von Jann Schweitzer
Über das Buch
Wie erleben junge Erwachsene ihre Sexualität? Welche Bedeutung besitzen dabei soziale Ungleichheitsverhältnisse? Wie wird schulische Sexualerziehung aus der Perspektive von jungen Erwachsenen bei der Auseinandersetzung mit ihrer Sexualität empfunden? Die qualitativ-empirische Studie rekonstruiert die sexuelle Sozialisation von jungen Erwachsenen und ihre sexuellen Einstellungs- und Handlungsmuster im Kontext sozialer Ungleichheit.
Leseprobe aus den Seiten 37 bis 41
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3 Sexualität als soziale Praxis
Sexualität kommt – wie die Bezugslinien des vorherigen Kapitels bereits deutlich gemacht haben – in der Jugend- und jungen Erwachsenenphase eine besondere Bedeutung zu. Der Umgang mit dem eigenen Körper, sexuellen Fantasien, gesellschaftlichen Normen und den ersten Sexualpartner*innen als „übergeordneter Aufgabe“ (Fend 2005, S. 258f.) ist ein zentraler Bestandteil der Entwicklung in diesen Lebensphasen. Hierzu werden im vorliegenden Kapitel zunächst die überschaubaren entwicklungspsychologischen und sozialisationstheoretischen Überlegungen zu sexueller Entwicklung und Sozialisation in sozial- und erziehungswissenschaftlichen Studien dargestellt. Empirische Befunde diesbezüglich seit Jahrzehnten „widersprüchliche Gleichzeitigkeiten“ (Henningsen u. a.2016, S. 7) zwischen „Liberalität und Retraditionalisierung“ (Klein/Brunner 2018) bei den sexuellen Einstellungs- und Handlungsmustern von Jugendlichen, die ausführlich anhand empirischer Forschungsergebnisse aufgezeigt werden. Außerdem ist davon auszugehen, dass im Rahmen der Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität unterschiedlichen Akteur*innen eine signifikante Rolle bei der Herausbildung sexueller Sozialisationsprozesse zukommt, was im Anschluss daran dargestellt wird. In der Zusammenschau der in diesem Kontext relevanten Publikationen lassen sich verschiedene Leerstellen etwa im Hinblick auf das junge Erwachsenenalter und die Adressat*innenperspektive sexueller Bildung feststellen, die in der vorliegenden empirischen Untersuchung rekonstruiert werden, um diese in einem Zwischenfazit für die Fragestellungen einzuordnen.
3.1 Sexualität als Entwicklungsaufgabe
Obwohl Sexualität als zentrale Entwicklungsaufgabe für Jugendliche und junge Erwachsene mittlerweile unumstritten in sozial- und erziehungswissenschaftlichen Diskursen anerkannt ist, findet die konkretere Frage nach sexuellen Sozialisationsprozessen nach wie vor nur kaum Aufmerksamkeit. Hoffmann (2016) konstatiert unter Bezug auf Schmidt (2010), dass es nach wie vor an empirischen Befunden fehle, die erklären wie Kinder bis zum Erwachsenenalter ein ‚sexuelles Selbst‘ entwickeln und welche Wissens-, Deutungs- und Handlungsorientierungen dabei für sie relevant werden.
Zum Zeitpunkt der Bearbeitung der vorliegenden Studie scheint das Thema Sexualität, wenn es überhaupt in den erziehungswissenschaftlichen Fokus gerät, fast ausschließlich defizitorientiert im Rahmen von sexualisierter Gewalt erforscht zu werden und lässt eine deutliche Schieflage hinsichtlich einer umfassenden theoretischen Diskussion über sexuelle Sozialisation erkennen. Ein Grund für die marginale Beschäftigung der Sozialwissenschaft mit dieser Thematik lässt sich beispielsweise mit einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Sexuellen erklären. Für Volkmar Sigusch (2013) hat sich Sexualität im Zuge einer neosexuellen Revolution entdramatisiert und entmystifiziert. Sexualität sei gesellschaftsfähig und kommerzialisiert worden. Sie wird nicht mehr als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung gesehen, sondern trägt vielmehr zur Reproduktion dieser Gesellschaftsstruktur bei (vgl. ebd., S. 24f.). Lautmann argumentiert ebenfalls kritisch, der dominante sozialwissenschaftliche Diskurs nehme an, dass Sexualität „wenig zur sozialen Ordnung beisteuert“ (Lautmann 2002, S. 461) und damit für die Disziplin prinzipiell uninteressant sei. Es ist demnach auch wenig verwunderlich, dass sich eine breitere Theoretisierung zu sexueller Sozialisation und Entwicklung zunächst im psychologischen Fachdiskurs ausfindig machen lässt.
