Eine Leseprobe aus Psychologie unterrichten. Fachdidaktische Grundlagen für Deutschland, Österreich und die Schweiz von Paul Georg Geiß und Maria Tulis (Hrsg.), Kapitel „1 Entwicklungslinien der Fachdidaktik Psychologie“.
Über „Psychologie unterrichten“
Der Band bietet eine erste Bestandsaufnahme der deutschsprachigen Fachdidaktik Psychologie, bezieht die wichtigsten Psychologiedidaktikansätze auf den psychologischen Bildungsbegriff und zeigt die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten für das beliebte Unterrichtsfach auf. Darüber hinaus gehen die Autor*innen auf die Vielfalt des Psychologieunterrichts in Deutschland, Österreich und der Schweiz ein.
Leseprobe: S. 26-31
1 Entwicklungslinien der Fachdidaktik Psychologie
von Gislinde Bovet
1 Die Anfänge
1.1 Einführungskurse an Hochschulen
„Hier (im Sekundarbereich, Anm. v. Verf.) erlebt die Psychologie in den USA zur Zeit so etwas wie einen zweiten Frühling; Psychologiekurse sind, ähnlich wie am Studienbeginn, Veranstaltungsschlager. In der Hand engagierter Psychologie-Lehrer erfährt diese Psychologie eine gründliche und originelle didaktische Aufbereitung. Dem Hochschulunterricht erwächst auf Sekundarniveau ernsthafte Konkurrenz! Auch in der BRD erfreut sich der Unterricht in Psychologie an der Sekundarstufe II zunehmender Beliebtheit; in allen Bundesländern sitzen Curriculumskommissionen bei der Abfassung von Rahmenrichtlinien für Psychologie. Ungeachtet aller ministeriellen Abwehrversuche wird sich in wenigen Jahren u. E. Psychologie zu einem der begehrtesten Schulfächer entwickelt haben. Deshalb sollte man jetzt schon daran gehen, Psychologie-Lehrer auszubilden.“ (Schick, 1977, S. 201)
Das Buch (Laucken & Schick, 1977), dem dieses Zitat entnommen ist, war eines der ersten deutschsprachigen zur Psychologiedidaktik. Es enthält Beiträge amerikanischer und deutscher Hochschullehrer/innen zur Gestaltung psychologischer Einführungskurse für Studierende, welche die Psychologie kennenlernen wollen, ohne sich damit auf ein Psychologiestudium festzulegen. Sollen die Kurse einen orientierenden Überblick über die Teildisziplinen der Psychologie geben oder sich besser auf ein Gebiet konzentrieren, vielleicht nur auf ein Thema, das dafür umso gründlicher und exemplarisch bearbeitet wird? Soll die Wissenschaft oder die praktische Anwendung von Psychologie im Mittelpunkt stehen? Wie sollen die Kurse organisiert werden – als Klassenunterricht, Praktikum, Projekt oder selbstgesteuertes individuelles Lernen? Welches Wissen bietet die Psychologie für die Lehre von Psychologie? Das Buch präsentiert viele organisatorische und inhaltliche Möglichkeiten zur Gestaltung von Einführungskursen und überrascht mit Ideen, auf die man – fixiert auf die eigenen Rahmenbedingungen und Gepflogenheiten – selbst wohl nicht gekommen wäre. Schon die Titel mancher Beiträge klingen abenteuerlich: „Die Handhabung der Kontingenzen in einem Psychologieeinführungskurs für tausend Studenten“, „Identifikation und Kritik von Ideen: Ein neues Verfahren für den Einführungskurs in Psychologie“, „‚Wirkliches Selbst‘ als nützliches Thema für Psychologiekurse im ersten Jahr“. Das sind keine Kurse, die eine einfache Übernahme nahelegen, aber im Zusammentreffen mit dem Fremden kann man eigene Positionen besser erkennen und überdenken. Und die Überlegungen zur Gestaltung von Anfänger/innenkursen, die diskutiert werden, sind heute noch aktuell.
1.2 Psychologieunterricht an allgemeinbildenden Gymnasien
Als Schick seine Bemerkungen zum Psychologieunterricht formulierte, steckte dieser in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Zwischen 1972 und 1978 wurde aufgrund eines Beschlusses der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) die gymnasiale Oberstufe bundesweit vom Klassen- auf das Kurssystem umgestellt und Psychologie wurde – neben anderen Fächern wie Philosophie, Pädagogik, Astronomie, Informatik, Wirtschaft – als mögliches Wahlfach in den Fächerkanon der Oberstufe aufgenommen. Seither können allgemeinbildende Gymnasien diese Fächer anbieten, wenn Interesse daran besteht und genügend Lehrkräfte zur Verfügung stehen, und Schüler/innen können das Fach wählen.
