Schauplätze der Digitalisierung und deren pädagogische Deutungsmöglichkeiten: Wir haben ein Interview mit Maximilian Waldmann zu seinem neuen Buch Kritische Medienbildung. Eine Einführung in Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse digitaler Kultur geführt.
Interview zum Buch „Kritische Medienbildung“
Lieber Maximilian Waldmann, worum geht es in Kritische Medienbildung?
Mein Buch geht der Frage nach, wie wir ein distanziertes Verhältnis zur digitalen Kultur einnehmen können. Das ist insofern nicht ganz leicht, weil unser Alltag ja permanent von Digitalität geprägt ist und ohne die dazu gehörigen technischen und kulturellen Infrastrukturen undenkbar wäre. Kritische Bildungsprozesse leben jedoch von einer reflexiven Distanz zu den Dingen. In einer Kultur der Digitalität, die uns wie eine zweite Natur umgibt, ist Abstand nicht ohne Weiteres zu gewinnen. Dass dies dennoch gelingen kann, möchte dieses Buch zeigen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Anleitung oder ein Rezept, das wir einfach befolgen müssen, um ‚gebildet‘ zu sein. Vielmehr geht es um das Aufzeigen kritischer Einsätze, die auf unsere lebensweltlichen Routinen in einer Kultur der Digitalität gerichtet sind. Dazu setzt das Buch an drei Punkten an, die uns als soziale Wesen konstituieren: das Verhältnis zu uns selbst, die Beziehung zu Anderen und die Relation zu unterschiedlichen Ordnungsgefügen. Die digitale Kultur verändert diese drei Bezugsgrößen nachhaltig, so eine der Hauptthesen des Buches. Formen und Facetten kritischer Medienbildung richten sich in jeweils unterschiedlicher Weise auf den transformativen Einfluss der digitalen Kultur auf diese drei Größen.
Im ersten Teil des Buches geht es um die Beziehung zu uns selbst, die durch Macht in einer Kultur der Digitalität transformiert wird. So zeigt sich unser verändertes Verhältnis zu uns selbst exemplarisch an Apparaturen, die wir in der Regel am Handgelenk tragen und die wie Uhren aussehen, tatsächlich aber noch einiges mehr können und dadurch auf uns selbst in unterschwelliger Weise einwirken. Sie sagen uns zum Beispiel, ob wir genügend Bewegung am Tag hatten und regen damit nicht nur spezifische Verhaltensweisen, sondern auch Selbstdeutungen an. Wenn wir etwa auf die Frage ‚Wie hast geschlafen?‘ im Anschluss an den Blick auf den Schlaf-Tracker mit dem gemessenen Wert antworten, so objektivieren wir den lebendigen Bezug zum Körper, indem wir ihn wie ein quantifizierbares Objekt behandeln. Die Beziehung zur eigenen Körperlichkeit verändert sich dadurch – oftmals ganz subtil und ohne, dass wir die Zeit hätten oder die Notwendigkeit sehen würden, darüber nachzudenken, welche Effekte die ‚digitale Selbstinspektion‘ auf unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung hat. Kritische Medienbildung hilft uns dabei, im Anschluss an unterschiedliche Machtdynamiken, die vereinfacht in dem skizzierten Self-Tracking-Beispiel zum Ausdruck kamen, der Frage nachzugehen, wie und warum wir uns von solchen Apparaturen freiwillig lenken lassen. Kritische Medienbildung fragt im Anschluss daran, was es bedeuten kann, sich selbst nicht bloß als Datensubjekt zu begreifen und derart lenken zu lassen.
Ein weiteres Einsatzfeld kritischer Medienbildung findet sich in den Beziehungen zu Anderen, die bevorzugt über Soziale Medien gestaltet werden und die das Thema des zweiten Hauptkapitels des Buches sind. Dabei sind wir uns in der Regel nicht gewahr, dass die digitalen Öffentlichkeiten Sozialer Medien eigenen Mechanismen und Mustern folgen. Sie haben viel mit den dahinterstehenden Plattformen und deren Anbietern zu tun, die zumeist monetäre Interessen verfolgen. Ebenso wenig bewusst ist vielen von uns in der Nutzung Sozialer Medien, dass diese ein Austragungsort von gesellschaftlichen Kämpfen sind, in denen einige von uns – meist deprivilegierte Menschen – systematisch erniedrigt, beleidigt oder zur Zielscheibe von Hassrede werden. Kritische Medienbildung ergründet das Zusammenwirken von Plattformökonomien mit digitaler hate speech und ähnlichen Phänomenen und stellt einen Reflexionsrahmen bereit, um die eigene (ungewollte) Verstrickung in Dynamiken der virtuellen Dämonisierung von Anderen selbstkritisch aufarbeiten zu können.
