Erprobte Wege zu einem verantwortungsvollen und verstehenden Umgang mit schulischen Konflikten: Leseprobe aus Praxis Klassenrat. Konflikte verstehen und Persönlichkeiten stärken. Unter Mitarbeit von Barbara Wenders von Reinhard Stähling.
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Praxis Klassenrat: Einleitung
1.1. Zum Thema und zu unserer Schule: Probleme im verstehenden Klassenrat lösen
In der Schule Probleme zu lösen, wird bei uns Lehrer*innen häufiger als eine „Herausforderung“ bezeichnet. Zuweilen fühlen wir uns damit überfordert, und wir wünschen uns, dass es „lästige“ Probleme mit Eltern, Kindern und Kollegen nicht gäbe. Eines von vielen Beispielen, das uns zugetragen wurde, verdeutlicht, wie schulische Vorfälle eskalieren können.
Beispiel 1:
Leon geht nicht mehr gerne in seine 6. Klasse. Sein Seufzer kommt aus tiefster Seele: „Nein, auf die Schule freue ich mich überhaupt nicht.“ Er erzählt, dass „sie“ sich auf seiner Schule immer prügeln würden. Auf dem Schulhof und sogar beim Fußball während des Sportunterrichts. Seine Eltern kommentieren, die Lehrer wären überfordert: „Sie machen zwar mal so etwas wie einen Klassenrat, mit allen im Kreis, aber das nützt nichts. Da sind dann die Kinder unauffällig, aber danach geht es auf dem Schulhof weiter. Es gibt einen Jungen, der Kinder an Bäume fesselt. Wenn andere Kinder sich über ihn beschweren, sagen die Lehrer, Hand geben und vertragen. Jetzt geht dieser Junge mit ‚Bodyguards‘ über den Schulhof.“
Leons Eltern fühlen sich allein gelassen. Leon ist unglücklich und wir als Lehrpersonen, kennen auch keine rasche Lösung. Wenn wir nicht weiterwissen, neigen wir mitunter zu Antworten, die wir eigentlich ablehnen. Es rutscht uns im Lehrerzimmer die Bemerkung raus „Der gehört hier nicht hin!“ Und dabei wissen wir doch: Wenn die Schule Halt gibt und niemanden „rauswirft“, entsteht Vertrauen. Das könnte eine Basis für Konfliktlösungen sein.
Wir haben einen Weg gefunden, ruhig zu bleiben und uns nicht in Probleme hineinzusteigern: Wir versuchen, Kinder und Jugendliche zu verstehen, und zwar gemeinsam im Gruppengespräch im ganzen Klassenverband. Die Schüler* innen bringen ihre Probleme ein und wir wollen zunächst nichts anderes, als sie verstehen. Wir nennen es Klassenrat. Der Individualpsychologe Rudolf Dreikurs und sein Team definieren dies als
„ein Treffen, bei dem die Gruppe über Themen spricht und Entscheidungen trifft, die das Miteinanderleben in der Klasse betreffen. Sie spricht über Handlungen und Gefühle der Gruppenmitglieder, sucht nach Möglichkeiten, das Verhalten eines Kindes ändern zu helfen oder ihm den Umgang mit seinen Gefühlen zu erleichtern. Sie ermutigt Gruppenmitglieder, die sich in einem Veränderungsprozeß befinden“ (Dreikurs et al. 1987, S. 142f.).
Klassenrat als ein Kreis, in dem wir uns gegenseitig verstehen lernen? Das ist in der neueren Literatur über Klassenrat ungewöhnlich. Dort verbindet man ihn meist mit „Aushandeln“, „Abstimmung“ und „Mitbestimmung“ im Rahmen von Demokratielernen (vgl. Gras 2025), aber nicht mit „lästigen“ Problemen. Das Verstehen und Lösen von Problemen mit Hilfe der Gruppe hat jedoch eine wertvolle Tradition in der Pädagogik, die wir in unserer Schule pflegen. Wie wir diesen verstehenden Klassenrat gelernt haben und wie es bei uns funktioniert, möchte ich in diesem Buch schildern.
In der Grundschule Berg Fidel einigten wir uns mit den Eltern schon in den 1990er-Jahren (siehe Kap. 4): Wir schauen bei Problemen nicht weg. In jeder Klasse gibt es wöchentlich eine Stunde Klassenrat, um über Streit, Probleme und Gefühle zu sprechen und einander verstehen zu lernen. Seit 2014 haben wir die Grundschule bis zum 10. Schuljahr erweitert. Die Kinder und Jugendlichen in dieser PRIMUS-Schule Berg Fidel-Geist (PRIMar-Und Sekundar- Schule der Jahrgänge 1-10) stammen aus 50 Nationen und kommen überwiegend aus Armut und benachteiligten Lebenslagen. Wenn wir als Schule uns nicht um Probleme der Menschen vor Ort kümmern würden, wäre das Zusammenleben und Lernen für alle nicht so einfach. In unseren Klassen gibt es Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, verschiedensten Lernproblemen und Behinderungen aller Art. Bei 20 bis 40 % unserer Kinder hat das Amt nach Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf entsprechende Förderung verfügten. Ca. 70 % sind Migranten. Mehr als die Hälfe aller Kinder gehören dem Islam an. Wir hören, das sei ja keine „gute Mischung“ mehr, und ich widerspreche. Dann kommt die Frage, wie das denn die Kolleg*innen schaffen könnten. Vielleicht können Leserinnen und Leser nach der Lektüre dieses Buches nachvollziehen, wieso wir bei unserer Arbeit nicht den Mut verlieren, sondern aus den Beziehungen zu Kindern und Familien Kräfte gewinnen.
