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Selbst organisiertes Lernen am Gymnasium: 6.2 Konzeption der eigenen Untersuchung
Diese Forschungslücken führen zur Konzeption der eigenen Untersuchung, die auf eine detaillierte Beschreibung und Erklärung von interindividuellen Unterschieden zwischen Schülern in ihrem Umgang mit der gesteigerten Autonomie beim selbst organisierten Lernen am Gymnasium durch die Berücksichtigung der subjektiven Sichtweisen und Vorstellungen der Lernenden abzielt. Dieses Forschungsinteresse lässt sich damit begründen, dass noch nicht ausreichend bekannt ist, welche persönlichen Eigenschaften und Vorstellungen der Lernenden – neben den bekannten kognitiven, metakognitiven und motivationalen Voraussetzungen – für Differenzen zwischen Schülern beim selbständigen Lernen am Gymnasium verantwortlich sind (s. Forschungslücke 1). Um diese Unterschiede zwischen den Schülern analysieren zu können, soll analog zum Vorgehen der im Forschungsstand in Kapitel 2.4.2 präsentierten Studien in dieser Untersuchung eine Typologie von Lernern erarbeitet und aufgrund ihrer charakteristischen Eigenschaften beschrieben werden.
Die Stichprobe für die Bildung dieser Typologie und die Untersuchung dieser Differenzen bilden aufgrund des geringen Forschungsstands auf der Sekundarstufe II Schüler der deutschsprachigen Gymnasien des Kantons Bern (s. Forschungslücke 2). Diese Schüler wurden zu ihrem selbständigen Lernen im Rahmen von SOL-Unterrichtseinheiten, die von Lehrpersonen im Rahmen des Berner SOL-Projekts entwickelt und im regulären Fachunterricht umgesetzt wurden, befragt. Dieser Befragungskontext erlaubt die Untersuchung der Wirkungen des selbst organisierten Lernens in einem natürlichen Unterrichtssetting, wodurch die ökologische Validität der Ergebnisse erhöht wird (s. Forschungslücke 3).
Um das Zusammenspiel von skill und will genauer untersuchen zu können, sind neben einer Erfassung der Nutzung kognitiver und metakognitiver Lernstrategien auch motivationale Variablen (Selbstwirksamkeit, Kausalattribution, motivationale Zielorientierung, motivationale Regulation) ein Hauptfokus der Untersuchung. Zur multi-methodalen Erfassung der Lernstrategienutzung werden dabei sowohl Fragebögen als auch Interviews eingesetzt. Die quantitativen und qualitativen Daten erlauben die Untersuchung sowohl des Wissens als auch der Anwendung von Lernstrategien beim selbständigen Lernen in konkreten Unterrichtssituationen im Fachunterricht und vermeiden eine reduktionistische Betrachtung einer mono-methodalen und dekontextualisierten Erfassung der Strategienutzung (s. Forschungslücke 4).
In der vorliegenden Studie wird davon ausgegangen, dass ein zentraler Schlüssel zur Erklärung der Differenzen zwischen den Schülern in der subjektiven Perspektive der Lernenden auf die Phänomene des Lehrens und Lernens liegt (s. Forschungslücke 5). Es wird angenommen, dass grundlegende persönliche Lernvorstellungen die Wahrnehmung und das Verhalten der Schüler beim selbst organisierten Lernen beeinflussen (s. Kap. 4). Die Untersuchung der vorliegenden Dissertation setzt damit an der Studie von Wolfensberger et al. (2017) an, da davon ausgegangen wird, dass «grundlegende Lernorientierungen» (Wolfensberger et al. 2017, S. 226), generelle Auffassungen von Lehren und Lernen sowie Vorstellungen und Rollenerwartungen in Bezug auf das Lehren und Lernen im gymnasialen Unterricht Bindeglieder sind, die das Zusammenspiel von Motivation und Kognition beim selbstständigen Lernen teilweise erklären können. Es wird davon ausgegangen, dass grundsätzliche Überzeugungen, was gutes Lernen «ausmacht» und wer welche Aufgaben beim schulischen Lehren und Lernen zu erfüllen hat, das Verhalten beim selbst organisierten Lernen entscheidend beeinflussen.
