„Handbuch Radikalisierung im Jugendalter“: Leseprobe

Handbuch Radikalisierung im Jugendalter Verlag Barbara Budrich Leseprobe

Eine Leseprobe aus Handbuch Radikalisierung im Jugendalter. Phänomene, Herausforderungen, Prävention von Björn Milbradt, Anja Frank, Frank Greuel und Maruta Herding (Hrsg.), Beitrag „Die Rolle von Peergroups und Jugendkulturen in der Herausbildung von rechtsextremistischen Orientierungen“.

 

Über „Handbuch Radikalisierung im Jugendalter“

Prozesse der Radikalisierung hin zum gewaltorientierten Extremismus stellen eine der großen Herausforderungen für demokratische Gesellschaften dar. Das Buch versammelt Beiträge von Expert*innen der Forschung zu und Prävention von Radikalisierung im Jugendalter. Thematisiert werden die unterschiedlichen Phänomene Rechtsextremismus, islamistischer Extremismus und Linksextremismus mit besonderem Bezug auf jugendspezifische Aspekte. Der Sammelband bietet eine problemorientierte Aufbereitung des Forschungsstandes und eine Grundlage für die Praxis der Radikalisierungsprävention.

 

Die Rolle von Peergroups und Jugendkulturen in der Herausbildung von rechtsextremistischen Orientierungen

von Reiner Becker

S. 123 – 127

Wie entstehen politische Einstellungen? Welche Rolle spielt dabei die Gleichaltrigengruppe mit ihren spezifischen Jugendkulturen im Vergleich zu anderen Sozialisationsagenten? Und unter welchen erkenntnistheoretischen Prämissen werden heute Einstiege von Jugendlichen in die rechtsextreme Szene betrachtet? So lauten mögliche Fragen nach der Rolle von Peergroups und Jugendkulturen in der Herausbildung von rechtsextremistischen Orientierungen, wie der Titel dieses Beitrags nahelegt. Die wichtigste Erkenntnis sei vorangestellt: Die Rolle von Peergroups, rechten Jugendcliquen und Jugendkulturen scheint seit einigen Jahren kaum noch Gegenstand von Wissenschaft und Praxis zu sein, zumindest verglichen mit dem fachpädagogischen Diskurs der 2000er-Jahre.

Daher ist der folgende Text in zentralen Teilen ein retrospektiver; denn entgegen den derzeit dominierenden Prämissen der sogenannten Radikalisierungsforschung, welche Radikalisierung als einen konturierbaren Prozess darstellt „zur zunehmenden Infragestellung der Legimitation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft, die institutionelle Struktur dieser Ordnung zu bekämpfen“ (vgl. Gaspar u.a. 2019, S. 20), widmet sich dieser Beitrag der Frage nach der Entstehung von politischen Einstellungen. Zunächst werden grundlegende Bedingungen der (politischen) Sozialisation und die darin zu konturierende Bedeutung von Jugendkulturen im Allgemeinen und die Spezifika jugendkultureller Facetten des Rechtsextremismus im Besonderen betrachtet. Weiterhin werden die wichtigsten Erkenntnisse aus der Forschung zu rechtsextrem orientierten Jugendcliquen rekapituliert, um abschließend, statt eines Fazits, anhand von drei Thesen den Verlust der Wahrnehmung des Phänomens rechtsextrem orientierter Peergroups und einhergehender jugendkultureller Ausprägungen in Wissenschaft und pädagogischer Praxis zu diskutieren.

 

1 Zur Bedeutung der Peergroup in der politischen Sozialisation

Bevor näher die Rolle der Peergroup bei der Herausbildung von rechtsextremistischen Orientierungen untersucht wird, ist es notwendig, sich mithilfe des Konzepts der politischen Sozialisation der Frage zu widmen, wie politische Einstellungen im Allgemeinen und insbesondere unter Einfluss der Gleichaltrigengruppe entstehen.

 

1.1 (Politische) Sozialisation

Sozialisation ist ein „Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“ (Geulen/Hurrelmann 1980, S. 51). Hurrelmann entwickelt diese Definition weiter und konturiert Sozialisation als den Prozess, „in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die ‚innere Realität‘ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ‚äußere Realität‘ bilden“ (Hurrelmann 2006, S. 15f.). Grundmann umschreibt den Begriff „Sozialisation“ als allgemeinen „anthropologisch fundierte[-n] Sachverhalt der sozialen Gestaltung von verlässlichen Sozialbeziehungen und der intergenerationalen Tradierung sozialen Handlungswissen[-s]“ (Grundmann 2009, S. 61). Ohne nähere Darstellung der zahlreichen unterschiedlichen (historischen) Sozialisationstheorien lassen sich zusammengefasst vier zentrale Merkmale herausstellen (vgl. Becker 2008, S. 25):

Sozialisation ist erstens ein zeitlicher Prozess mit aufeinander folgenden (z.T. irreversiblen) Phasen; zweitens ist Sozialisation die Entwicklung von „Persönlichkeit“ über drittens die Verinnerlichung bzw. Internalisierung von gesellschaftlichen Werten, Normen und Rollen. Sozialisation ist schließlich viertens – mit Blick auf klassische Autoren, aus deren Theorien sich die unterschiedlichen weiteren Stränge entwickelt haben – die gesellschaftliche Integration durch Rollenkonformität mit dem Ziel der Systemerhaltung (Parsons 1972) oder die Interaktion und subjektive Interpretation der sozialen Umwelt (Mead 1978).

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Björn Milbradt, Anja Frank, Frank Greuel und Maruta Herding (Hrsg.)

Handbuch Radikalisierung im Jugendalter. Phänomene, Herausforderungen, Prävention

 

 

 

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