Vor welchen Herausforderungen stehen wir aktuell in der Kinderschutzarbeit? Wir haben ein Interview mit Kira Gedik und Reinhart Wolff zu ihrem Buch Kinderschutz in der Demokratie – Eckpfeiler guter Fachpraxis. Ein Handbuch geführt.
Interview zum Buch „Kinderschutz in der Demokratie – Eckpfeiler guter Fachpraxis“
Liebe Kira Gedik, lieber Reinhart Wolff, bitte fassen Sie den Inhalt Ihrer aktuellen Publikation Kinderschutz in der Demokratie – Eckpfeiler guter Fachpraxis. Ein Handbuch für unsere Leser*innen zusammen.
Wir zeigen, wie Kinderschutz als demokratische Fachpraxis gemacht werden kann und fragen, vor welchen Herausforderungen wir aktuell in der Kinderschutzarbeit stehen. Wir untersuchen, welche sozio-ökonomischen, politischen, kulturellen und professionellen Veränderungen wir im Blick haben müssen, wenn wir Kinder, Jugendliche, Eltern und Familien solidarisch unterstützen wollen, ihre Rechte, Interessen und Entwicklungsbedürfnisse zu verwirklichen und nicht an den immer wieder entstehenden gefährlichen Konfliktzuspitzungen zu scheitern. Zusammen mit einer Gruppe von praxiserfahrenen Kinderschutz-Fachleuten und wissenschaftlichen Expert*innen zeigen wir, welche Leitlinien als strategische Grundorientierung in der modernen Kinderschutzarbeit wichtig sind und welche Aufgaben (von der Frühen Hilfe und Prävention bis hin zur Qualitätssicherung und zum Forschen und Lernen) methodisch überlegt und angepackt werden müssen. Das Handbuch vermittelt, was Eckpfeiler gelingender Kinderschutzarbeit sind und wie im Bündnis der beteiligten Akteure Kinderschutz in der demokratischen Gesellschaft konzeptuell – programmatisch und methodisch gefasst und weiterentwickelt werden kann.
Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?
Mit großer Sorge beobachten wir einen interventionistischen und autoritären Trend in der Kinderschutzarbeit, der zwei wichtige und gleichwertige Hilfebestandteile vernachlässigt: die Förderung und die Unterstützung von Menschen in Not. Wir verstehen Kinderschutz als eine ganzheitliche Praxis, die sowohl die Förderung, die Unterstützung und Hilfe als auch den Schutz aller Beteiligten umfasst und in der es – angesichts der nur seltenen akut lebensbedrohlichen Situationen – ebenso nur selten notwendig ist, übereilte und autoritäre Nothilfeinterventionen ins Werk zu setzen, wie sie aber aktuell überall propagiert und umgesetzt werden.
Die hierzulande und international häufig propagierte und praktizierte einseitige Fokussierung auf Intervention und Repression verengt allerdings die Aufgabe eines – angesichts hoher Komplexität und Kontingenz der vorliegenden Konflikt-, Misshandlungs- und Vernachlässigungssituationen – notwendigen multiperspektivischen Fallverstehens und verkürzt eine im Kinderschutz immer notwendige mehrseitige Untersuchungspraxis. Als dringend erkannten wir daher als unsere Aufgabe, übersichtlich und wissenschaftlich fundiert herauszuarbeiten, wie es konkret gelingen kann, gute Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen, aber auch ihrer Eltern und der gesamten Familie anzustoßen. Obwohl Kinder und Jugendliche im Zentrum der Aufmerksamkeit der Kinder- und Jugendhilfe und der anderen am Kinderschutz beteiligten Professionssysteme stehen (sollten), braucht es in der Kinderschutzpraxis einen Kontakt mit Herz und Verstand auf der Grundlage eines klaren hilfeorientierten Selbstverständnisses professioneller Fachkräfte mit ihnen. In der wechselseitigen Beteiligung von professionellen Fachkräften und Kindern, Jugendlichen, Eltern und Familien in der Begegnung können erfolgreiche Verstehens- und Verständigungspraxis programmatisch und methodisch ins Werk gesetzt sowie Entwicklungen zum Wohle aller Beteiligten angestoßen werden. D.h. Kinderschutzpraxis – so wie wir sie in diesem Handbuch entfalten – ist persönlich und fachlich komplex, ist mehrseitig und mehrdeutig, ist demokratisch auf Augenhöhe angelegt trotz unterschiedlicher Rollen und Aufgaben der Beteiligten – jedoch angesichts einer größeren, gemeinsam geteilten Aufgabe: Kinder zu fördern, sie zu unterstützen und im Notfall auch zu schützen. Konflikte, Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden dabei sensibel genutzt. Das heißt, Kinder, Eltern, Familien sowie Fachkräfte und Organisationen als jeweils besondere Akteure in ihren Kontexten anzuerkennen, sie in ihren Rechten und Pflichten zu achten; ihnen dabei zu helfen, ihre Entwicklungsbedürfnisse und -notwendigkeiten zu befriedigen und ihnen zu helfen, ihre jeweiligen Herausforderungen möglichst zu meistern.
Welchen Herausforderungen steht die Kinderschutzarbeit derzeit gegenüber?
