von Heinz Messmer
Über das Buch
Auf welches Wissen stützt sich die Praxis Sozialer Arbeit? In welchen Situationen wird welches Wissen von wem (gegenüber wem) expliziert? Mit welchen Absichten? Mit welchen Folgen? Was lässt sich daran erkennen und daraus schließen? Dieses Buch beleuchtet den Wissensgebrauch Sozialer Arbeit aus Sicht der ethnomethodologischen Konversationsanalyse. Gestützt auf einen umfangreichen Datenkorpus von Hilfeplangesprächen zeigt Heinz Messmer, wie Professionelle in der direkten Interaktion mit Betroffenen (Kindern, Heranwachsenden und Eltern) Wissen generieren, wie dieses Wissen im Gespräch prozessiert, wie und mit welchen Absichten es gültig gemacht wird und welche Schlüsse sich daraus ergeben.
Leseprobe aus den Seiten 11 bis 13
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Es ist ganz sicher, dass Automobile nicht aus der Erde wachsen.
Ludwig Wittgenstein
1 Das Wissen vom Wissen
In diesem Kapitel werden zunächst ausgewählte Überlegungen und Untersuchungen zum Begriff des Wissens erörtert, mit denen gewissermaßen die Hinterbühne der Analysen zu diesem Buch abgesteckt wird. Ein erster Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage, wovon wir überhaupt sprechen, wenn wir ‚Wissen‘ thematisieren: Was ist Wissen, was ist damit bezeichnet, was ist gemeint? Ein zweiter Abschnitt Teil beleuchtet das Wissen als Gegenstand wissenssoziologischer Analysen und macht auf die Standpunktbezogenheit allen Wissens aufmerksam. Zwei weitere Abschnitte thematisieren den konzeptionellen und empirischen Gegenstandsbezug professionellen Wissens in der Sozialen Arbeit als Profession. Zur Debatte steht, ob und inwieweit das professionelle Wissen mit Blick auf die Regularien sozialarbeiterischer Handlungsvollzüge zureichend verstanden und erklärt werden kann. Das Kapitel schließt mit Hinweisen auf die konstruktivistische Bedeutung professionellen Wissens, das nicht nur dem Erkennen klienteler Problembelastungen und seiner Abhilfe dient, sondern mit dazu beiträgt, dass diese Teil einer institutionell hervorgebrachten Fallwirklichkeit werden.
1.1 Wissen als fragwürdige Identität
Wissen ist eine schwierige und komplexe Kategorie. Im starken Kontrast zu der Selbstverständlichkeit und Mühelosigkeit im alltäglichen Sprachgebrauch stößt man bei der Suche nach wissenschaftlich klaren Bestimmungen mehr auf inhaltliche Ambivalenzen und zirkuläre Umschreibungen denn auf eine klare Begriffsdefinition. Das mag daran liegen, dass ‚Wissen‘ ohne nähere Angaben zum Kontext seiner Inanspruchnahme im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos ist. Immerhin geben sich in der wissenschaftlichen Behandlung dieses Topos verschiedene Differenzierungen zu erkennen, an denen sich eine Hierarchie sozialer Relevanzen herauslesen lässt.
Begrifflich bezeichnet ‚Wissen‘ zunächst eine abrufbare Bewusstseinserfahrung, bei der vorausgesetzt ist, dass Individuen sich ihrer inneren und äußeren Umwelt gewärtig und imstande sind, ihre Wahrnehmungen entsprechend zu reflektieren. „>Ich weiß<“, so formuliert Wittgenstein (1977, S. 31) mit Blick auf die Gewissheit von Wissen „hat eine primitive Bedeutung, ähnlich und verwandt der von >ich sehe<. (>Wissen<, >videre<).“1 Die Äußerung: ‚Das will ich erst einmal sehen‘ (oder fühlen oder riechen) ist in Zweifelsfällen eine durchaus legitime Reaktion, denn was man sinnlich wahrnehmen oder (be-)greifen kann, erhöht die Gewissheit, dass ein Sachverhalt wirklich ist. Mit der sinnlichen Erfahrung verringert sich nicht zuletzt auch der Zweifel. Aus Sicht des Einzelnen ist Wissen demnach ein subjektiv geprägtes Erfahrungswissen, d.h. die Gewissheit darüber, dass ein Sachverhalt als solcher auch existiert.2 „Wissen“, so definieren Berger und Luckmann (1977, S. 1), ist die „Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind“. Gewissheit impliziert insofern die Absenz von Zweifel, bleibt aber gleichwohl auf subjektive Gewissheit beschränkt. „Ich weiß“, so räsoniert Wittgenstein (1977, S. 73) weiter, meint vor allem: „Es ist mir als gewiss bekannt.“
