Mit dem Klassenrat Kinder ganzheitlich stärken

Leseprobe Stähling Praxis Klassenrat

Den Klassenraum mithilfe des Problemklassenrats in einen Raum der persönlichen Entwicklung verwandeln: Interview mit Reinhard Stähling zu seinem neuen Buch Praxis Klassenrat. Konflikte verstehen und Persönlichkeiten stärken. Unter Mitarbeit von Barbara Wenders.

 

Interview zu „Praxis Klassenrat“

 

Lieber Reinhard Stähling, worum geht es in Praxis Klassenrat?

In diesem dünnen Buch berichte ich davon, wie Kinder und Jugendliche mit der gesamten Schulklasse zusammen Streit oder andere Probleme beheben. Ich selbst habe bereits als junger Lehrer mit meinen Schulklassen einmal in der Woche eine Problembesprechung gemacht, die wir Klassenrat nannten. In 40 Jahren habe ich nun mehr als 2000 Stunden mit Kindern solche Gespräch im Klassenrat geführt. An Beispielen erzählen meine Kollegin Barbara Wenders und ich in dem Buch, wie dies funktioniert.

All das wird kurz und verständlich dargestellt. Das Buch leitet Lehrer*innen praxisorientiert zum Klassenrat an und kann so entlasten. Es zeigt erfolgreiche Wege zu einem verantwortungsvollen, effektiven und verstehenden Umgang mit schulischen Konflikten.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

In Gesprächen mit Annedore Prengel, einer der Herausgeberinnen der Reihe Pädagogische Einsichten: Praxis und Wissenschaft im Dialog, ging es immer wieder darum, wie Lehrkräfte lernen können, Kinder ernst zu nehmen und ihre Gefühle und Motive nachzuempfinden.

Für uns ist es selbstverständlich, dass Handlungen von Kindern einen Sinn machen. Im Klassenrat können wir gemeinsam mit der Klasse lernen, was sich z.B. hinter einem sogenannten Fehlverhalten verbirgt. Annedore Prengel hat dazu ermutigt, unsere Praxiserfahrungen aufzuschreiben.

 

Praxis Klassenrat basiert auf der Methode des Problemklassenrats. Bitte erläutern Sie uns diese Methode näher.

Um z.B. bei gewaltsamen Konflikten in der Schule friedliche Lösungen zu finden, ist es notwendig, mit der gesamten Klasse gemeinsam die jeweils andere Seite zu verstehen. Um Streit zu beheben oder andere Probleme zu klären, machen wir Klassenrat.

Wir sitzen im Sitzkreis, keiner wird ausgeschossen. Auch Kinder mit Behinderungen, z.B. solche, die nicht verständlich sprechen können, nehmen aktiv und interessiert teil.

Forschungen zeigen, dass etlichen Lehrkräften ein solcher verstehender Problemklassenrat mit allen Kindern der Klasse nicht leichtfällt. Manche machen daraus ein Tribunal zur Verurteilung oder lassen per Mehrheitsbeschluss entscheiden, ob ein Problem überhaupt mit allen besprochen wird.

Oft sind Probleme so komplex, dass wir ohne Elterngespräche nicht weiterkommen. Auch die enge Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen ist bedeutsam. Unsere verstehende Haltung im Klassenrat hat eine lange Tradition und lässt sich zurückführen auf Alfred Adlers Individualpsychologie. Auch Paulo Freires „problemformulierende Bildungsarbeit“ bietet einen spannenden Hintergrund.

 

Würden Sie uns ein Beispiel aus der Praxis geben, wie mithilfe des Problemklassenrats ein Konflikt innerhalb der Klasse gelöst werden konnte?

Viele Problem sind sehr komplex. Grundsätzlich wissen wir, dass Missverständnisse und Irrtümer zu größeren Konflikten führen können. Wir vermeiden sie, wenn wir Zeit haben, die jeweiligen Konfliktpartner zu verstehen.

