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„… jedem zu gewähren seine ureigenste Biografie dem Gemeinwohl beizusteuern …“ (Julia Kristeva und Charles Gardou)1
Schulen inklusiv gestalten: 1 Einleitung2
Absicht des vorliegenden Buchs ist es, grundlegendes Wissen über Inklusive Pädagogik bereitzustellen. Dabei werden zwei Fragen behandelt: Wie wird Inklusive Pädagogik begründet? Und: Welche Bausteine gehören zur inklusiven pädagogischen Praxis?
Der Text wendet sich an angehende und berufstätige Lehrkräfte aller Schulstufen, Schulformen und Schulfächer, an sozial- und sonderpädagogische Fachkräfte, an Lehrende und Forschende sowie an Angehörige aller anderen beteiligten Berufe. Eine solche gemeinsame Ansprache ist notwendig, weil multiprofessionelle Kooperation einen Eckpfeiler Inklusiver Pädagogik bildet. Inklusive Pädagogik braucht verschieden ausgebildete Teamangehörige mit verschiedenen Berufsprofilen und diese brauchen eine gemeinsame Grundlage für ihre Verständigung bei der Zusammenarbeit. Aus diesem Grund wird in allen Teilen des Einführungstextes nach einer berufsübergreifend verständlichen und zugleich fachlich angemessenen Sprache gesucht, die die Schulpädagogik betrifft und darüber hinaus stellenweise auch die Pädagogik der vorund außerschulischen Arbeitsfelder berücksichtigt (Bloth 2019; Urban 2015; Tippelt/Heimlich 2020; Arndt/Neises 2019).
Diese Einführung entsteht in einer Zeit, in der Inklusion in unserem Bildungswesen umstritten ist. Eine einheitliche Entwicklungsrichtung ist in Deutschland kaum zu sehen. Wir müssen vielmehr von geradezu gegensätzlichen Ansätzen im Schulsystem ausgehen.
Einerseits wird gegen Inklusion Stellung bezogen. Sonderschulen werden als angemessen förderliche und geschützte Orte für beeinträchtigte Kinder bezeichnet, denn diese Kinder seien an Regelschulen nicht beschulbar (vgl. zum Beispiel eine Petition zum Erhalt der Förderschulen, Steckhan 2022). In diesem Denken werden die Lernenden eingeteilt in eine größere Gruppe, die man einer von Druck bestimmten Regelschule aussetzen sollte, und eine kleinere Gruppe, die davon in Sonderschulen verschont werden muss. Probleme solcher Denkweisen sind, dass wesentliches Wissen ausgeblendet wird, so die Veränderlichkeit von Regelschulen, die Heterogenität ausnahmslos jeder Schülergruppe, die Probleme der Separation und der Wert des Zusammenlebens aller für eine demokratische Sozialisation.
Andererseits haben sich zahlreiche Schulen zu inklusiven Schulen entwickelt. Eine norddeutsche Schule steht für die vielen Schulen, die aus eigenem Wunsch einen Weg zur Inklusion gegangen sind; das Kollegium berichtet:
An der Grundschule Op de Host haben wir Lehrkräfte uns 2006 auf den Weg gemacht, Schule zu verändern. […] Heute setzen wir Inklusion schulweit um und machen gute Schule für jedes Kind. Folgende Grundgedanken liegen unserem Horster Inklusionsmodell zugrunde: Jedes Kind ist einzigartig. Jedes Kind ist bei uns willkommen. Jedes Kind ist gut, so wie es ist. Heterogenität ist gewollte Selbstverständlichkeit. […] Wir gestalten unsere Schule so, dass jedes Kind erfolgreich und mit Freude lernen kann, jedem Kind sein eigener Lernweg bei der Erarbeitung von Lerninhalten ermöglicht wird, keine Lernlücken entstehen, die Leistungen jedes Kindes gewürdigt werden, jedes Kind den gesamten Schultag in einer jahrgangsübergreifenden Klasse lernt, jedes Kind Hilfe Empfangender und Helfender ist, sich jedes Kind als geschätzter Teil der Klassen- und Schulgemeinschaft erleben kann. So können wir den vielfältigen Begabungen und Bedürfnissen aller Kinder nachkommen. (Grundschule Op de Host 2022)
Die Schulleiterin dieser Schule beschreibt zentrale Erfahrungen der letzten 15 Jahre. Dazu gehört, dass sie von Eltern aus umliegenden Regionen – von Ausnahmen abgesehen – wegen des inklusiven Ansatzes immer häufiger nachgefragt wird, dass Unterrichtskonzepte und -materialien immer weiterentwickelt und evaluiert wurden, dass nach wie vor vollständig notenfrei mit eigener Form von Berichtszeugnissen gearbeitet wird und dass viele Schülerinnen und Schüler, auch solche mit Förderbedarf, eine erfolgreiche Schullaufbahn erleben. Diese Entwicklung wird unablässig fortgesetzt, ist aber seit 2014 durch Personalmangel erschwert.3
Zunehmend werden auch Schulen im Sekundarbereich bekannt, die heterogene Lerngruppen bilden und sie inklusiv unterrichten. Dazu gehören – um nur einige Beispiele zu nennen – die neu gegründete Schule „IGS-Süd“ in Frankfurt am Main, einer Stadt, in der die dort existierenden 16 integrierten Gesamtschulen inklusive Schulen sind,4 oder in Münster die Schule Berg Fidel, die als inklusive Primusschule die Klassen 1-10 umfasst. In Berlin wurden 26 inklusive Gemeinschaftsschulen für die Klassen 1-10, teilweise auch 1-13 geschaffen, die dezidiert den Auftrag haben, mit heterogenen Lerngruppen zu arbeiten.
