Geblättert: Leseprobe aus „Pädagogisches Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit“

Cover "Pädagogisches Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit"

Pädagogisches Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit

Ein Kompendium

von Sven Trabandt und Hans-Jochen Wagner

 

Über das Buch

Diese Einführung bietet Studierenden der Sozialen Arbeit einen fundierten Überblick über pädagogische Grundbegriffe wie Bildung, Sozialisation, Erziehung und Lernen. Dabei werden exemplarisch verschiedene Ansätze prägnant vorgestellt und jeweils ihre Bedeutung für Handlungsfelder der Sozialen Arbeit aufgezeigt. Vertiefend geht es um Erziehungsstile, pädagogische Grundhaltungen, Handlungssystematiken und reformpädagogische Ansätze. Die einzelnen Kapitel können jeweils als Grundlage einer Seminarsitzung im Studium der Sozialen Arbeit oder für das Selbststudium zur Vertiefung verwendet werden. Die Texte sind fachlich fundiert, gleichzeitig gut verständlich formuliert und in klar gegliederte Abschnitte sowie viele anschauliche Abbildungen und Tabellen gegliedert.

Leseprobe aus den Seiten 188 bis 192

 

***

9 Reformpädagogik

Das Wichtigste in Kürze

Reformpädagogik zielt darauf, bestehende Strukturen und Handlungsweisen päd­agogischer Institutionen zu verändern, indem selbstbestimmte, offene und lebens­relevante Lernprozesse angeregt werden. Lehrende haben dabei stärker die Rolle von Begleitenden. Exemplarisch wird der Ansatz Maria Montessoris vorgestellt, der international in der pädagogischen Praxis Verbreitung gefunden hat. Darüber hin­aus wird der Ansatz Kurt Hahns umrissen, der als Begründer der Erlebnispädagogik gilt. Abschließend wird der Bezug zu aktuelleren neurowissenschaftlichen Diskus­sionen hergestellt.

9.1 Entwicklung

Der Begriff Reformpädagogik bezeichnet eine heterogene pädagogische Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die unterschiedlichen Ansätze forderten eine Re­formierung des bestehenden, flächendeckenden Erziehungs- und Schulwesens, auf das sich die Reformpädagogik beziehen konnte (Schulze, 2012, 16).

Die Bemühungen um Veränderung werden als „Folgen rascher Industriali­sierung“, Technisierung und Urbanisierung interpretiert, die als Bedrohungen wahrgenommen wurden (Link, 2018, 16). Auf Basis dieser gesellschaftlichen Ver­änderungen und Unsicherheiten sowie der damit verbundenen Krisen herrschte eine Aufbruchsstimmung. Mit pädagogischen Mitteln sollten soziale Probleme ge­löst werden (S. 17). Die Reformbemühungen wurden vielfach politisch unterstützt, sodass Reformpädagogik nicht auf abstrakte Konstrukte beschränkt war, sondern sich Versuchseinrichtungen etablieren konnten, in denen viele Ideen verwirklicht wurden.

Die Reformpädagogik kann historisch als Vermischung von sozialistischen, kulturkritischen und naturalistischen Impulsen – z. B. von Rousseau, Pestalozzi, Goethe, Fröbel – betrachtet werden. Gemeinsam ist ihnen das Ziel, in pädagogisch veränderten Bildungs- und Erziehungseinrichtungen die Selbständigkeit der zu Be­treuenden, die freie Entfaltung sowie die soziale und politische Verantwortung als ganzheitliche Persönlichkeit zu bewirken.

Zwar gab es ähnliche Bestrebungen nach einer Pädagogik vom Kind aus auch schon in früheren Zeiten, doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdichten diese sich. Die historischen Bedingungen der Technisierung, des etablierten Schulwesens und einer politischen Offenheit für reformpädagogische Ideen kennzeichnen den Hintergrund reformpädagogischer Ansätze. Wenn Reformpädagogik als internatio­nales Phänomen verstanden wird, wird der Beginn der reformpädagogischen Phase auf 1900 datiert, der Zeit, in der Ellen Key das Jahrhundert des Kindes ausruft.

