„Reflexion steht oft in der Gefahr, zum ,Containerbegriff’ zu werden.“ – Interview mit den Herausgeberinnen von „Mythos Reflexion”

Mythos Reflexion. Zur pädagogischen Verhandlung von Reflexion zwischen Notwendigkeit und Unsicherheit

herausgegeben von Stephan Kösel, Tim Unger, Sabine Hering und Selma Haupt

 

 

 

 

Über das Buch

Reflexion wird zumeist als zentral für professionelles pädagogisches Handeln angesehen. Wie sicher ist aber unser Wissen über Reflexion? Ist Reflexion zu einem Mythos innerhalb der Erziehungswissenschaft und Sozialen Arbeit geworden, weil die etablierten Formen und Verständnisse von Reflexion mehr versprechen oder gar verschleiern, als sie halten können? Andererseits bedarf es gerade Reflexion als professionellem Anspruch, um widersprüchliche und komplexe Anforderungen zu versöhnen bzw. daraus resultierende Unsicherheiten zum Sprechen zu bringen. Die Autor*innen haben sich im Format des Denkkollektiv zu Workshops getroffen, um zwischen ihren jeweiligen Perspektiven auf den Mythos Reflexion disziplinäre Fragen, übergreifende Herausforderungen und Potentiale für Professionalisierungsprozesse zu klären und präsentieren ihre Ergebnisse in diesem Band.

 

Lieber Herausgeber*innen, bitte fassen Sie den Inhalt Ihrer aktuellen Publikation Mythos Reflexion  für unsere Leser*innen zusammen.

Die zehn unterschiedlichen Beiträge aus der Lehrer*innenbildung und Sozialer Arbeit problematisieren die Ansprüche, Erwartungen und das mythische Potential, welche sich um Reflexion als Zentralbegriff von Professionalisierungsprozessen bei Studierenden ranken. Sie betrachten die curriculare Ebene in Studiengängen, die organisationale Ebene als Ort professionellen Handelns und die individuelle Ebene als adressierter Ort von Reflexions-„Leistungen“.

Wie im Einleitungsartikel betont, sehen wir im Reflexionsbegriff eine wirksame Fiktion, um Professionalisierungsanforderungen bezogen auf Personen, Kontexte und Organisationen besprechbar zu machen, ohne sie auflösen zu können. Wir nennen das mit Bezug auf Vaihinger „Durchgangspunkte des Denkens“. Auf diese Weise können die Widersprüchlichkeiten von erwarteten und (un-)möglichen Reflexions-Leistungen thematisiert werden. Eine andere spannende Referenz sind die linguistischen Arbeiten von Barthes, mit dem sich ein Artikel dezidiert auseinandersetzt. Hier wird deutlich, dass ein Mythos Diskurse nicht nur überhöhen oder verkürzen kann, sondern als eigenes linguistisches System verschiedene Diskurse zueinander anschlussfähig und lebendig machen kann. So kann aus der disponiblem Armut verkürzender Mythen ein disponibler Reichtum werden, in dem ein sprachlich-mythisches System entworfen wird, welches oft ausgeschlossenes Drittes wieder in den Diskurs hereinholt.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch herauszugeben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Gerade in den letzten Jahren begegnete uns Herausgeber:innen immer wieder der Begriff der Reflexion. Das gleichzeitig sich verstärkenden Unbehagen, dass Reflexion z.B. als Medium der Professionalisierung quasi als Allheilmittel betrachtet wird, wollten wir erforschen. Alle Beteiligten trieb es an, fernab enger Zeitregime üblicher Tagungsformate die eigenen Arbeitsansätze unter einer gemeinsamen Fragestellung in einem Denkkollektiv vorzustellen und offen zu besprechen. In 2020/2021 trafen wir uns daher jeweils an zwei Tagen, um einen offenen Denkraum zum gemeinsamen Räsonieren zu ermöglichen. Zwischen den Kollektivtreffen wurden die Arbeitspapiere weiterentwickelt und dann wieder vorgestellt.

 

Mythos Reflexion präsentiert die Ergebnisse von Workshops des Denkkollektivs. Würden Sie uns das Ergebnis eines dieser Workshops exemplarisch vorstellen?

Der erste Workshop im Jahr 2020 wurde in wechselnden Kleingruppen von 3-4 Teilnehmenden durchgeführt, die sich über zwei Tage jeweils neu mischten. Ein zentrales Ergebnis dieses ersten kollektiven Austausches war, dass disziplinübegreifend in der Lehrer*innebildung und Sozialen Arbeit die vielfältigen Erwartungen an die Funktion und Leistungsfähigkeit von Reflexion fast schon proportional mit den widersprüchlich-kontingenten Arbeitsanforderungen Professioneller und der Nicht-Standardisierbarkeit pädagogischer Prozesse zusammenhängen. Oder anders gesagt: je uneindeutiger das Feld oder die Aufgabe, desto mehr sollte dies mit Reflexion ausgeglichen werden. Reflexion steht somit oft in der Gefahr, zum „Containerbegriff“ zu werden: Vieles kann reingepackt werden, alles kann je nach Erwartungslage als professionalisierungsförderlich herausgepflückt werden. Daher stand fest: Wir wollen im Sinne von Barthes „Fährtenleser“ sein und suchen, welche gelegte Spuren den Diskurs wohin führen. Der zweite Workshop stand dann im Fokus, das Förderliche, Produktive eines Mythos Reflexion in den Blick zu nehmen.

 

Welche Aspekte der sozialwissenschaftlichen Reflexionsforschung werden Ihrer Einschätzung nach künftig stärker in den Fokus rücken?