Fend entwickelt beispielsweise 2001 erstmals in seinen Ausführungen zur „Entwicklungspsychologie des Jugendalters“ ein handlungsorientiertes Paradigma im Hinblick auf die sexuelle Entwicklung von Jugendlichen, in der sie selbst als Akteur*innen im „Schnittfeld sozialer Erwartungen und biologischer Vorgaben“ (2005, S. 219) ihre eigenen Wünsche, Lüste und Fantasien in Einklang bringen müssen. Im Rahmen seiner handlungstheoretischen Überlegungen bestimmt Fend die Bewältigung der Sexualität als Kernaspekt der sozialen Entwicklungsaufgabe des Jugendalters, die von allen Jugendlichen in einem Spannungsfeld von sozialen Normalitätserwartungen, biologischen Vorgaben und den eigenen Vorstellungen sexueller Befriedigung bearbeitet werden muss. Strukturell umfasst diese Auseinandersetzung zwischen sozialhistorischen und biologischen Rahmenbedingungen drei Aspekte, nämlich „den verantwortungsvollen Umgang mit der Sexualität, ihre Einbindung in soziale Bindungen und ihre Platzierung im Kern des Selbstverständnisses der Person.“ (ebd., S. 259). Für Fend (2005) stellt das Jugendalter eine besonders dichte Lebensphase dar, in der die sexualitätsbezogenen Entwicklungsaufgaben intensiv bearbeitet werden. Er stellt dazu unter anderem fest, dass Peers, Eltern und Lehrer*innen eine zentrale Rolle bei der sexuellen Entwicklung zukommt, die im wechselseitigen Austausch unterschiedliche Erwartungen und Normalitätsvorstellungen an die Jugendlichen und jungen Erwachsenen herantragen. Diesen komplexen Prozess der Interaktion beschreibt er in einem Zwischenfazit mit dem Begriff der „Ko-Konstruktion“ (ebd., S. 221), in der die Subjekte als aktive Akteur*innen zwischen innerer Entwicklung und äußeren Anforderungen vermitteln müssen. Dieser zentrale Befund erweist sich für die handlungstheoretischen Auseinandersetzungen vorliegender Arbeit als anschluss39 fähig, muss aber durch sozialwissenschaftliche Befunde ergänzt werden, da die Perspektive einer Dichotomie zwischen Innerem und Äußerem im Hinblick auf eine umfassende Theoretisierung sexueller Sozialisation unterkomplex ist. Lautmann rahmt hierzu 1989 beispielsweise erstmals unter Bezug auf Schelsky eine grundlegende soziologische Begriffsbestimmung von Sexualität gegenüber biologistischen und psychologisierenden Definitionen. Kernthese seiner Ausführungen ist, dass Sexualität sowohl kultur- als auch gesellschaftsspezifisch und deshalb ausschließlich als etwas Soziales verständlich sei. „Natur und Kultur wirken hier unaufhebbar zusammen. Sexualität läßt sich weder auf die rein physiologische noch auf eine rein geistige Dimension reduzieren“ (Lautmann 1989, S. 568). In seinem fragmentarischen Versuch einer „Soziologie der Sexualität“ (2002) systematisiert der Autor unter Einbeziehung der Theorie sexueller Skripte (vgl. Kapitel 2.2) diese Kernthese sozialisationstheoretisch als lebenslangen Prozess, indem er aufzeigt, dass je nach Lebensphase unterschiedliche Wünsche, Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten für das sexuelle Subjekt relevant werden. Wie Fend beschreibt auch Lautmann die Jugend als eine besonders eigentümliche Lebensphase im Rahmen der Sexualbiografie, da hier erstmals gesellschaftliche Erwartungen an die Jugendlichen herangetragen werden und sexuelle Handlungsfähigkeit sowohl anerkannt