Insofern werden auch ähnliche Ansätze von Comenius, Rousseau oder Pesta­lozzi nicht als reformpädagogische Ansätze erachtet, obgleich sie gewisse Paralle­len aufweisen und als Reformpädagogik vor der Reformpädagogik tituliert werden (Matthes & Schütze, 2018). Auffällig ist, dass sich in der Reformpädagogik immer wieder Referenzen auf Rousseau und Pestalozzi aufspüren lassen. Nohl bündelt 1933, zum Ende der Weimarer Republik und der reformpädagogischen Hochphase, die deutschsprachigen reformpädagogischen Ansätze. Dabei verengt er Reformpädago­gik zu einer deutschen Bewegung – eine Interpretation, die auf Widerstand stieß. Als Hochphase gilt sowohl für Deutschland als auch international die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (Link, 2018, 20).

Reformpädagogik war nicht nur eine Bewegung der Pädagogik, sondern hatte auch einen politischen Charakter. Der politische Wille zeigt sich an der Integration reformpädagogischer Vorstellungen in Lehrplänen der Weimarer Republik oder dem Ausbau von Versuchsschulen, die sich in der Zeit zwischen 1927 und 1932 verdop­pelten. Reformpädagogik war in dieser Zeit nicht ein alternativer, exotischer Weg, der vereinzelt gegangen wurde, sondern „war ein Kennzeichen moderner Schulpäd­agogik“ geworden (Link, 2018, 21).

Der theoretische Hintergrund der Reformpädagogik ist in Hinsicht auf ideologi­sche Ausrichtungen und theoretischen Begründungen sehr heterogen. Einheitlicher ist die Praxis der verschiedenen reformpädagogischen Ansätze (Schulze, 2012, 18). Das erstaunt, sollte doch der unterschiedliche theoretische Überbau zu unterschied­licher Praxis führen. Es zeigt aber auch, dass die Reformpädagogik keine nur auf theoretischer Ebene angesiedelte Bewegung ist, sondern eine Basisbewegung, die von der Praxis ausgehend grundlegende Veränderungen anmahnt sowie Konzepte und Theorien entwickelt.

 

9.2 Bezugspunkte und Bündelung

Auch in anderen Epochen gab es Reformbestrebungen mit ähnlichen Motiven, die auch als Reformpädagogik vor der Reformpädagogik bezeichnet wurden (Matthes & Schütze, 2018, 31). Dabei ist zunächst Comenius (1592–1670) zu nennen, der eine Ausrichtung an Alter und Anlagen des Kindes empfiehlt und als Zielhorizont des Lehrens das Fördern dessen sieht, was innerlich gereift sei (S. 33). Extensiver wird in der Reformpädagogik auf Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) Bezug genom­men. Auch er fordert, den „Zögling“ so zu behandeln, „wie es sein Alter verlangt“ (Rousseau, 2010, 127). Dabei geht Rousseau auf Fähigkeiten und Organe des Men­schen ein, die es zu entwickeln gilt, wobei die Erziehung eine entscheidende Rolle spielt (S. 15). Zu dem Ziel von Erziehung schreibt Rousseau: „Es ist das der Natur selbst“ (S. 16). Um Organe und Fähigkeiten zu entwickeln, ist Erziehung notwendig. Im Vordergrund steht dabei aber weniger ein theoretischer Unterricht, wichtig sind vielmehr eigene Erfahrungen und die Ausbildung von Sinnesorganen. So empfiehlt Rousseau „die Ausbildung des Tastsinns durch Bewegung im Dunkeln“ oder „die Förderung des Sehsinns durch Abschätzen von Entfernungen“ (Matthes & Schütze, 2018, 35). In ähnlicher Weise werden Anregungen für weitere Sinnesübungen ge­geben. Für das Lernen ist Anschauung notwendig, Erkenntnisgewinn geschieht nach Rousseau induktiv, indem der Mensch die Dinge der Welt nicht lernt, sondern er­findet.

