von Michaela Köttig, Sonja Kubisch und Christian Spatscheck (Hrsg.)
Über das Buch
Soziale Arbeit lebt als Disziplin und Profession von der ständigen Weiterentwicklung des in und mit ihr geteilten Wissens. Forschung, Theoriebildung, Lehre und Praxis bilden hierbei ein komplexes Gefüge im gesellschaftlichen Kontext. Der Band nimmt die verschiedenen Relationen in den Blick: Wo, von wem und in welcher Weise wird Wissen der Sozialen Arbeit gebildet, weiterentwickelt und geteilt? Und um welche Arten von Wissen geht es dabei?
Leseprobe aus den Seiten 11 bis 14
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Geteiltes Wissen – Zum aktuellen Stand der Wissensentwicklung in Disziplin und Profession Sozialer Arbeit
von Michaela Köttig, Sonja Kubisch und Christian Spatscheck
Soziale Arbeit lebt von der ständigen Weiterentwicklung des in und mit ihr geteilten Wissens. Forschung, Theoriebildung, Lehre und Praxis bilden hierbei ein komplexes Gefüge im gesellschaftlichen Kontext. Auch jenseits deutlicher Paradigmenwechsel erfahren Wissenschaftler*innen und Fachkräfte Sozialer Arbeit, wie ihr Wissen in verschiedenen Zusammenhängen herausgefordert wird. So ergeben sich beispielsweise aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen, veränderter Problemlagen oder aktueller Forschungserkenntnisse neue Themen und Fragestellungen, andere Wissensformen geraten in den Blick und erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Diskussionen werden (erneut) aktiviert. Der vorliegende Band widmet sich im Sinne einer Zwischenbilanz der Wissensentwicklung in der Sozialen Arbeit.
Wissen wird in sehr unterschiedlicher Weise zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung und Forschung. Je nach theoretischer und methodologischer Positionierung werden beispielsweise eher die kommunikativ vermittelten Wissensbestände Einzelner fokussiert oder wird Wissen primär mit kollektiv fundierten Handlungsorientierungen und Werthaltungen in Verbindung gebracht (z.B. Ghanem et al. 2018; Bohnsack 2020). Die Kategorie des Wissens wird auch herangezogen, um Laien, Expert*innen und Professionsangehörige voneinander zu unterscheiden (z.B. Schützeichel 2007). Verschiedene Wissensformen und ihr Verhältnis zueinander werden analytisch bestimmt, Transformationen wissenschaftlichen Wissens in der professionellen Praxis untersucht und Hybridisierungen von Wissen thematisiert (z.B. Dewe/Otto 2018; Dewe/Peters 2016; Schützeichel 2018; Sommerfeld 2014). Zusammenhänge zwischen Wissen und Macht werden beispielsweise in diversitätssensibler und postkolonialer Perspektive reflektiert. Hier wird danach gefragt, welches Wissen von wem in unterschiedliche Zusammenhänge eingebracht werden kann, welches Wissen zum Schweigen gebracht wird, wie Wissen eingesetzt wird, um Herrschaftsverhältnisse zu verfestigen oder auf der anderen Seite genutzt werden kann, um Widerstand gegen etablierte Machtstrukturen zu leisten (z.B. Krueger 2021; Dhawan/Castro Varela 2020; Smith 2012).
Moderne Wissensgesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass Wissen zunehmend zur Quelle von Wirtschaftswachstum wird und die Bedeutung des Wissens in allen Lebensbereichen und sozialen Institutionen wächst (vgl. Stehr/Adolf 2018: 408). Wissen wird zugleich zum Organisationsprinzip und zur Problemquelle dieser Gesellschaften (vgl. Stehr 2001: 10). Besonders wissenschaftliches Wissen schafft dabei auf der einen Seite neue Handlungsmöglichkeiten, vergrößert aber auf der anderen Seite auch soziale Unsicherheiten. Im alltäglichen Handeln werden diese Unsicherheiten mitunter dadurch minimiert, dass die Unabgeschlossenheit wissenschaftlicher Erkenntnisse ebenso wie Widersprüchlichkeiten zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Befunden ausgeblendet werden (vgl. Stehr 2001). Im Extremfall werden wissenschaftliche Erkenntnisse auch völlig ignoriert und Meinungen und Handeln stattdessen an falschen Informationen ausgerichtet, die im Zuge der Digitalisierung schnelle und einfache Verbreitung finden. Für die Wissenschaft ist es dagegen konstitutiv, mit dem im Alltag geteilten Wissen, dem Common Sense zu brechen (Bourdieu 2006: 269). Reflexivität und radikaler Zweifel werden hier zum Prinzip erhoben (vgl. ebd.: 269ff.). In der professionellen Praxis schließlich werden wissenschaftliches Wissen und weitere Wissensformen, wie etwa das Erfahrungswissen, relationiert (vgl. z.B. Dewe/Otto 2018), zugleich machen das „wissende Nicht-Wissen“ (Wimmer 1997: 431) bzw. ein habitueller Umgang mit Ungewissheit den Kern professionellen Handelns aus.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte konnte sich Soziale Arbeit als Disziplin und Profession klar etablieren (vgl. Borrmann et al. 2021; Engelke et al. 2016; Brekke/Anastas 2019). Wie andere wissenschaftliche Disziplinen auch, ist die Wissenschaft Soziale Arbeit gefordert, ihre Rolle in der Gesellschaft im Hinblick auf die Generierung, Nutzung und Verbreitung von Wissen zu reflektieren. Als Handlungswissenschaft stellen sich ihr dabei Fragen des Verhältnisses von Wissen und Praxis in einem spezifischen Sinn, ebenso wie die Beziehungen des „eigenen“, kollektiv geteilten Wissens zum Wissen anderer Disziplinen, Professionen sowie zum Wissen von Adressat*innen und Akteur*innen der Zivilgesellschaft in diesem Kontext in eigener Weise zu reflektieren sind. Mit Blick auf gegenwärtige gesellschaftliche und politische Entwicklungen steht die Soziale Arbeit vor neuen Herausforderungen, die sich im Wissenschaftssystem, in der Praxis und in verschiedenen gesellschaftlichen und organisationalen Kontexten jeweils unterschiedlich darstellen.
