung ist es umso bemerkenswerter, dass vorhandene Kompetenzmodelle bei der Gestaltung nachhaltigkeitsbezogener Studienangebote nicht stärker berücksichtigt werden. Befragungen von Personen, die in die Gestaltung von nachhaltigkeitsbezogenen Studienangeboten involviert sind, weisen darauf hin, dass die didaktische Gestaltung stärker auf dem (begrenzten) Erfahrungshintergrund der Studienangebotsverantwortlichen gründet als auf den postulierten Kompetenzmodellen (Ruesch Schweizer et al. 2018) und zeigen, dass in der Praxis die Forschung zur Nachhaltigkeitskompetenz als wenig robust für die Gestaltung von Studienangeboten wahrgenommen wird (Glasser & Hirsh 2016).
Als Hindernis für die didaktische Umsetzung des Erwerbs von Nachhaltigkeitskompetenz wird deren fehlende Operationalisierung gesehen (Thomas &Day 2014; Glasser &Hirsh 2016; Wiek et al. 2016; Rieckmann 2018a) oder in anderen Worten: dass man für die didaktische Gestaltung von Studienangeboten noch zu wenig präzise weiß, durch welches Leistungsvermögen sich die Nachhaltigkeitskompetenz auszeichnet bzw. auszeichnen soll. Es fehlt in der Praxis also an einer Entscheidungsgrundlage für die didaktische Gestaltung von nachhaltigkeitsbezogenen Studienangeboten. Ziel dieser Studie ist es, einen empirischen Beitrag zu einem präziseren Verständnis der Nachhaltigkeitskompetenz zu leisten, auf dessen Grundlage didaktische Entscheidungen darüber getroffen werden können, wie diese in nachhaltigkeitsbezogenen Studienangeboten gezielt gefördert werden kann.
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1 Learning Outcomes benennen das, was die Studierenden nach Abschluss eines Studienangebots in der Lage sein sollten zu tun. Im Fachgutachten zur Kompetenzorientierung in Studium und Lehre (Schaper, Reis & Wildt 2012) werden Learning Outcomes als zentrale Elemente einer kompetenzorientierten Gestaltung von Studienangeboten beschrieben, da diese ermöglichen, die gesamte Studienangebotsgestaltung ‒ von der Studienangebotsentwicklung über die Lehr-Lernprozessgestaltung bis hin zu den Prüfungsformaten ‒ auf einen Zielpunkt hin auszurichten.
2 Vgl. den Diskurs zur Unterscheidung von spezifischen Kompetenzen für eine Nachhaltige Entwicklung und Kompetenzen zur Erreichung nachhaltigkeitsbezogener Ziele (Di Giulio 2006), von Education for Sustainable Development (ESD)1 und ESD2 (Vare & Scott 2007) oder von instrumenteller und emanzipatorischer HBNE (Barth 2015).
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Corinne Ruesch Schweizer:
Schriftenreihe Ökologie und Erziehungswissenschaft der Kommission Bildung für Nachhaltige Entwickung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE)
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