Nachhaltigkeitsbildende Erlebnispädagogik in Theorie und praktischer Umsetzung – Ein Gastbeitrag von Yannick Liedholz.
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Unterwegs in abgelegener Natur, weit weg von der Zivilisation, so werden erlebnispädagogische Angebote oft inszeniert. Damit wird zugleich die Assoziation geweckt, dass die Erlebnispädagogik eigentlich Nachhaltigkeitsbildung per se ist. Wie kaum eine andere pädagogische Disziplin ermöglicht sie einen kurzzeitigen Ausstieg aus „der Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn 2020: 133).
Theoriedefizite in der Erlebnispädagogik
Blickt man auf den erlebnispädagogischen Diskurs, dann lassen sich manche Bezüge zu Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitsbildung finden (z.B. Fischer/Ziegenspeck 2008: 281; Schlehufer/Kreuzinger 2010; Reiners 2013: 13; Preuschen 2018; Kamer 2021; Merz 2021). Gleichzeitig fällt auf, dass sich die Erlebnispädagogik überwiegend auf veraltete Bildungskonzepte wie das ökologische Lernen und die ökologische Bildung (z.B. Breß 1994; Muff 2001) stützt, die von einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung seit Ende der 1990er-Jahre abgelöst wurden. Auch bewegen sich die Beiträge meist nur an der Oberfläche und steigen nicht tiefer in den Nachhaltigkeitsdiskurs ein.
Korrespondierend dazu lässt sich feststellen, dass die Erlebnispädagogik ihr eigenes (bildungs-)theoretisches Fundament nicht ausreichend geklärt hat. Wahl problematisiert, dass die Erlebnispädagogik nicht mehr ist als „ein Sammelsurium historischer Wegbereiter, methodischer Verfahrensbeschreibungen und allgemeiner pädagogischer Zielvorstellungen“ (2021: 12). „Eine ausgearbeitete Theorie der Erlebnispädagogik und ihrer Wirkungen“ (ebd.) sieht er bis heute nicht geleistet.
Antworten einer nachhaltigkeitsbildenden Erlebnispädagogik
Der Entwurf einer nachhaltigkeitsbildenden Erlebnispädagogik, der in dem Buch Nachhaltigkeitsbildende Erlebnispädagogik. Theoretische Grundzüge und Einblicke in die Bildungspraxis entfaltet wird, zielt auf einen dreifachen Gewinn. Er will
- die allgemeinen Theoriedefizite der Erlebnispädagogik verringern,
- die Leerstellen im erlebnispädagogischen Nachhaltigkeitsdiskurs beheben und
- eine integrale Verflechtung von Erlebnispädagogik und Bildung für Nachhaltige Entwicklung leisten und damit beide Bildungskonzepte stärker aufeinander beziehen.
Zur bildungstheoretischen Fundierung der Erlebnispädagogik wird argumentiert, dass sie sich als ein transformatives Bildungsanliegen begreifen lässt. Die Erlebnispädagogik zeigt – unter anderem mit dem Erlebnisbegriff, den Inszenierungen herausfordernder Situationen in außeralltäglichen Räumen, dem Lernzonenmodell und den Transfermodellen – deutliche Parallelen zu den transformativen Bildungstheorien zum Beispiel von Mezirow (1997) und Koller (2012). In den Worten von Mezirow gesprochen intendiert die Erlebnispädagogik „eine Reihe von Lernvorgängen, die mit einem desorientierenden Dilemma beginnen und mit einem veränderten Selbstverständnis enden“ (1997: 165). In Bezug auf Nachhaltigkeit sind Veränderungen von Welt- und Selbstverhältnissen unter anderem in den Bereichen Konsum, Mobilität, Wohlstand, Zeit und Natur von Bedeutung.
Ferner zeichnet sich das Bildungsanliegen der Erlebnispädagogik durch eine Betonung von Körper- und Leiberfahrungen aus. Es handelt sich bei ihr um ein bewegungs- und handlungsorientiertes Bildungskonzept. In Erweiterung der leibphänomenologischen Deutung der Erlebnispädagogik von Wahl (2021) werden für eine nachhaltigkeitsbildende Erlebnispädagogik (differenz-)ästhetische Bildungstheorien herangezogen. Es werden jene Bildungsmomente vertiefend betrachtet, in denen sich Menschen die Welt „sinnlich, anschauend, zuhörend oder fühlend [erschließen] – und nicht etwa kognitiv, denkend“ (Laner 2018: 36).
Mit ästhetischen Bildungstheorien kann eine nachhaltigkeitsbildende Erlebnispädagogik den Diskurs einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung sinnvoll ergänzen, der bisher von einem primär „cognitivist […] picture of learning for sustainable development“ (Boström et al. 2018: 5) geprägt ist. Bei der Förderung von Gestaltungskompetenz müsste es beispielsweise stärker um ästhetische Kompetenzen gehen, also darum, eine Vielfalt von Welt wahrnehmen und diese im Sinne einer (stark) Nachhaltigen Entwicklung ästhetisch mitgestalten zu können.
Darüber hinaus würde eine nachhaltigkeitsbildende Erlebnispädagogik darauf insistieren, dass es für eine (stark) Nachhaltige Entwicklung nicht nur einen „mentalen Wandel“ (de Haan 2008: 24) braucht. Ein besseres Nachhaltigkeitswissen reicht nicht aus. Es müssten neue Praktiken zu Nachhaltigkeit körperlich-leiblich eingeübt, internalisiert und im Sinne einer „Ökoroutine“ (Kopatz 2016) verstetigt werden. Eine Nachhaltigkeitsbürgerin (Rieckmann 2017: 154) wäre für eine nachhaltigkeitsbildende Erlebnispädagogik wesentlich eine Nachhaltigkeitskönnerin.