Auch Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) wird in der theoretischen Grundlegung der Reformpädagogik aufgegriffen. Pestalozzi wird, wie viele Reform­pädagogen, politisch unterstützt und strebt nach gesamtgesellschaftlichen Verände­rungen, die er durch eine Reform der Volksbildung und dem Lernen mit Kopf, Herz und Hand erreichen möchte. Zu den von Pestalozzi geforderten Bildungsinhalten gehören nicht nur Geschichte, Geographie oder die Naturwissenschaften, sondern auch Musik, Sport und Werken (S. 37). Beim Unterrichten wird an den Möglichkei­ten der Kinder angeknüpft und auf angemessene Herausforderungen geachtet, ohne die Kinder zu überfordern.

Zum Ende der reformpädagogischen Hochphase bündelt Herman Nohl reform­pädagogische Ideen und interpretiert diese in seiner Weise. Im Mittelpunkt seiner Be­trachtung stehen das Kind und das pädagogische Verhältnis zwischen Erziehenden und Zu-Erziehenden. Dieses Verhältnis ist eingebunden in historisch-gesellschaftli­che Verhältnisse und wird als wechselseitiger Interaktionsprozess verstanden. Der pädagogische Bezug zum Zu-Erziehenden kann nicht erzwungen werden und zielt stets auf Selbständigkeit des Kindes ab, sodass Erziehende sich überflüssig machen. Neben zukunftsweisenden Fragestellungen ist für Nohl auch die Gegenwartsorien­tierung der Erziehung wichtig.

 

9.3 Merkmale

Trotz der großen Heterogenität reformpädagogischer Ansätze lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen. Diese können schlagwortartig in Anlehnung an Link (2018, 18) dargestellt werden:

Tab. 9.1 | Impulse der Reformpädagogik
Alt

Bestehende Strukturen

Neu

Reformpädagogik

— Fachorientierung

— Theorie

— kognitives Lernen

— geschlossenes Curriculum

— fremdbestimmtes Lernen

— Lehrende als Dompteur

— Schule als Zwang

— Kindorientierung

— Leben

— ganzheitliches Lernen

— offener Unterricht

— selbstbestimmtes Lernen

— Lehrende als Begleitende

— Schule als Lebensstätte

Im Blickpunkt der Reformpädagogik steht in erster Linie die Schule als dominie­rendes pädagogisches Handlungsfeld. Reformbemühungen zielen darauf ab, indi­viduelle, biographische und außerschulische Bezüge mit schulischem Lernen zu verbinden. Dahinter steht ein Bild des aktiven Kindes, das eigenaktiv und selb­ständig die Welt erkundet. Auch eine Lernwilligkeit wird dem Kind unterstellt. Dem staatlichen Schulwesen wird vorgeworfen, Kinder zu wirklichkeitsfern, abstrakt und einseitig kognitiv zu lehren. Die starke Uniformisierung und die ausgeprägte Aus­richtung auf Schulnoten werden kritisiert (Schulze, 2012, 21).

Verschiedene Überlegungen zielten darauf ab, Lernumgebungen und Arran­gements zu verändern, um die Schule stärker am Kind auszurichten, als dies bisher der Fall war. Solche Arrangements waren beispielsweise Freiarbeit, Gruppenarbeit, die Arbeit mit Wochenplänen, Stationenlernen oder Projektarbeit (Link, 2018, 20). Das Aufsuchen außerschulischer Lernorte wurde von Reformpädagogen immer wie­der eingefordert. Starre Stunden- und Lehrpläne wurden dagegen kritisiert.

 

9.4 Pädagogischer Ansatz nach Maria Montessori

Einen der bekanntesten Ansätze der Reformpädagogik stellt die Montessori-Pä­dagogik dar. Es wird geschätzt, dass alleine in Deutschland rund 500 Vorschul­einrichtungen, 217 Primar- und 111 Sekundarschulen „ernsthaft“ nach dem Montessori-Konzept arbeiten (Meisterjahn-Knebel, 2018, 281). Weltweit gibt es ca. 60.000 Montessori-Einrichtungen in 127 Ländern, davon mehrere zehntausend in China und mehrere tausend in Nordamerika (S. 282).