Mit ihren organisatorischen und pädagogischen Leitplanken stehen die Berliner Gemeinschaftsschulen heute beispielgebend für eine inklusive Schule, die ihre pädagogische Arbeit konsequent auf die Verschiedenheit ihrer Schüler*innen ausrichtet. Dazu gehören das Offenhalten des individuell erreichbaren Schulabschlusses, der Verzicht auf äußere Fachleistungsdifferenzierung, der Verzicht auf Klassenwiederholungen und Abschulungen sowie regelmäßige individuelle Lern- und Leistungsrückmeldungen, die das halbjährliche Notenzeugnis bis zur Jahrgangsstufe 8 ersetzen und die individuellen Lernfortschritte in den Mittelpunkt stellen. […] Zu den herausragenden Befunden der wissenschaftlichen Begleitung des Schulversuchs zählt, dass insbesondere auch Gemeinschaftsschulen mit einer soziokulturell benachteiligten Schüler*innenschaft überdurchschnittlich hohe Lernerfolge erzielen konnten. (Vieluf 2021, S. 26f.)
In einem Teil unseres Bildungswesens wird an die bald 50-jährige Tradition der Inklusiven Pädagogik, die anfangs integrative Pädagogik genannt wurde, sowie an die noch älteren reformpädagogischen Traditionen angeknüpft, sie werden gepflegt und erneuert. Aber hartnäckig hält sich in anderen Teilen des Schulwesens ein starres Bild von Schule, das von Mehrgliedrigkeit, homogenen gedachten Klassen, gleichschrittigem Unterricht, früher Separation, Sitzenbleiben und Abschulung bestimmt ist.
Dieser Einführungsband beabsichtigt, etwas von dem wertvollen Wissen, das aus alltäglichen Erfahrungen in den inklusiv arbeitenden pädagogischen Feldern hervorgeht, zu sammeln und weiterzugeben. Diese Schulen wurden und werden meist vielseitig wissenschaftlich begleitet und evaluiert, so dass ein reicher Schatz an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Inklusiver Pädagogik vorhanden ist und stets weiter erneuert wird – auch daraus schöpft dieses Buch. Dabei werden Erkenntnisse zusammengestellt, die geeignet sind, gelingendes pädagogisches Handeln zu begründen. Der Einführungstext ist von der Einsicht bestimmt, dass zwar immer vorläufige, aber doch stichhaltige Fachkenntnisse möglich sind. Darum können aus wissenschaftlichen Erkenntnisständen und alltäglichen Erfahrungen wertvolle Konsequenzen für die verschiedenen Handlungsebenen des Bildungssystems gezogen werden (Shulman 2004).
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1 Kristeva/Gardou 2012, S. 4, siehe auch 3.1.4
2 Herzlich danke ich dem Erziehungswissenschaftler Sven Sauter, der die Idee zur ersten Fassung dieses Einführungstextes hatte und ihn inspiriert hat (vgl. Danz/Sauter 2020). Ulrike Becker, Steffi Bosse, Helga Breuninger, Ute Geiling, Winnie-Karen Giera, Thomas Häcker, Christian Hausner, Martina Hehn-Oldiges, Friederike Heinzel, Silke Henningsen, Reinhard Hörster, Anke König, Anke Lindemann, Hanna Löhmannsröben, Birgit Lütje-Klose, Frank J. Müller, Clara Overweg, Anne Piezunka, Katja Rentsch-Häcker, Sophia Richter, Achim Scholz, Hanno Schmitt, Aenne Thurau, Wolfgang Vogelsaenger und Maik Walm bin ich für wertvolle Anregungen und Hinweise dankbar. Toni Ansperger, Anja Gollrad, Andrea Lassalle und Meret Grote sei für Unterstützung bei der Literaturrecherche und bei der Erstellung des Manuskripts gedankt. Mein besonderer Dank gilt der Kunstpädagogin Anke Kremer, ohne die das Cover dieses Buches nicht entstanden wäre. Der Text beruht auf früheren Studien, bündelt sie und führt sie weiter (Prengel 2013c; 2015a, b; 2016c; 2017, 2019b, 2020).
3 Ich danke der Schulleiterin Aenne Thurau für ihren E-Mail-Bericht über die Entwicklung ihrer Schule in den 15 Jahren.
4 Der stellvertretenden Schulleiterin der neugegründeten IGS-Süd, Silke Henningsen, danke ich für Informationen über die Entwicklung in Frankfurt am Main.
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Die Autorin
Prof. Dr. Annedore Prengel, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Potsdam im Ruhestand und Seniorprofessorin an der Goethe Universität Frankfurt/Main
Über das Buch
„Schulen inklusiv gestalten“ stellt grundlegendes Wissen über inklusive Pädagogik in verständlicher Sprache bereit. Dabei werden zwei Fragen behandelt: Wie wird Inklusive Pädagogik menschenrechtlich und wissenschaftlich begründet? Und: Welche Bausteine gehören zur inklusiven pädagogischen Praxis? Sowohl alltägliche pädagogische Erfahrungen als auch wissenschaftlich fundiertes Wissen werden als wertvolle Erkenntnisquellen genutzt.
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