Ein sehr einfaches Beispiel aus dem Buch soll hier eine Ahnung davon geben, wie ein Problem im Klassenrat gelöst wird:

Piet trägt sein Problem vor: „Maxim hat gesagt, ich seh‘ aus wie ein Mädchen, nur weil ich lange Haare habe.“

Maxim sagt: „Das habe ich nicht gesagt. Nein, wir wollten einen Film drehen. Und da brauchten wir ein Mädchen, da habe ich gesagt, das könnte Piet sein mit seinen langen Haaren. Nicht, dass er aussieht wie ein Mädchen.“

Levi sagt, dass Maxim Recht hat und es nicht so gemeint hat, wie Piet es verstanden hat.

Frieda ergänzt, viele Jungen hätten lange Haare und sehen deshalb nicht aus wie Mädchen. Außerdem sei das doch keine Beleidigung.

Die Lehrerin fragt Piet, ob er das verstehen könne. Piet schaut nicht überzeugt. Daraufhin fragt die Lehrerin, was Piet sich von Maxim wünsche.

Piet sagt: „Maxim soll nicht sagen, dass ich aussehe wie ein Mädchen.“

Lehrerin zu Maxim: „Könntest du den Wunsch erfüllen?“

Maxim: „Ok, aber es war ein Missverständnis. Es tut mir leid. Du siehst nicht aus wie ein Mädchen.“

 

Darum bin ich Autor bei Budrich

Mir gefiel die Idee der Reihenherausgeberinnen, in einem verständlich geschriebenen kleinen Buch Praxis mit Theorie zu verbinden und dies zu erschwinglichen Preisen herauszubringen. Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern, aber auch Forschenden nahezubringen, wie wir in der Praxis gemeinsam mit Kindern im Klassenverband lernen, andere Kinder zu verstehen, ist es wert, weit verbreitet zu werden.

 

Reinhard Stähling 2025Dr. Reinhard Stähling war seit 1982 40 Jahre Lehrer im Schuldienst. Er hat eine Zusatzausbildung zum Individualpsychologischen Berater. Seit 1992 arbeitete er in der Grundschule im sozialen Brennpunkt Berg Fidel in Münster als Klassenlehrer und stellvertretender Schulleiter. Berufsbegleitend promovierte er mit einer psychologischen Arbeit über „Beanspruchungen in Lehrerberuf“ (1998). 2002 wurde er Schulleiter dieser Schule im sozialen Brennpunkt. 2014 erweiterte sich die Grundschule zur Primus-Schule Berg Fidel – Geist (Jahrgänge 1-10), deren Schulleiter er bis zur Pensionierung 2022 war.

Zusammen mit seiner Kollegin Barbara Wenders verfasste er viele Bücher auf der Basis gemeinsamer Unterrichtserfahrungen (www.reinhard-staehling.de). Praxis wird darin reflektiert und mit Theorie verknüpft. Die Buchtitel wie „Du gehörst zu uns“ (2006), „Ungehorsam im Schuldienst“ (2009), „Teambuch Inklusion“ (2018) oder „Worin unsere Stärke besteht“ (2021) regen Diskussionen in Fachkreisen an. Auf Kongressen, in Vorträgen oder bei Hospitationen werden seit 20 Jahren die Fragen aus der schulischen Praxis der Inklusion bearbeitet.

Das vorliegende Buch ist unter Mitarbeit von Barbara Wenders entstanden, die von 1999 bis 2018 als Klassenlehrerin und Sonderpädagogin an derselben Schule wirkte.

 

Über „Praxis Klassenrat“

Stellen Sie sich vor, Kinder lösen Konflikte und entfalten ihr volles Potenzial – und das schon im Klassenrat! Das Buch zeigt, wie Kinder existenzielle Themen bearbeiten, Peer-Konflikte meistern und sich zu selbstbewussten Persönlichkeiten entwickeln. Basierend auf der innovativen Methode des Problemklassenrats der Schule Berg Fidel – Geist in Münster, verbindet es praxisnahe Anleitungen mit wissenschaftlichen und historischen Einblicken. Es beleuchtet, wie fundierte Methoden den Klassenraum in einen Raum der persönlichen Entwicklung verwandeln. Mit diesem Ansatz eröffnet sich ein Schulalltag, der Kinder ganzheitlich stärkt und das Gemeinschaftsgefühl nachhaltig fördert.

 

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© Foto Reinhard Stähling: privat | Titelbild gestaltet mit canva.com