Zur Untersuchung dieser subjektiven Vorstellungen der Schüler dient ein qualitativer Ansatz anhand einer kleineren Stichprobe, der den Befragten erlaubt, ihre Sichtweise in Interviews in eigenen Worten zu formulieren. Diese qualitative Vertiefungsstudie nimmt Bezug auf eine quantitative Teilstudie, die Unterschiede zwischen den Schülern an einer grösseren Stichprobe aufzeigen kann. Diese triangulatorische Verknüpfung quantitativer und qualitativer Daten in einem Mixed-Methods-Design erlaubt es, verschiedene Perspektiven auf das Phänomen des selbst organisierten Lernens zu richten, um ein möglichst umfassendes Verständnis zu erhalten (s. Forschungslücke 5).
6.3 Forschungsfragen
Auf der Basis dieser konzeptionellen Überlegungen lassen sich nun die Forschungsfragen der eigenen Untersuchung formulieren. Teddlie und Tashakkori (2009, S. 129) postulieren, dass für Mixed-Methods-Studien mindestens zwei Forschungsfragen notwendig sind: eine für den qualitativen und eine für den quantitativen Teil. Insgesamt muss dabei klar begründet werden, weshalb sowohl ein quantitativer als auch ein qualitativer Teil benötigt wird, um diese Fragen zu beantworten. Dazu sind insbesondere Forschungsfragen geeignet, die miteinander verbundene quantitative und qualitative Aspekte kombinieren, z.B. Fragen nach dem Was und Wie bzw. Was und Warum eines Phänomens. In Bezug auf das Framing der Forschungsfragen einer Mixed-Methods-Studie wird empfohlen, eine übergreifende Frage zu formulieren, die die Teilfragen des quantitativen und qualitativen Teils umfasst (vgl. Teddlie und Tashakkori 2009, S. 133). Die übergreifende Forschungsfrage, die den Rahmen für diese hier skizzierte Untersuchung bildet, lautet:
Welche differenziellen Effekte zeigen Unterrichtseinheiten zur Förderung des selbst organisierten Lernens am Gymnasium auf die Wahrnehmung, die Motivation und das Verhalten von Schülern mit unterschiedlichen Voraussetzungen und wie lassen sich die interindividuellen Unterschiede erklären?
Der Kern der Frage ist dabei, welche persönlichen psychologischen Merkmale, Einstellungen und Vorstellungen dazu beitragen, dass die Schüler die «Autonomiezumutung» beim selbst organisierten Lernen am Gymnasium annehmen und sich auf diese Form des Lernens einlassen bzw. welche Voraussetzungen und Einstellungen der Lernenden dabei hinderlich sind. Es kann vermutet werden, dass die Wahrnehmung und die Wirkung des selbst organisierten Lernens auf die Schüler dann ideal sind, wenn das Lernsetting die grundlegenden psychologischen Bedürfnisse nach Autonomie, Kompetenzerleben und sozialem Eingebundensein erfüllt (s. Kap. 3.3.5) und wenn es zu den allgemeinen Vorstellungen von Lernen und Lehren der Schüler «anschlussfähig» bzw. kompatibel ist (s. Kap. 4.2.2). Kritisch ist es, wenn einerseits eine Befriedigung dieser Grundbedürfnisse ausbleibt, da sich Schüler überfordert, alleine gelassen oder von der Lehrperson kontrolliert fühlen, oder andererseits ein zu grosser Bruch zwischen den Vorstellungen der Schüler und der praktizierten Form des Lehrens und Lernens im SOL-Unterricht vorhanden ist. Mit der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, diese plausible, aber bisher empirisch kaum belegte Annahme für das selbst organisierte Lernen am Gymnasium in der Schweiz zu untersuchen. Diese Fragestellung wird sowohl in einem quantitativen wie auch in einem qualitativen Untersuchungsteil bearbeitet.