Alles Wissen hat, wie Luhmann (1995, S. 155) betont, eine repräsentionale Bedeutung, als es auf die Reflexionen der Außenwelt des Bewusstseins rekurriert und diese auf Abruf bereithält. Vorausgesetzt ist die Möglichkeit fortwährender Beobachtung, die dem Bewusstsein Eindrücke aus seiner Umwelt vermittelt, die von diesem gespeichert oder als nicht erinnerungswürdig aussortiert werden. Luhmann (1990, S. 123) spricht in diesem Zusammenhang von Wissen als einer „Kondensierung von Beobachtungen“, also einem Objektwissen, das den betreffenden Sachverhalt im Anschluss an die Beobachtung auch losgelöst von der unmittelbaren Wahrnehmung reflektieren und repräsentieren kann.3
Den Prozess der Transformation von subjektiven Gewissheiten in sozial geteiltes Wirklichkeitswissen haben Berger und Luckmann (1977, S. 36ff.) als eine Praxis sozialer Objektivationen beschrieben. Der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen besteht auch hier in der Annahme, dass sich die subjektive Erfahrung „in Erzeugnissen menschlicher Fähigkeiten“ (ebd., S. 36) kondensiert. Mittels Verhalten und Sprache (Gesten, Begriffe, Symbole und Laut- oder Zeichensysteme) werden Sinn und Bedeutung von Sachverhalten aus der Umwelt eines Bewusstseins in die Sozialwelt transferiert, das subjektive Objektwissen für andere wahrnehmbar und damit auch direkt oder indirekt zugänglich. An die Stelle von Beobachtungen erster Ordnung treten mithin Gesten, Worte und Schrift, die nunmehr ihrerseits wahrgenommen und beobachtet werden können. Diese Wahrnehmungen sind wiederum für Beobachtungen zweiter Ordnung konstitutiv, also für die Beobachtung von kommunikativen Prozessen von Wissen sowie den Formen, in denen es sich manifestiert (vgl. Luhmann 1990, S. 77).
Mit der Externalisierung subjektiven Wissens liegen schließlich die Voraussetzungen für die Überprüfung und/oder Internalisierung intersubjektiver Gewissheiten vor. Für die intersubjektive Validierung ist nach Berger und Luckmann vor allem die soziale Interaktion maßgeblich: Das unaufhörliche „Rattern einer Konversationsmaschine“ (Berger/Luckmann 1977, S. 163) garantiert dem subjektiven – und letztlich auch gesellschaftlichen – Wirklichkeitserleben in dem Maße Sicherheit und Stabilität, als sich in jedem Moment der Interaktion daran ablesen lässt, ob und inwieweit Andere die je eigenen Gewissheiten teilen. Das individuelle Erleben von sozial anerkannten Wirklichkeiten äußert und vergewissert sich zuerst und vor allem über die sprachliche Interaktion. Denn mit jeder Äußerung werden implizit Hinweise darüber vermittelt, welche Annahmen von Wirklichkeit die explizierten Gewissheiten im Einzelfall prägen und inwieweit sie unter den Beteiligten kongruieren, so dass man sich seinen Ansichten sicher sein kann. „Im Gespräch“, so resümieren Berger und Luckmann, „werden die Objektivationen der Sprache zu Objekten des individuellen Bewusstseins“ (ebd., S. 164) und generieren damit die Voraussetzungen zu einer sozialen Erfahrung.
Zwischen epistemischer Explizität und Gültigkeit besteht diesen Annahmen zufolge eine wechselseitig enge Durchdringung: Gültiges (oder wahres) Wissen liegt vor, wenn und soweit das explizierte Wissen auf stillschweigende oder ausdrückliche Zustimmung stößt, wobei sein Geltungsanspruch gemäß Umfang, Reichweite und Dauer seiner Zustimmungschancen variiert.
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1 Die enge Verbindung zwischen Wissen und Sehen reflektiert sich laut Duden (1989) auch im indogermanischen Wortstamm (woida – ich habe gesehen), auf den sich neben der lateinischen Perfektform videre auch der Sprachgebrauch im Sanskrit (veda) zurückführen lässt.
2 “Knowledge”, so heißt es bspw. bei Gordon (1965, S. 34), “denotes the picture man has built up of the world and himself as it is, not as he might wish or fantasy or prefer it to be. It is a picture derived from the most rigorous interpretation he is capable of giving to the most objective sense data he is able to obtain.” (Hervorhebungen im Original)
3 Wohlgemerkt: Referenz ist das Bewusstsein, nicht der Mensch. Selbstbeobachtungen (z.B.: Mir ist unwohl) fallen ebenso in den Bereich des Repräsentierten wie Formen der Selbstreferenz (z.B.: Kann ich meinen Wahrnehmungen trauen?), durch die sich ein Bewusstsein einschließlich seiner kognitiven Dissonanzen selbst repräsentiert.
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