„Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns: Eine Einführung“ von Werner Helsper: Leseprobe

Ein Laptop auf einem vollgestellten Schreibtisch. Werner Helsper Leseprobe

Eine Leseprobe aus Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns: Eine Einführung von Werner Helsper, Kapitel „Einleitung“.

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1 Einleitung: Wann lässt sich berufliches Handeln als professionelles Handeln bezeichnen?

Professionell oder „Profi“ sind alltagsweltliche Begrifflichkeiten, mit denen vor allem gemeint ist, dass jemand etwas vortrefflich kann und sich darin von Laien oder Dilettanten unterscheidet, die das weniger gut können. In aller Regel wird das auch mit beruflichen Fähigkeiten verbunden, also etwa der Kompetenz eines gelernten Tischlers im Unterschied zum passionierten Heimwerker. Im alltagsweltlichen Verständnis von professionell wird damit also die Qualität oder Güte des Handelns gefasst, nicht aber die Struktur bzw. die Art und Weise des Handelns selbst. Genau darauf, also auf die Art der Tätigkeit, richten sich aber wissenschaftliche Bestimmungen von Profession und Professionalität. Es geht dabei darum, was professionelles und nicht-professionelles Handeln – das gleichermaßen gut oder schlecht ausfallen kann – im Kern unterscheidet und wann berufliches Handeln als professionelles Handeln zu bestimmen ist. Wenn wir uns also mit wissenschaftlichen Zugängen zum Begriff von Profession und Professionalität beschäftigen, müssen wir die alltagsweltliche Verwendung dieser Begriffe erst einmal einklammern.

Schauen wir uns exemplarisch einige berufliche Tätigkeiten an, deren Ergebnis – dies vereinfacht den Vergleich – durchweg als gelungen und positiv zu bewerten ist:

  1. Beim Friseur: Clara war mit dem letzten Haarschnitt nicht zufrieden. Sie bekommt bei einer Freundin den Tipp, es doch einmal beim Friseur Kemal zu versuchen, das seien da richtige Profis. Clara wird von Sophie im Haarsalon begrüßt, die sich detailliert nach ihren Wünschen erkundigt. Clara hat ein Foto dabei, an dem sie genau demonstrieren kann, wie sie die Haare geschnitten haben möchte und welche Länge an welcher Seite genau richtig wäre. Sophie hört genau zu, fragt einige Male nach und beginnt dann mit dem Schneiden. Dabei ist sie sehr vorsichtig und lässt die Haare beim ersten Schnitt eher etwas länger, denn sie kennt Clara ja noch nicht. Sie unterbricht das Haareschneiden ab und zu und fragt bei Clara nach, ob es noch kürzer werden solle oder ob es so passe. Es dauert dadurch zwar etwas länger und der nächste Termin ‚sitzt‘ schon und wartet, aber am Ende ist Clara sehr zufrieden. Genau so hat sie es sich vorgestellt. Sie bedankt sich bei Sophie, gibt ihr ein Trinkgeld und kann sich sehr gut vorstellen, wieder zu kommen.
  2. Ein Hausumbau: Die diplomierte Bauingenieurin Doro Fricke, die auch als Prüfstatikerin fungiert, bekommt den Auftrag zu berechnen, ob ein Durchbruch in der tragenden Außenmauer eines großen Mehrfamilienhauses im Kellergeschoss als Zufahrt zu der neu anzulegenden Tiefgarage möglich ist. Auf der Grundlage der Bauzeichnungen, der vorgenommenen Umbauten – das Haus ist ca. neunzig Jahre alt – der Dicke und der Beschaffenheit der Mauern, der Materialkennwerte sowie des Drucks durch die fünf darüber gelegenen Stockwerke kommt sie durch den Einsatz einer Formel für das Biegemoment einer Gleichlast am Einfeldträger zu dem Schluss, dass ab einer Durchbruchsbreite von 2,00 Metern eine zusätzliche Stützung durch eine Betonkonstruktion erforderlich ist, um die Statik des Hauses nicht zu gefährden. Bei der geplanten Durchbruchsbreite von 4,50 Metern ist die Errichtung von zwei Stahlbetonpfeilern von mindestens 22 cm Durchmesser und einer aufliegenden Stahlbetonstütze erforderlich, um die Statik des Hauses zu gewährleisten.
  3. Beim Tischler: Der Tischlermeister Holger Schulz hat den Auftrag, ein großes hölzernes Wandregal zu bauen, das genau in die beiden Schrägen des Zimmers eingepasst ist, die Türflügel überspannen und zu den Holzmöbeln der Einrichtung möglichst optimal passen soll. Nachdem er sich erkundigt hat, mit welcher Belastung zu rechnen ist, welche Tiefe das Regal aufweisen, ob es zur Wand hin geschlossen oder offen sein soll, wie eng er die Abstände der Regalbretter und Stützen planen und wie der Fuß und der obere Abschluss des Regals beschaffen sein soll, beginnt er mit der Vermessung. Dabei stellt er fest, dass die beiden Schrägen nicht die gleiche Neigung aufweisen, so dass er von unterschiedlichen Winkeln auf beiden Seiten ausgehen muss. Er fertigt computergestützt eine Zeichnung an, die das Regal im Maßstab 1 : 10 abbildet, erarbeitet einen Kostenvoranschlag mit zwei unterschiedlich teuren, aber zum hellen Holz des Raumes passenden Holzarten und bespricht dies mit den Auftraggebern. Nachdem der Auftrag bestätigt ist, wählt Meister Schulz die Erlenhölzer gezielt aus – die Auftraggeber haben sich gegen das Zedernholz entschieden – prüft es genau auf seine Beschaffenheit und Maserung und beginnt mit dem Zuschneiden, der Fräsung und Rundung der vorderen Regal- und Stützbrettseiten sowie mit der Behandlung des Holzes. Er entscheidet sich für die zwar aufwändigere, dafür aber elegantere verdeckte Montageinstallation und setzt Teile des Regals in seiner Werkstatt zur Probe zusammen. Die Installation des Regals, die er zusammen mit einem seiner Lehrlinge durchführt, dauert einen Tag. Mit einigen leichten Nachkorrekturen an den oberen Abschlussleisten passt alles genau zusammen und die Auftraggeber sind hoch zufrieden mit der präzisen und sehr formschön ausgeführten Tischlerarbeit. Sie werden Tischlermeister Schulz bei Freunden und Bekannten weiterempfehlen.
  4. Ein ärztlicher Hausbesuch: Die praktische Ärztin Dr. Sabine Schmitz wird zur achtzehnjährigen Patientin Carla gerufen, die über starke Kopf schmerzen und Schwindelgefühle klagt, nachdem sie die letzte Nacht lange auf einer Geburtstagsparty war. Frau Dr. Schmitz fragt nach, ob die Schmerzen direkt danach schon eingetreten seien, ob sie viel getrunken habe oder andere Substanzen zu sich genommen habe, ob zeitgleich auch die Schwindelgefühle eingesetzt hätten, ob Carla diese Symptome schon einmal vorher und wenn ja, wie oft gehabt hätte und ob sie noch andere Symptome habe, etwa auch Sehstörungen, was Carla verneint. Sie erkundigt sich detailliert nach der Art und der Lokalisierung der Kopfschmerzen, führt Routineuntersuchungen (Blutdruckmessung, Abhören mit dem Stethoskop) durch, ist sich aber bezüglich einer klaren Diagnose unsicher. Obwohl Frau Dr. Schmitz eher dazu neigt, das Ganze als Folge der Partynacht einzuschätzen und sie es für sehr unwahrscheinlich hält – ihr ist das in ihrer zwanzigjährigen Praxis noch nie begegnet – kann sie doch nicht zur Gänze ausschließen, dass es sich auch um eine Durchblutungsstörung des Gehirns handeln könnte. Sie veranlasst – obwohl die Achtzehnjährige eher abwehrt – die unverzügliche Überweisung in die Notaufnahme. Wie sich herausstellt, rettet das ihrer Patientin wohl das Leben, weil bei ihr das in diesem Alter sehr seltene Phänomen eines weitreichenden Verschlusses der Halsschlagader, also eine Carotisstenose aufgetreten ist.
  5. Eine IT-Beratung: Der im Serviceteam eines großen Internetanbieters beschäftigte IT-System-Elektroniker Sven Jörgenson berät Kunden sowohl bei der Installation von Netzwerken als auch bei der Behebung von Netzwerkstörungen. Er wird von einem großen Autohaus angerufen, dessen Netzwerk, inklusive des Internetzugangs weitgehend ausgefallen ist. Mit dem Systemadministrator vor Ort geht er nun langsam, Schritt für Schritt und unter Vermeidung der einschlägigen Insidersprache die Netzwerkkonfiguration durch, weil er aus langer Erfahrung weiß, dass die Systemadministratoren vor Ort häufig nur begrenzte Kenntnisse haben. Schließlich kann er einen Hardware-Fehler diagnostizieren. Da dieser aber zu gravierend ist, bedarf es einer Intervention vor Ort und es muss für etwa zwei Stunden das gesamte Netz stillgelegt, neu konfiguriert und neu gestartet werden. Da er an diesem Tag ausschließlich Telefonberatung macht, übermittelt er einem Kollegen die gesamte Fehlerdiagnose und bespricht sich kurz mit ihm. Auf dieser Grundlage gelingt es diesem, den Netzwerkfehler im Laufe der nächsten Stunden vor Ort zu beheben. In der alltagsweltlichen Bedeutung von Professionalität stoßen wir in diesen Beispielen durchgängig auf „Profis“, die ihr „Handwerk“ verstehen und professionelle Ergebnisse abliefern, vom formschönen und wunderbar passenden Regal, dem „sitzenden“ Haarschnitt bis hin zur Lebensrettung. Worin unterscheidet sich aber der Fokus des beruflichen Handelns in diesen Beispielen, also das, was sie konkret tun? Was lässt sich strukturell als professionelles und was als nicht professionelles Handeln bestimmen?