Die Theoriebestände der Erlebnispädagogik und der Bildung für Nachhaltige Entwicklung fordert eine nachhaltigkeitsbildende Erlebnispädagogik noch in einem weiteren Punkt heraus: dem Verständnis von Natur. In beiden Bildungskonzepten wird nicht umfassend reflektiert, dass sich in einer nicht-nachhaltigen Welt das Naturverständnis grundlegend verschiebt. Natur ist nicht mehr so „wie sie von sich aus war oder wäre“, sie ist „weitgehend anthropogene Natur“ (Böhme 1992: 16). Im Rahmen einer nachhaltigkeitsbildenden Erlebnispädagogik wird Natur als ,anthropogene Natur‘ nicht (weiter) idealisiert und romantisiert. Die tiefgreifenden Veränderungen durch die menschlich-technischen Einflüsse werden aufgezeigt und als ein „Politikum“ (ebd.: 24) sichtbar gemacht.
Hinzu kommt, dass insbesondere in der Erlebnispädagogik die Vorstellung von der ,Natur als Lehrmeisterin‘ (Baig-Schneider 2012: 106) verbreitet ist. Damit wird „der Natur an sich“ (Verch 2023: 152, Herv. i. O.) eine (automatische) bildende Wirkung zugesprochen. Muff ermutigt zum Beispiel dazu, bei Naturerfahrungen „auf die Stimmen der Elemente zu hören, auf die Stimmen des Wassers, der Erde, der Luft und des Feuers“ (Braun 1991: 7 zitiert nach Muff 2001: 109). Eine nachhaltigkeitsbildende Erlebnispädagogik dekonstruiert solche naturalisierenden Bildungsvorstellungen unter anderem mit einem Verweis auf den Konstruktionscharakter und die symbolische Vermitteltheit von Naturwahrnehmungen und Naturerfahrungen.
Nachhaltigkeitsbildende Erlebnispädagogik: die praktische Umsetzung
Die Praxis einer nachhaltigkeitsbildenden Erlebnispädagogik orientiert sich am Whole Institution Approach einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung. Damit ist für erlebnispädagogische Anbieter die Aufforderung verbunden, nicht nur nachhaltigkeitsbildende Angebote zu entwickeln, sondern darüber hinaus ihre Betriebsstrukturen und ihre lokalen Kooperationen an einer starken Nachhaltigkeit auszurichten.
Die nachhaltigkeitsbildenden Angebote wären im Sinne transformativer und (differenz-)ästhetischer Bildungstheorien zu gestalten. Kontrasterfahrungen zur sonstigen nicht-nachhaltigen Normalität sollten ermöglicht werden. Inhaltlich wären Nachhaltigkeitsbezüge herzustellen. Bei einer Wanderung in einem Mittelgebirge könnte man etwa die Bergbaugeschichten, die Wintersportinfrastrukturen, den Umgang mit Wildtieren wie dem Luchs und dem Wolf, den monokulturellen Waldbau und die Auswirkungen des Klimawandels auf die Regionen thematisieren. Die Reflexionsphasen würden neben persönlichen und sozialen Aspekten auch ökologische Fragestellungen beinhalten.
Hinsichtlich der Betriebsstrukturen wären erlebnispädagogische Anbieter dazu aufgefordert, ihre Nachhaltigkeitsbilanz zu reflektieren und transparent zu machen. Wie reisen die Teilnehmenden an? Wie findet die Mobilität vor Ort statt? Woher kommt der Strom, der während der Angebote genutzt wird? Wie sieht die Verpflegung aus? Welche Materialien werden für die Aktionen verwendet? Mittelfristig könnte zum Beispiel ein Zero-Emission-Ansatz verfolgt werden, um die eigenen CO2-Emissionen zu minimieren.
Bei der Umsetzung einer nachhaltigkeitsbildenden Erlebnispädagogik wäre weiter die Schaffung von Nachhaltigkeitsorten zentral. In der Erlebnispädagogik gibt es das Konzept der Umweltbaustellen. Auf einer Umweltbaustelle arbeitet eine erlebnispädagogische Gruppe über mehrere Tage, „um einen kleinen Teil unserer Umwelt wieder in einen naturnahen Zustand zurück zu versetzen“ (Wahl/Gerritzen 2021: 83). Im Rahmen einer nachhaltigkeitsbildenden Erlebnispädagogik wären die Umweltbaustellen vermehrt als Suffizienz- und Subsistenzprojekte auszugestalten. In Kooperation mit (sozialen) Einrichtungen, Nachbarschafts- und Umweltinitiativen könnten zum Beispiel Urban-Gardening-Projekte, Obstsammelaktionen oder Teil- und Tausch-Infrastrukturen umgesetzt werden. Die Nachhaltigkeitsorte mit ihren Aufgaben würden als Erlebnisräume fungieren.
Mit der Schaffung von Nachhaltigkeitsorten könnte man nicht zuletzt dem politischen Anspruch einer nachhaltigkeitsbildenden Erlebnispädagogik gerecht werden. Es ginge nicht mehr länger (nur) um einen kurzzeitigen Ausstieg aus „der Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn 2020: 133), sondern darum, „als eine gesellschaftliche Akteurin“ in Erscheinung zu treten und „sich auch gesellschaftspolitisch einzumischen“ (Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik 2020: 1).
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