Welche Rolle hat Soziale Arbeit inmitten tiefgreifender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse? Eine Leseprobe aus Soziale Arbeit als Akteurin im Kontext gesellschaftlicher Transformation. Wissensbestände und Erkenntnisse aus Profession und Disziplin von Stefan Borrmann, Anne van Rießen und Claudia Steckelberg (Hrsg.).
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Soziale Arbeit als Akteurin im Kontext gesellschaftlicher Transformation – eine Einführung
Stefan Borrmann, Anne van Rießen und Claudia Steckelberg
Der vorliegende Sammelband „Soziale Arbeit als Akteurin im Kontext gesellschaftlicher Transformation“ beleuchtet die komplexe Rolle der Sozialen Arbeit inmitten tiefgreifender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Diese Prozesse erfordern von der Sozialen Arbeit nicht nur ein Verständnis dieser Veränderungen, sondern auch eine aktive Mitgestaltung, die den Normen, Werten und Prinzipien der Sozialen Arbeit wie soziale Gerechtigkeit, eine Orientierung an den Menschenrechten sowie der Achtung von Vielfalt und Diversität entspricht.
Soziale Arbeit nimmt einerseits für sich in Anspruch, gesellschaftliche Wandlungsprozesse aktiv mitzugestalten. Schon die Global Definition der IFSW (2015) formuliert diesen Anspruch deutlich: „Social work […] promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people.“ Andererseits ist sie aber auch von gesellschaftlichen Transformationsprozessen – wie wir sie gegenwärtig erleben – direkt betroffen: als Disziplin und Profession sowie in ihrer konkreten Arbeit in den jeweiligen Handlungsfeldern und mit ihren Adressat:innen. Profession und Disziplin Sozialer Arbeit stehen damit vor der Aufgabe, sich zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu positionieren, und sind zudem gefordert, die darin entstehenden (neuen) Probleme und Konflikte zusammen mit den Adressat:innen konkret zu bearbeiten.
Grundlegende Transformationsprozesse der Gegenwart verändern die sozialen Lebensbedingungen in ihren Fundamenten und erfordern von der Sozialen Arbeit als Profession und Disziplin strukturelle Antworten und Positionierungen. Soziale Arbeit muss sich nicht nur mit den wandelnden Bedingungen auseinandersetzen, sondern gleichzeitig methodisch und konzeptionell die damit einhergehenden Herausforderungen bearbeiten.
Jenseits geschichts- oder wissenschaftstheoretischer und philosophischer Reflexionen darüber, ob der soziale Fortschritt linear verläuft oder schwankend, hin zu einer immer besseren Welt oder doch eher risikobehaftet, kann festgehalten werden, dass Wandel immer mit Fort- und Rückschritten verbunden ist und niemals für alle Menschen dieser Welt synchron oder gleichförmig verläuft. Wir erleben auch gewaltförmige und zerstörerische Formen gesellschaftlicher Konfliktbearbeitung, die sich hin zu Kriegen und Abschottung entwickeln und reale Bedrohungen sind. Dabei ist eine Gleichzeitigkeit von tendenziell positiver globaler Entwicklung einerseits und Krisen, Kriegen, Hungersnöten und Diskriminierung andererseits zu konstatieren. Auch jenseits dieser globalen Tendenzen zeigen sich in den regionalen und lokalen Zusammenhängen weiterhin Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten bei gleichzeitigem Fortschritt in anderen Bereichen, z. B. der Anerkennung von Minderheitenrechten oder der Inklusion. Hinzu kommen globale Gefährdungen wie die Klimakrise, die Abnahme der Biodiversität und die irreversible Verschmutzung des Planeten sowie rasante Entwicklungen wie die Digitalisierung, die Verbreitung Künstlicher Intelligenz und des Maschinenlernens, globale Flucht- und Migrationsbewegungen, der demografische Wandel, die Gefährdungen ziviler Sicherheit sowie neue globale Blockbildungen und Kriege.
Prototypische Transformationsmodelle stellen dabei grundlegende theoretische Bezugsmodelle zur Verfügung, die den gesellschaftlichen Wandel als eine kollektive Verwandlung mit noch offenem Ergebnis betrachten, das im gesellschaftlichen Kräftespiel entschieden wird. Fest steht jedoch, dass Menschen in ihrem sozialen Verhalten einen wesentlichen Anteil daran tragen, in welche Richtung Transformationsprozesse verlaufen. Schon Norbert Elias (1996: 127) hat auf diesen Umstand hingewiesen, indem er betonte, dass Menschen selbst den Prozess von Veränderungen ausmachen (vgl. auch Hundeck/Rubin/Stadler in diesem Band).
Soziale Arbeit ist dazu aufgerufen, den aktuellen Wandel und dessen Triebkräfte und soziale Dynamiken wissenschaftlich zu untersuchen und die konkreten Wandlungsprozesse konzeptionell zu beschreiben, methodisch zu begleiten und mit den Akteur:innen zu gestalten. Dabei muss sie sich der Herausforderung stellen, Entwicklungen auf subjektiver Ebene, auf der Ebene von Gruppen und auf der Ebene von Gemeinwesen in Richtung Zusammenhalt, Empowerment und Befreiung, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, einer kollektiv getragenen Verantwortung und Achtung von Vielfalt und Diversität voranzutreiben und trotz vieler Entwicklungen hin zu Dystopien auch ihre utopischen Anteile nicht aus dem Blick verlieren.