Vor diesem Hintergrund sind für die Wissenschaft Soziale Arbeit gegenwärtig neue Fragen in Forschung und Lehre erkennbar. So steht eine stark wachsende Forschungstätigkeit im Spannungsverhältnis zu oft inadäquaten zeitlichen, personellen und technischen Ressourcen an Hochschulen. Zudem ist noch offen, wie Promotionen in der Wissenschaft Soziale Arbeit adäquat realisiert werden können, da derzeit noch nicht allen Hochschultypen das Promotionsrecht in gleicher Weise zugestanden wird. Hochschulübergreifende Promotionszentren oder -kollegs, denen, wie in Hessen und Nordrhein-Westfalen, das Promotionsrecht verliehen wurde, stellen sich hier als richtungsweisend dar. Unter dem Gesichtspunkt der Wissensbildung ist danach zu fragen, wie unter den gegenwärtigen Bedingungen Wissen im Kontext der Disziplin generiert, weitergegeben und geteilt wird bzw. werden kann. Zudem ist zu klären, wie der ungebrochenen Nachfrage nach Studienplätzen in der Sozialen Arbeit begegnet werden kann. Derzeit werden diese Bedarfe vielfach von privatgewerblichen Hochschulen mit ihren häufig dualen oder Fern- oder Onlinestudiengängen aufgefangen. Welches Wissen hier in welcher Art und Weise weitergegeben wird und inwieweit in diesem florierenden Sektor den Anforderungen an die Professionalität Sozialer Arbeit entsprechend (aus-)gebildet wird, ist noch nicht hinreichend geklärt.
In der Praxis nimmt die Beschäftigungsquote auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts weiterhin zu. Dabei differenziert sich die Soziale Arbeit theoretisch, forschend und handelnd immer weiter aus. Gleichzeitig stellen sich hier Fragen der professionellen Zuständigkeit, etwa indem andere Berufe oder Professionen in originären Domänen der Sozialen Arbeit eingesetzt werden oder ihrerseits sozialarbeiterische bzw. sozialpädagogische Ansätze übernehmen. Zudem sehen sich viele Kolleg*innen in der Praxis mit der Herausforderung konfrontiert, komplexer und umfangreicher werdende Aufgaben mit einer inadäquaten Ausstattung an Ressourcen zu bewältigen. Mit Blick auf das Wissen kann hier z.B. gefragt werden, wie Fachkräfte Sozialer Arbeit ihr Wissen in die Kooperation mit Angehörigen anderer Professionen einbringen, wie sie das Wissen der Adressat*innen aufgreifen und wie sie mit Wissen und Nichtwissen im kollegialen und organisationalen Kontext umgehen.
Die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen sind gegenwärtig vielfältig, komplex miteinander verwoben und vielfach krisenhaft. Neue Kriegs- und Fluchtgeschehen in der Welt, die Klimakrise, die gesellschaftlichen Folgen von Pandemien und neue Dimensionen von Armut sind hier als einige Stichworte zu nennen. Wie greift die Soziale Arbeit diese Entwicklungen auf, welches Wissen kann sie zur Lösung gesellschaftlicher Probleme zur Verfügung stellen?
Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen fokussiert der vorliegende Band die inhaltliche Ausrichtung und strukturelle Verfasstheit der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit. Wissen als dynamisches, relationales und oft widersprüchliches Gefüge, das von unterschiedlichen Akteur*innen eingebracht, generiert, weiterentwickelt und geteilt wird, wird in seiner ganzen Breite betrachtet. Dabei steht die Fragestellung im Mittelpunkt, in welcher Art und Weise Disziplin und Profession Sozialer Arbeit die dargestellten Entwicklungen mit dem in ihnen geteilten Wissen aufgreifen, bearbeiten und kritisch zu reflektieren vermögen.
Die DGSA-Jahrestagung 2022, die am 29. und 30. April 2022 online in Kooperation mit der Hochschule RheinMain durchgeführt wurde, bot ein Forum, in dem die Wissensbildung und ihre aktuellen Herausforderungen im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte und Kontexte erörtert wurden. Mehr als 170 empirische, theoretische und praxisnahe Beiträge wurden hier präsentiert und von den über 1000 Teilnehmer*innen diskutiert.
Folgende Fragestellungen wurden dabei reflektiert: Wo und in welcher Weise wird Wissen der Sozialen Arbeit gebildet, weiterentwickelt und geteilt? Welche Bedeutung haben unterschiedliche Wissensformen (z.B. Praxiswissen, Erfahrungswissen, indigenes, theoretisches oder empirisches Wissen) für die Soziale Arbeit, und wie lässt sich ihr Verhältnis zueinander bestimmen? Wie wird Wissen im Kontext intersektional strukturierter Machtverhältnisse genutzt? Wie wird aus Wissen Können und aus Können Wissen, und welche Konsequenzen lassen sich daraus für Praxis, Lehre, Forschung und Theoriebildung ziehen? In welcher Weise trägt schließlich das Wissen aus Disziplin und Profession Sozialer Arbeit zur Lösung sozialer Probleme und zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung bei?
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Theorie, Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit, Band 26
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