Kindesmisshandlung und Kinderschutz sind in den letzten 50 Jahren weltweit zu einem wichtigen Thema geworden. Im Zuge der damit einhergehenden medialen aufgeregten und oft skandalisierenden Berichterstattung, nicht selten mit dem Fokus auf problematische oder gescheiterte Kinderschutzfälle, hat sich die dabei entwickelnde Kinderschutzpraxis häufig in eine immer stärker interventionistische Praxis des Risikomanagements und der Risikoeindämmung drängen lassen, die sowohl auf Seiten der betroffenen familialen Akteure als auch auf Seiten der Kinderschutzfachleute skeptisch als wenig hilfreich und unterstützend erlebt wird. Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Erforschung der Kinderschutzpraxis nur langsam in Gang gekommen ist und es nach wie vor große Forschungslücken gibt, ganz abgesehen davon, dass überall beunruhigende programmatische und methodische Kompetenzdefizite und unzureichende Personal- und Sachausstattungen zu schaffen machen. Nicht zuletzt fehlt es bei den Fachkräften aber immer wieder an einem achtsamen und reflektierten Engagement als Handwerker der Demokratie.
Welche Aspekte der Kinderschutzarbeit werden Ihrer Einschätzung künftig stärker in den Fokus rücken?
Wichtig wird sein, Kinderschutz als demokratische Fachpraxis konzeptuell, programmatisch und methodisch auszurichten, Prozessverläufe in der Fachpraxis zuverlässig in mehrseitigen Settings regelmäßig empirisch zu erforschen, die Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte zu verbessern (nicht zuletzt durch auf Kinderschutz ausgerichtete Studiengänge) und in organisationalen und interorganisationalen Kontexten dialogische Qualitätsentwicklungsprojekte durchzuführen, um gute Fachpraxis weiterzuentwickeln und zu sichern. Das Handbuch, das wir nun vorlegen, kann als Road Map genutzt werden, um in diese Richtung zu gehen.
Darum sind wir Autor*innen bei Budrich
Wir haben bereits einige Bücher bei Budrich gemacht und haben dabei nicht zuletzt an das Interesse des Verlags und der Verlegerin an Qualitätsentwicklung und wissenschaftlicher Forschung angeknüpft und schätzten dabei auch das Aufgreifen internationaler Diskussionszusammenhänge. Die Leser*innen werden zustimmen, dass es folgerichtig ist, wenn nach Aus Fehlern lernen, Jenseits der Exklusion und Kinderschutz im Dialog nunmehr auch „Kinderschutz in der Demokratie“ im Verlag Barbara Budrich erscheint.
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Kira Gedik, Reinhart Wolff:
Kinderschutz in der Demokratie – Eckpfeiler guter Fachpraxis. Ein Handbuch
Die Herausgeber*innen
Kira Gedik hat den Diplomstudiengang „Soziale Arbeit/Sozialpädagogik“ an der Alice Salomon Hochschule in Berlin mit dem Schwerpunkt der „Dialogischen Qualitätsentwicklung“ 2008 abgeschlossen. Von 2009 bis 2012 studierte sie im Masterstudiengang der Alice Salomon Hochschule Berlin „Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik“ mit Schwerpunkt der Rekonstruktiven Forschung und erhielt nach Abschluss eine Einladung, die Rekonstruktiven Handlungsmethoden im BA Soz.Arb./Soz.päd. zu lehren. Sie entwickelte den Masterstudiengang „Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz“ mit, in dem sie seit Beginn 2015 die Lehre in unterschiedlichen Seminaren übernimmt. Parallel arbeitete sie in mehreren organisationalen und interorganisationalen Qualitätsentwicklungsprojekten, in Fort- und Weiterbildungen und in mehrseitigen Untersuchungswerkstätten im Kontext hochkonfliktreicher bzw. zu scheitern drohenden Hilfeprozessen mit und unterstützte sowohl Fachkräfte als auch Familien, Eltern und Kinder / Jugendliche in Not bzw. in belastenden Konfliktlagen. Sie arbeitet derzeit an ihrer Dissertation zum Thema „Widerstand als Kernkonflikt in Kinderschutzprozessen“ an der Universität Kassel. Sie ist langjähriges Vorstandsmitglied des Kronberger Kreises für Dialogische Qualitätsentwicklung e.V.
Nach dem Studium in Marburg, Berlin, Bonn, London und Paris ist Reinhart Wolff 40 Jahre als Hochschullehrer (Erziehungswissenschaft u. Soziologie) zuerst an der Freien Universität Berlin und dann an der Fachhochschule für Sozialarbeit u. Sozialpädagogik – später der Alice Salomon Hochschule Berlin – tätig gewesen. Dabei hat er neben seiner Praxis in Lehre und Forschung eine Reihe wichtigen Praxisprojekten begründet und bekannt gemacht: einen der ersten Kinderläden 1968 und dann 1976 das erste dt. Kinderschutz-Zentrum in Berlin und schließlich Ende der 1990er Jahre den Kronberger Kreis für Dialogische Qualitätsentwicklung.
Heute arbeitet er als Praxisforscher, Berater und Qualitätsentwickler, ist zugleich weiter als Lehrbeauftragter der ASH Berlin im Master-Studiengang „Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz“ engagiert, den er mitentwickelt hat.
Über „Kinderschutz in der Demokratie“
Gegenwärtig werden verstärkt tödliche Fälle von Kindesmisshandlung medial aufgegriffen und sensationsheischend aufbereitet. Hierbei kommt es oft zu Engführungen und Einseitigkeit. Im Handbuch setzen die Autor*innen neu an und fragen: Vor welchen Herausforderungen stehen wir aktuell in der Kinderschutzarbeit? Sie entfalten ein Konzept nachhaltiger demokratischer Kinderschutzarbeit auf Basis eines neuen Grundverständnisses und eines umfassenden Konzepts der Prozessgestaltung für eine solidarische Kooperation der beteiligten Akteur*innen.
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© Titelbild gestaltet mit canva.com | Foto Reinhard Wolff: privat