Gegenwärtig (2019) gibt es Psychologie als gymnasiales Unterrichtsfach in acht deutschen Bundesländern, wobei Umfang und Abiturfähigkeit des Faches sehr verschieden geregelt sind. In Baden-Württemberg wird Psychologie einjährig zweistündig unterrichtet, die erreichte Punktzahl wird in die Abiturzulassung eingerechnet, aber Psychologie kann nicht als Abiturprüfungsfach gewählt werden. In Nordrhein-Westfalen wird Psychologie zweijährig als Grundund Leistungskurs (3- und 5-stündig) unterrichtet und kann mündliches oder schriftliches Abiturprüfungsfach sein. Die „Light“-Variante in Baden-Württemberg hat dazu geführt, dass dort gut drei Viertel aller allgemeinbildenden Gymnasien Psychologieunterricht anbieten, während es in Nordrhein-Westfalen mit der umfangreicheren Variante nicht einmal 10 % sind.
Es gibt derzeit keine Absichten, das Fach durch Verpflichtung, mehr Wochenstunden oder eine breitere Abituranerkennung zu stärken, obwohl – wie von Schick vorhergesagt – der Psychologieunterricht sich großer Beliebtheit erfreut. Schulen, die Psychologie anbieten, haben volle Kurse und richten manchmal mehrere Parallelkurse ein. Es fehlt jedoch an Lehrkräften, die für das Fach ausgebildet sind, bzw. an Universitäten, die eine Ausbildung für das Lehramt in Psychologie anbieten. Dieser Lehrkräftemangel ist zu einer Bedrohung des Faches geworden, vor allem in Ländern wie Nordrhein-Westfalen, in denen Psychologie umfangreich und mit Abiturzulassung unterrichtet wird. Die Rekrutierung von Psychologielehrkräften, die Schick ja anmahnt, war von Anfang an ein Problem. Viele Psychologielehrkräfte haben ihre Lehrberechtigung für das Fach über Weiterbildungen an Oberschulämtern und Studienseminaren erworben. Sie lehren Psychologie als freiwilliges Drittfach neben ihren zwei Fächern, in denen sie voll ausgebildet wurden. Lediglich in Nordrhein-Westfalen kann man Psychologie als regelrechtes Schulfach an der Universität studieren (früher in Duisburg, heute in Dortmund) und anschließend eine psychologiedidaktische Ausbildung an einem Seminar durchlaufen. In Bayern übernehmen Schulpsycholog/innen, die zugleich Lehrkräfte sind, den Psychologieunterricht. Psycholog/innen ohne Lehramtsstudium und Referendariat ist der Zugang zum Lehramt in öffentlichen Schulen verwehrt. Ausnahmen davon machen manchmal berufliche Schulen, die auf Quereinsteiger/innen zurückgreifen müssen, um ihren Bedarf an obligatorischem Psychologieunterricht zu decken (zur Situation des Psychologieunterrichts in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich siehe auch die Einleitung in diesem Band sowie Geiß, 2016).
1.3 Wissenschaftspropädeutik und Persönlichkeitsentwicklung
Wie alle Oberstufenfächer unterstand das Fach Psychologie von Beginn an den von der Konferenz der Kultusminister (KMK) vorgegebenen Leitzielen „Wissenschaftspropädeutische Bildung“ und „Persönlichkeitsentwicklung“, wobei das zweite Ziel wörtlich lautete: „Erziehung zur Persönlichkeitsentwicklung und -stärkung; zur Gestaltung des eigenen Lebens in sozialer Verantwortung sowie zur Mitwirkung in der demokratischen Gesellschaft“ (KMK, 1972, Pkt. 2.2). „Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung“ war die Nordrhein-Westfalen-Formulierung; es war aber auch von „Mündigkeit, persönlicher Reife, Persönlichkeitsbildung“ die Rede. Oft wurde dieses Ziel auch mit „Lebenshilfe“ oder „Hilfe zur Lebensbewältigung“ umschrieben. Hinter den vorgegebenen Leitzielen stand Klafkis kategorialer Bildungsbegriff, der sinngemäß sagt: Bildung heißt, dem Menschen die Welt zu erschließen und ihn für die Welt zu erschließen. Von Hentig hat später daraus die schöne Formulierung „Die Menschen stärken, die Sachen klären“ gemacht (von Hentig, 1985). Bezogen auf die Psychologie verstanden wir1 wissenschaftspropädeutische Bildung als Einführung in die wissenschaftliche Psychologie, ihre Geschichte, Systematik, grundlegenden Inhalte und Methoden der Erkenntnisgewinnung. Die Schüler/innen sollten eine richtige Vorstellung von der Psychologie als empirischer Wissenschaft entwickeln und kritisch werden in Bezug auf die Gültigkeit psychologischer Aussagen. Keinesfalls wollten wir „Abbilddidaktik“ betreiben, die ohne Rücksicht auf die Belange der Lernenden im Kleinformat zusammenfasst, was die universitäre Wissenschaft alles bietet.
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1 Ich war Psychologielehrerin „der ersten Stunde“ (1972) in Nordrhein-Westfalen und Mitglied in der dortigen Lehrplankommission. Ab 1980 arbeitete ich als Psychologielehrerin in Baden-Württemberg und war dort auch Lehrplankommissionsmitglied. Wenn im Folgenden von „wir“ die Rede ist, greife ich auf Erfahrungen in diesen Lehrplankommissionen zurück.
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© Unsplash 2023 / Foto: Dom Fou