und als auch abverlangt wird (vgl. Lautmann 2002, S. 90ff.). Dieses Spannungsfeld von gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Wünschen und Fantasien können, so Schmidt (2010), allerdings in direktem Widerspruch stehen, sodass Jugendliche und jungen Erwachsene in eine Situation geraten können, in der sie „… sich der persönlichen Präferenzen und ihrer individuellen Wünsche zwar bewusst sein, doch gleichwohl gesellschaftlich verantwortlich handeln sollen“ (Schmidt 2010, S. 259). Diesen Widerspruch bringt Zygmunt Baumann bereits 1998 in seiner Analyse folgendermaßen auf den Punkt: „Einerseits lobpreist die postmoderne Kultur sexuelle Genüsse und ermutigt dazu, jeden Winkel der Lebenswelt mit erotischer Bedeutung zu versehen; sie fordert vom postmodernen Erregungssammler, sein Potential als sexuelles Subjekt voll zu entwickeln. Andererseits verbietet diese Kultur, einen anderen Erregungssammler wie ein sexuelles Objekt zu behandeln“ (Bauman 1998, S. 34). Dieser Widerspruch macht deutlich, dass die sexuelle Entwicklung keine selbstverständliche Folge von körperlichen und psychischen Veränderungen ist, sondern „sozial definierte Erwartungen im Hinblick darauf, was als alterstypische Entwicklung und als sozial akzeptierte Form ihrer Bewältigung gilt“ (Scherr 2013, S. 237), auf sie einwirken. Diese Gestaltung der eigenen Sexualität lässt sich als „aktiver Prozess der Auseinandersetzung“ (Helsper 2010b, S. 81) mit unterschiedlichen Akteur*innen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Normalitätserwartungshaltungen, demnach als soziale Praxis verstehen.
Mit einem Verständnis von Sexualität als sozialer Praxis zeigen sich die sozialisations- und handlungstheoretischen Ausführungen von Stein-Hilbers (2000) als grundlegend anschlussfähig für die empirische Auseinandersetzung mit sexuellen Sozialisationsprozessen, wie sie in der vorliegenden Arbeit geleistet wird. Stein-Hilbers fundiert in ihrem Grundlagenwerk (2000) eine sozialisationstheoretische Theorie von Sexualität, indem sie wichtige Elemente des Übergangs von Kindheit zur Jugend und in das junge Erwachsenenalter systematisiert und zu einer Theorie sexueller Sozialisation verdichtet, die sie folgendermaßen zusammenfasst:
„Kinder erwerben ein sexuelles Körperwissen und entsprechende emotionale Strukturen zunächst im Kontext der Sozialbeziehungen ihres familialen Umfeldes. Im Kontakt mit Erwachsenen und anderen Kindern entwickeln sie Interaktionsstile und Orientierungen, die sich auf geschlechtsangemessenes Verhalten, Fühlen und entsprechende Modelle des Begehrens beziehen. Sie erlernen die symbolischen und tatsächlichen Ausdrucksformen von Sexualität und die Bedeutung entsprechender Objekte und Handlungen. Diese verbinden sich mit körperlichen Erfahrungen; Phantasien und Interaktionen mit anderen sind entsprechend ausgestaltet. Sexuelle Kontakte und Aktivitäten des Jugend- und Erwachsenenalters werden im Kontext geschlechtsgebundener, kulturell geltender sexueller Szenarios (oder Abweichungen davon) realisiert. Klasse, Ethnizität, Alter, regionale und biografische Erfahrungen wiederum beeinflussen die Ausbildung des eigenen Erlebens und Verhaltens. Die Gesamtheit dieser Prozesse und Vorgänge wird als ‚sexuelle Sozialisation‘ bezeichnet“ (Stein-Hilbers 2000, S. 9f.).