Die quantitative Studie der vorliegenden Untersuchung dient dazu, auf der Basis einer umfassenden Stichprobe Differenzen zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Schülern beim selbständigen Lernen zu identifizieren und zu beschreiben. Es wird dazu folgende Fragestellung untersucht:
1. Inwiefern unterscheiden sich selbstwirksame und weniger selbstwirksame Schüler in Bezug auf psychologische Voraussetzungen, die Wahrnehmung des Unterrichts und die Lernstrategienutzung beim selbst organisierten Lernen am Gymnasium?
Diese Fragestellung wird anhand folgender Detailfragen, die zur Strukturierung der Ergebnisse in Teil III dienen, bearbeitet:
- 1a. Welche Unterschiede bestehen zwischen Schülern verschiedener Lernertypen mit hoher bzw. geringer Selbstwirksamkeitsüberzeugung in Bezug auf die Wahrnehmung des SOL-Unterrichts? (s. Kap. 10.1)
- 1b. Wie unterscheiden sich diese Lernertypen hinsichtlich ihrer Lernmotivation und Anstrengung während des SOL-Unterrichts? (s. Kap. 10.2)
- 1c. Wie schätzen diese Lernertypen ihre schulischen Fähigkeiten ein, welche Leistungen erwarten und welche Noten erhalten sie? (s. Kap. 10.3)
- 1d. Welche grundlegenden Lernzugänge und psychologischen Lernvoraussetzungen weisen die Lernertypen auf? (s. Kap. 10.4)
- 1e. Welche Lernstrategien nutzen die Lernertypen im regulären Fachunterricht und im SOL-Unterricht? (s. Kap. 10.5)
- 1f. Wie entwickeln sich die Fähigkeitsselbsteinschätzungen der Lernertypen während des SOL-Unterrichts? (s. Kap. 10.6)
Die qualitative Studie baut gemäss der Logik einer Vertiefung auf diesen quantitativen Erkenntnissen auf und zielt anhand einer kleineren Stichprobe von Fällen jeden Lernertyps auf eine Erklärung der quantitativ vorgefundenen Differenzen zwischen den Schülern durch die Berücksichtigung der subjektiven Perspektive der Lernenden ab:
2. Wie begründen die Schüler ihre individuelle Wahrnehmung des SOLUnterrichts und ihren Umgang mit den Anforderungen des selbstorganisierten Lernens am Gymnasium?
Diese Fragestellung soll auf der Basis von Schülerinterviews anhand folgender Detailfragen bearbeitet werden:
- 2a. Welche Aspekte der SOL-Unterrichtseinheiten wurden von den Schülern positiv, welche negativ beurteilt? (s. Kap. 11.1.1)
- 2b. Welche Ursachen nennen die Schüler für ihre Motivation während der SOLUnterrichtseinheit? (s. Kap. 11.1.2)
- 2c. Wie verantwortlich fühlen sich die Schüler für den Erfolg des selbständigen Lernens? (s. Kap. 11.1.3)
- 2d. Wie erleben die Schüler die Kooperation mit Mitschülern und Lehrpersonen beim selbständigen Lernen? (s. Kap. 11.1.4)
- 2e. Wie gehen die Schüler mit auftretenden Schwierigkeiten beim selbständigen Lernen um? (s. Kap. 11.2.1)
- 2f. Wie erklären sich Schüler ihre Schwierigkeiten und Misserfolge beim selbst organisierten Lernen? (s. Kap. 11.2.2)
- 2g. Welche Lernstrategien wenden Schüler beim selbständigen Lernen an? (s. Kap. 11.2.3)
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Der Autor
Dr. Robert Hilbe, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Pädagogische Hochschule St. Gallen
Über „Selbst organisiertes Lernen am Gymnasium“
Selbständige Wissensaneignung und Lernorganisation sind Schlüsselqualifikationen der Informationsgesellschaft. Die Mixed-Methods-Studie untersucht interindividuelle Unterschiede bei Schülerinnen und Schülern im Umgang mit dem selbst organisierten Lernen am Gymnasium. Es werden vier Lernertypen identifiziert, die durch eine inhaltsanalytische Auswertung von Interviews und zwei Fallbeispiele genauer charakterisiert werden. Aus den Ergebnissen werden Empfehlungen für die Gestaltung selbst organisierter Lerneinheiten abgeleitet.
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