Unter schwierigen Bedingungen sind die Kräfte gewachsen, auch wenn wir zuweilen verzweifelten. Vielleicht ist entscheidend, dass wir Kolleg*innen, aber auch Eltern und Schüler*innen, mit ihren Schwierigkeiten nicht allein lassen. Das ist ein ständiger Prozess. Wir alle lernen, Kinder zu verstehen, mit ihnen gemeinsam die Probleme zu formulieren und zu lösen. Das betrifft die gesamte Palette an Schwierigkeiten, die oft mit bitteren Lebenslagen zusammenhängen: Verspätungen, Regelverstöße, Ausgrenzungen, Mobbing, Rassismus, sprachliche Verständigungsprobleme, unkontrollierbares Verhalten einzelner, Schlägereien, seelische und physische Verletzungen, Demütigungen, Beleidigungen, Erpressungen, seelische Gewalt von Lehrkräften gegen Schüler* innen, Kindeswohlgefährdungen, Beschuldigungen von Eltern gegen Mitschüler* innen, Behinderung des Lernens und vieles mehr. In einigen Fällen intervenieren wir Erwachsenen schnell, aber auch dann besprechen wir das Problem im Klassenrat, an dem die gesamte Klasse teilnimmt.
Die Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN 1999) über eine „Kultur des Friedens“ betont in Art. 3d), dass die Entfaltung einer Kultur des Friedens „untrennbar verknüpft“ ist mit „der Befähigung von Menschen auf allen Ebenen, Fähigkeiten auf dem Gebiet des Dialogs, der Verhandlung, der Konsensbildung und der friedlichen Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zu entwickeln“ (UN 1999). Die UN fordert die Länder in einem Aktionsprogramm daher auf, wichtigste konkrete pädagogischen Schritte zu machen, darunter auch, (a) die „Bildung für alle“ zu fördern, sowie dafür zu sorgen, dass (b) „Kinder schon von klein auf eine Unterweisung in den Wertvorstellungen, Einstellungen, Verhaltens- und Lebensweisen erhalten, die es ihnen gestatten, jeden Streit auf friedlichem Weg und im Geist der Achtung der Menschenwürde beizulegen“ (UN 1999, Aktionsprogramm B.9). Dieser völkerrechtlich bedeutende Auftrag an alle Schulen der Welt, den Kindern beizubringen, „jeden Streit […] beizulegen“, kann nur bedeuten, dass wir aufgefordert sind, in jeder Klasse jeder Schule den Klassenrat einzuführen. Berlin und Thüringen haben den Klassenrat bereits in ihre Schulgesetze aufgenommen.
Mit dem wöchentlichen Klassenrat streben wir zugleich das Ziel an, die Lernzeit der Schüler*innen zu effektivieren und störende Einflüsse zu reduzieren. Der Klassenrat ist nicht nur eine Problemlösemethode, sondern ein Teil des gemeinsamen Lernprozesses in der Klasse, aus der niemand ausgeschlossen wird. Das Lösen von sozialen Problemen und die Schaffung von effektiven Lernzeiten stehen im Wechselverhältnis zueinander. In unserem zusätzlichen Lernklassenrat wird darüber gesprochen, wie jede und jeder für sich Probleme mit dem Lernen lösen kann und wie die ganze Klasse dazu beiträgt. Dort geht es z.B. darum, sich sinnvolle Zeiten für individuelle Arbeitspausen zu nehmen. Einen Lernklassenrat machen wir meist nach der täglichen zweistündigen freien Arbeitsphase. So ist das selbstständige Lernen ein gemeinsames Lernen. Im Lernklassenrat beraten wir auch darüber, wie wir die Lernbedingungen in unserer Klasse und in der Schule verbessern können (siehe Stähling/Wenders 2021, S. 114-116).
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Reinhard Stähling:
Dr. Reinhard Stähling war seit 1982 40 Jahre Lehrer im Schuldienst. Er hat eine Zusatzausbildung zum Individualpsychologischen Berater. Seit 1992 arbeitete er in der Grundschule im sozialen Brennpunkt Berg Fidel in Münster als Klassenlehrer und stellvertretender Schulleiter. Berufsbegleitend promovierte er mit einer psychologischen Arbeit über „Beanspruchungen in Lehrerberuf“ (1998). 2002 wurde er Schulleiter dieser Schule im sozialen Brennpunkt. 2014 erweiterte sich die Grundschule zur Primus-Schule Berg Fidel – Geist (Jahrgänge 1-10), deren Schulleiter er bis zur Pensionierung 2022 war.