Stein-Hilbers (2000, S. 35 ff.) berücksichtigt in ihren Ausführungen bereits Überlegungen zu sozialen Positionierungen, die durch Sozialisationsprozesse produziert und reproduziert werden können, indem sie herausstellt, dass Geschlecht und Begehren die maßgeblichen Kategorien im Rahmen sexueller Sozialisation darstellen. Obwohl die Verschränkungen sozialer Ungleichheiten und Sozialisation in den letzten Jahrzehnten bereits ausführlich theoretisiert (vgl. Bauer 2012; Bauer/Hurrelmann 2021) wurden, bleibt die Frage nach der Bedeutung von Vergeschlechtlichung und sexueller Orientierung im Rahmen sexueller Lebensführung nahezu unbeantwortet. Empirische Untersuchungen, die sich dezidiert mit der sexuellen Sozialisation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen befassen, finden sich, wie bereits ausgeführt, in Deutschland nur vereinzelt und fragmentarisch. Es ist vor allem die Untersuchung von Schmidt (2003) einschließlich der daraus abgeleiteten Theoreme zu einer Theorie sexueller Sozialisation (Schmidt/Schetsche 2009) die für die vorliegende Studie von besonderer Bedeutung sind. So untersucht Schmidt in ihrer qualitativen Studie die sexuellen Einstellungs- und Handlungsmuster von cis-weiblich positionierten jungen Erwachsenen und zeigt eindrücklich auf, dass die individuellen Einstellungs- und Handlungsmuster der jungen Frauen immer wieder neu ausgehandelt und reflektiert werden (Schmidt 2003, S. 129ff.). Die Ergebnisse ihrer Arbeit verdichtet und aktualisieren Schmidt und Schetsche zu zentralen Theoremen sexueller Sozialisation, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen:
„Sexuelle Karrieren, Einstellungen und Handlungspraxen der erwachsenen Subjekte sind nur in geringem Maße von sozialer Herkunft oder Schichtzugehörigkeit abhängig und sie sind nur partiell geschlechtstypisch organisiert. Intimes Denken, Fühlen und Handeln folgt vielmehr einer begrenzten Zahl kollektiver Sexualmuster, zu der die Subjekte aufgrund vielfältiger Faktoren (einschließlich bewusster Entscheidungen und Zufälle) gelangen. Kulturelle Sexualmuster stellen sexuelle Möglichkeitsräume bereit, in deren Grenzen sich individuelle Vorlieben und Karrieren entfalten können“ (Schmidt/Schetsche 2009, S. 133f.).
Der Befund, dass sich biografisch keine geschlechtstypischen Einstellungsund Handlungsmuster finden lassen, ist für das Forschungsdesign und vor dem Hintergrund eines intersektionalen Anspruchs der vorliegenden Arbeit von zentraler Bedeutung. Denn es geht nicht darum, in vermeintlich homogenen Gruppen spezifische Sexualitäten auszumachen, sondern um die Zusammenhänge zwischen sexualitätsbezogenen kollektiven Einstellungs- und Handlungsmustern des jungen Erwachsenenalters. Mit einer Perspektive von Intersektionalität (Kapitel 2.3) als Heuristik konkretisiert sich vielmehr die Frage, welche Bedeutung sozialen Ungleichheitsverhältnissen entlang unterschiedlicher Kategorien – wie etwa Geschlecht und sexuelle Orientierung – beim Erleben von Sexualität und sexuellem Handeln zukommt und inwiefern mit der unterschiedlichen Positionierung in gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen unterschiedliche Bearbeitungsformen und Handlungsmöglichkeiten mit den je individuellen und kollektiven Wissensbeständen einhergehen.
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© Titelbild: gestaltet mit canva.com