Beginnen wir mit dem Gegenstand der Tätigkeit, also worauf richtet sich das Handeln: Ein gravierender Unterschied ist, ob es sich um belebte, menschliche oder um unbelebte, also Sachen oder Gegenstände handelt, auf die sich die Tätigkeit im Kern richtet. So hat der Tischlermeister zwar im Vorfeld Kontakt zu seinen Kunden, mit denen er abklären muss, was sie genau wollen und wie sie sich das Regal vorstellen. Der Kern seiner Arbeit aber besteht in der geometrisch genauen Schneide-, Säge-, Fräs- und Montagearbeit mit den ausgewählten Hölzern, die er auf ihre Beschaffenheit prüfen muss. Etwas Ähnliches gilt auch für die Bauingenieurin, die zwar nicht unmittelbar mit den Mauern und dem Gebäude zu tun hat, die aber mathematisch und physikalisch korrekte Angaben zur Statik des Gebäudes abgeben muss, damit andere die faktische Bauarbeit, vergleichbar der Tischlerarbeit, leisten können. Die Tätigkeit der Bauingenieurin richtet sich also nicht direkt auf das Bauen, sie legt also nicht selbst Hand an, sondern sie stellt mathematisch exakt die Voraussetzungen her, damit die Bauarbeit und deren Ergebnis gelingen können. Auch im Fall des IT-System-Elektronikers geht es im Kern um Sachliches, auch wenn das Sachliche hier die Gestalt eines virtuellen Netzes annimmt. Er ist für dessen Funktionsfähigkeit und die Behebung von Störungen zuständig. Deutlicher aber als beim Tischlermeister oder bei der Bauingenieurin tritt hier zum zentralen Bezug auf die unbelebte Sache eine kommunikative Tätigkeit hinzu: Er berät andere, in der Regel weniger kompetente und Sachkundige dabei, die Störung mit Hilfe seines Wissens und seiner Unterstützung auch selbst beheben zu können und wenn dies scheitert, muss er an deren Stelle praktisch handeln. Als System-Elektroniker ist er also auf die Sache des Netzwerkes bezogen, als IT-Berater aber tritt eine vermittelnde und beratende kommunikative Tätigkeit der Unterstützung und Hilfe hinzu.

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3D Cover HelsperWerner Helsper:

Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns: Eine Einführung

Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns, Band 1

 

 

Der Autor: Werner Helsper

Prof. Dr. Werner Helsper, Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

 

Über das Buch

Wodurch unterscheidet sich professionelles Handeln von anderen beruflichen Handlungsformen und was ist die Besonderheit pädagogisch-professionellen Handelns? Werner Helspers Einführung gibt einen Überblick über historische, begriffliche und theoretische Bestimmungen zu Profession, Professionalität, Professionalisierung und Deprofessionalisierung. Anhand von Fallbeispielen wird pädagogisch-professionelles Handeln in verschiedenen Lebensaltern und Handlungsfeldern angesichts seiner Herausforderungen und neuer Entwicklungen bestimmt und diskutiert.

 

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