Interessant an der Montessori-Bewegung ist nicht nur ihr Erfolg in der Praxis, sondern auch der Einbezug unterschiedlicher Lebensalter vom „vorgeburtlichen Werden […] bis zum Seniorenalter“ (Ludwig, 2017, 179). Montessoris Ausführun­gen beschränken sich nicht auf theoretische Konzepte, sondern sie stellt konkrete Entwicklungsmaterialen vor, die ihren Ansatz auch ohne theoretisches Hintergrund­wissen begreifbar machen. Kennzeichnend für Montessoris Überlegungen und Kon­zepte ist vor allem ein medizinischer und heilpädagogischer Blick. Diese Perspektive ist für die Reformpädagogik ungewöhnlich, für die Pädagogik aber durchaus anre­gend.

9.4.1 Kurzbiographie

Maria Montessori (1870–1952) wird in Italien geboren. Nach dem Besuch einer technisch-naturwissenschaftlichen Oberschule studiert sie in Rom Medizin. Als Ärz­tin arbeitet sie mit geistig behinderten Kindern und entwickelt ein Förderprogramm, das die Verbesserung der Sinne zum Ausgangspunkt der Hilfestellung für die Kinder macht. Im Jahr 1907 eröffnet sie das Casa dei bambini in Italien, ein Kinderhaus, in dem sie ihr Konzept weiter ausarbeitet. 1909 erscheint ihr erstes Buch, 1916 folgt ein Werk zur Gestaltung der Grundschule (Ludwig, 2017, 181). Eine Modellschule richtet sie in Barcelona ein. 1934 erscheinen zwei mathematikdidaktische Werke, die bis heute das Bild der Montessori-Pädagogik prägen. Im weiteren Verlauf nimmt Montessori ihren Wohnsitz in den Niederlanden, die sie kriegsbedingt verlässt, um 1949 schließlich dorthin zurückzukehren.

9.4.2 Pädagogische Grundgedanken

In ihrer Schrift Grundlagen meiner Pädagogik (1934) beschreibt Montessori ihr Bild vom Kind. Sie sieht es als eigenaktiv, „von starken inneren Motiven geleitet“. Dazu gehört auch, dass es „seine Beschäftigung alleine wählt“, da nur das Kind selbst weiß, was ihm guttut (Montessori, 1934, 40). Dieses Vertrauen in den Entwicklungs­willen und die optimistische Sicht auf die im Kind vorhandenen Kräfte, dem inneren Bauplan, führen zu wichtigen Grundlagen der pädagogischen Arbeit:

Polarisation der Aufmerksamkeit

Montessori beobachtete ein dreijähriges Mädchen, das selbstvergessen an einem Steckspiel, einem Einsatzzylinderblock, zugange war. Die Beobachtung dieser Tätig­keit wird zu einem Schlüsselerlebnis. Immer wieder beobachtet Montessori darauf­hin die fixierte Aufmerksamkeit von Kindern, die sie ruhig und zugleich mitteilsam mache und ihnen helfe, Unorganisiertes zu organisieren. Raithel et al. sehen in der fixierten Aufmerksamkeit die Grundlage der Veränderung der kindlichen Psyche (Raithel et al., 2009, 143). Montessori bezeichnet die Polarisation, d. h. die Fähig­keit der tiefen Konzentration während Tätigkeiten an selbstgewählten Aufgaben, als „Schlüssel ihrer ganzen Pädagogik“ (Lahmer et al., 2018, 292).

***

Sie möchten gern weiterlesen?

 

Jetzt versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen

Cover "Pädagogisches Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit"Sven Trabandt, Hans-Jochen Wagner:

Pädagogisches Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium

2., überarbeitete Auflage

 

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com