Dieser Sammelband greift dabei zentrale Fragen auf, die die wissenschaftliche und praktische Auseinandersetzung mit Transformationsprozessen in der Sozialen Arbeit strukturieren, und gliedert sich in vier Teile.
1. Wissensbestände und Erkenntnisse zu Transformationsprozessen
Die erste zentrale Fragestellung des Sammelbands bezieht sich auf die Erfassung und das Verständnis von Transformationsprozessen. Welche Transformationsprozesse stellen uns gegenwärtig vor Herausforderungen? Wie können diese Prozesse methodisch gestaltet werden, um Wandlungsprozesse in ihrer Tiefe zu erkennen? Hierbei steht die Frage im Vordergrund, wie die Soziale Arbeit die Identifikation von sozialen Dynamiken und die systematische Erfassung von Veränderungen, die wiederum die Grundlage für gezielte Interventionen bilden, analytisch beschreiben kann. Zudem geht es um die Frage, wo die Grenzen der Einflussnahme auf globale Transformationsprozesse liegen. Diese Frage stellt die Soziale Arbeit vor ein Dilemma: Während sie als Akteurin in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen Verantwortung übernimmt, muss sie auch die Grenzen ihrer Einflussmöglichkeiten anerkennen. Insbesondere bei globalen Herausforderungen wie der Klimakrise oder internationalen Migrationsbewegungen steht die Soziale Arbeit vor der Frage, wie sie lokal und global wirksam agieren kann, ohne die Komplexität und Interdependenz dieser Prozesse zu vernachlässigen.
Miriam Burzlaff diskutiert in ihrem einleitenden Beitrag das professionelle Selbstverständnis der Sozialen Arbeit als Gestalterin gesellschaftlicher Transformationen und stellt empirische Ergebnisse einer umfassenden Studie zu Policy Practice in der Sozialen Arbeit dar. Dabei wird auch deutlich, dass gesellschaftlich verändernde Soziale Arbeit und die darin wirkenden Akteur:innen Fragen zur Rolle und Verantwortung der Sozialen Arbeit beantworten müssen.
Jutta Harrer-Amersdorffer, Matthias Laub, Juliane Sagebiel und Marcel Schmidt untersuchen die Auswirkungen globaler Transformationsprozesse auf das Theorie-Praxis-Verständnis in der Sozialen Arbeit, insbesondere in Hinblick auf transgenerative Praxen, und stellen dazu auch begriffliche Überlegungen in den Vordergrund. Sie betrachten Transformation dabei von mindestens drei Perspektiven: begrifflich, auf gesellschaftliches Veränderungspotenzial sowie fallbezogen.
Yvonne Rubin, Markus Hundeck und Wolfgang Stadel thematisieren mit Bezug u. a. auf Nancy Fraser und Norbert Elias passives und unsicheres Wissen und dessen mögliche Aktivierung. Sie arbeiten heraus, dass dieser Umgang eine zentrale Aufgabe der Sozialen Arbeit im Transformationsprozessen sein kann.
Im Weiteren beleuchten Katrin Liel, Markus Kühnel und Marius Otto das Phänomen der Einsamkeit in modernen Gesellschaften. Dabei zeigen sie die Rolle der Sozialen Arbeit auf, indem sie Einsamkeit im Kontext verschiedener Handlungsfelder und in Hinblick auf verschiedene Zielgruppen analysieren und abschließend drei Thesen als Denkanstöße für den Umgang mit diesem Phänomen formulieren.
Daran anschließend beleuchtet Martin Hunold in seinem Beitrag die sozialen Herausforderungen in Ostdeutschland seit 1989 und fordert eine machtsensible, kontextbezogene Soziale Arbeit im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD). Er argumentiert, dass die Transformation zu Brüchen und sozialen Konflikten geführt hat, die bis heute spürbar sind. Dabei stellt er heraus, dass eine „kräftefeldorientierte“ Analyse helfe, regionale und soziale Unterschiede sowie strukturelle Ungleichheiten zu verstehen, um Konflikte im ASD besser zu adressieren.
Barbara Thiessen untersucht die Transformation feministischer Schutzräume angesichts geschlechterpolitischer Debatten. Historische und aktuelle Entwicklungen werden analysiert, um die Herausforderungen feministischer Solidarität und Inklusion in Zeiten wachsender Diversität zu reflektieren.
Stefanie Lindner, Ralf Mahlich, Ina Schäfer, Heike Radvan und Christine Krüger betrachten die Rolle der Sozialen Arbeit, insbesondere der Jugendarbeit, im Kontext der Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen. Ausgehend von Analysen auf die Zeit der 1990er-Jahre zeigen sie auf, dass eine differenzierte Betrachtung regionaler Unterschiede in der Sozialen Arbeit, insbesondere im Kontext der oft postulierten Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, notwendig ist.
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