Reflexion und Reflexivität als Gegenstand einer Professionalisierungsforschung erfordern per se Relationierungsleistungen. Damit stellt sich aber die Frage, welche Phänomene bzw. Gegenstände aufeinander bezogen werden können bzw. sollen. Und ob und wie stark eine oft sehr kognitiv geprägte Vorstellung von Selbst- und Kontextsteuerung dann den jeweiligen Relationierungsanforderungen gerecht werden kann. Ebenso wie das „Nichtstun“ manchmal eine der wirksamsten pädagogischen Tätigkeiten darstellt, kann die (scheinbare) Nicht-Reflexion, eine andere Situationseinlassung und Situationserleben ermöglichen. Daher haben Beiträge im Buch diesen manchmal vernachlässigten Bereich schon thematisiert, ebenso wie Frage, ob und wie das Mündliche in Gesprächsformaten im Gegensatz zum dominanten Modus der verschriftlichenden Reflexion andere Potentiale einer Professionalisierung ansprechen kann, die sich auf kollektive Wissensbestände und Routinen bezieht. Daher wird auch vermehrt die organisationale Prägekraft von passender bzw. erwünschter Reflexivität problematisiert und die zu Recht oft in Frage gestellte Reflexion als Selbstoptimierungstechnik sowie eine strukturell-machttheoretische Unterwerfung gegenüber normativ aufgeladenen Professionalisierungsansprüchen.

 

Darum sind wir Autor*innen bei Budrich

Ganz einfach: Die Publikationen werden zusammen mit den Autor*innen sehr gut vorbereitet, begleitet und umgesetzt. Das machen wir daran fest, dass die Kommunikation zeitnah, schnell und immer sehr konstruktiv verläuft. Dies betrifft Beiträge in Buchprojekten von anderen Kolleg*innen und – wie beim „Mythos Reflexion“ – auch die Arbeit als Herausgeber*innen. Hilfreich ist es, dass man/frau sich dann auch persönlich trifft und kennt, wie bei den Magdeburger Methodenworkshops des ZSM und anderen Tagungen, bei denen die Kolleg*innen den Stand des Verlags Barbara Budrich betreuen. Die Zusammenarbeit ist sehr konstruktiv und angenehm!

 

Kurzvitae der Herausgeber*innen in eigenen Worten

Prof. Dr. Stephan Kösel: Nach langjähriger beruflicher Praxis als Sozialpädagoge und Diplompädagoge im Bereich der beruflichen Bildung, Promotion in 2005 über die Lernortdualität Berufsschule und Ausbildungsbetriebe. Vertretungsprofessuren in der Berufspädagogik u.a. an der TU Darmstadt. Seit 2012 Professur für Praxisausbildung an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW/Schweiz. Arbeitsschwerpunkte: Aus- und Weiterbildung von Praxisanleitenden. Methodenentwicklung zur Theorie-Praxis-Relationierung (Re-Frame, Wissenskamm etc.). Methodenentwicklung GTM mit Hilfe der Transaktionsanalyse (E. Berne). Regelmässig Workshopleitender zur GTM bei den Magdeburger Methodenworkshops.

Jüngstes Forschungsprojekt: Die Dynamisierung von Kompetenzprofilen von wissenschaftlichen Mitarbeitenden an anwendungsorientierten Hochschulen durch einjährige Tandems mit Praxisexpert*innen und spezifische Connectivity-Tätigkeiten.

 

Prof. Dr. Tim Unger: Tim Unger ist Professor für Erziehungswissenschaft an der RWTH Aachen University. Arbeitsschwerpunkte des Lehrstuhls sind Prozesse von Bildung und Professionalisierung im schulischen Kontext. In den letzten Jahren Ausbildung in u.a. Essentieller Psychotherapie, zertifizierter MBSR-Lehrer, Leiter von Meditationsretreats am Pauenhof e.V. Tim Unger verbindet in Forschung und Lehre Bildungs- und Persönlichkeitstheorie, Meditationspraxis, Ressourcenarbeit und personzentrierte Gesprächsführung. Aktuell ist er am Aufbau einer Universitätsschule federführend beteiligt und entwickelt am Lehrstuhl einen Ansatz zur ganzheitlichen Persönlichkeitsförderung von Lehrkräften.

 

Dr. Sabine Hering: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Berufspädagogik an der TU Darmstadt 2010, seit 2012 am Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft
mit dem Schwerpunkt Berufspädagogik an der RWTH Aachen. 2010-2014: Promotionsstudium „Qualitative Bildungs- und Sozialforschung“
an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Promotion 2017 Dispositivanalyse des Übergangsbegriffs in der beruflichen Bildung. Weitere Forschungsschwerpunkte Bildungs- und Subjektivationstheorie, Lehre*innenbildung und Professiontheorie. Methoden qualitativ-rekonstruktiver Sozialforschung. Regelmässig Workshopleitende zur GTM bei den Magdeburger Methodenworkshops.

 

Dr. Selma Haupt: Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, Bergische Universität Wuppertal (2013-2018) und Promotion in der Historischen Bildungsforschung zum Bildungsbegriff in den Rektoratsreden im Deutschen Kaiserreich (Abschluss 2017). Seit 2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Erziehungswissenschaft an der RWTH Aachen. Habilitationsthema: Radikales Pädagogisches Denken in der jüngsten Disziplingeschichte, insbesondere in den 1970er-Jahren.

 

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© Autorinnenfotos: privat | Titelbild: gestaltet mit canva.com