Schließlich helfen uns Medienbildungsprozesse dabei zu verstehen, warum selbstlernende Algorithmen keine neutralen Technologien sind, sondern soziale Ungleichheitsverhältnisse verschleiern, reproduzieren oder sogar verstärken können. Leitet ist die Frage, wie wir in unseren indirekten Beziehungen zu Algorithmen (beispielsweise bei der Nutzung von Suchmaschinen) die Bezüge zu gesellschaftlichen Ordnungsgefügen mitreflektieren können. Das ist insofern eine spannende Herausforderung, als uns ‚intelligente‘ Algorithmen nicht transparent sind und uns ihr Einfluss auf Selbst- und Weltwahrnehmungsweisen sowie gesellschaftliche Aufstiegsressourcen kaum bewusst werden kann. Wie trotz dieser Opazität von Algorithmen Medienbildung initiiert werden kann, diskutiert der dritte Teil meines Buches.
Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?
Vieles im Leben passiert wahrscheinlich eher zufällig und ungeplant und wird erst im Nachhinein mit einem spezifischen Sinn versehen. So war es zumindest mit dem Entstehungsprozess des Buches.
Als ich vor sieben Jahren meinen Job an der Fernuniversität in Hagen begann, war ich vor die Schwierigkeit gestellt, Lehrmaterialien für die damals noch neue Lerneinheit der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Medien und Bildung zu entwickeln. Hier ging es speziell um die Frage, wie die digitale Transformation unsere lebensweltlichen Verhältnisse und damit auch Lern- und Bildungsprozesse prägt und mitverändert. Da in der Fernlehre Studienbriefe anstelle der für Präsenzuniversitäten typischen Vorlesungen üblich sind, entstand im Laufe meiner Lehr- und Forschungstätigkeit der Studienbrief „Macht – Medien – Bildung“.
Dieser Studienbrief sollte – ohne das vorherzusehen – eine Grundlage des vorliegenden Buches über Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse der digitalen Kultur und deren Implikationen für die Medienbildung bilden. Die Bezüge zu dem, was man Herrschaft nennen kann und auf die Beziehungen zu Anderen gerichtet ist, waren damals thematisch von mir schon angelegt und wurden nach und nach um aktuelle Diskurse zu Plattformökonomien und digitale Teilöffentlichkeiten (Soziale Medien) erweitert.
Allerdings hatte ich noch nichts zu Ungleichheit geschrieben, obwohl mich das gesellschaftliche Schlüsselproblem schon eine Weile umgetrieben hatte und ich dazu auch unbedingt etwas veröffentlichen wollte. Allein, es fehlte wohl ein konkreter Anlass. Und so wäre das dritte Hauptkapitel zur algorithmischen Ungleichheit wohl auch nie entstanden, wenn nicht Prof. Dr. Katharina Walgenbach, meine Chefin, 2022 auf einer Tagung einer Lektorin des Verlags Barbara Budrich begegnet wäre und ihr von meinem Studienbrief erzählt hätte. Das war dann letztlich der Anstoß und gleichermaßen eine Motivation für mich, auch noch den dritten Teil zu verfassen und das Buch schließlich im Verlag zu veröffentlichen.
Wie lassen sich die identifizierten Herrschafts- und Machtdynamiken für pädagogische Überlegungen kritisch reflektieren?
Eine kritische Einführung in die digitale Kultur kann – insbesondere, wenn sie einen bildungstheoretischen Anspruch verfolgt – nicht auf Erkenntnisse und das Wissen anderer Disziplinen sowie auf deren Perspektiven verzichten. Das Buch eröffnet deshalb ein interdisziplinäres Zugangsspektrum zu Macht, Herrschaft und Ungleichheit. Dazu zählen soziologische, kultur-, medien- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze sowie Postcolonial und Gender Studies wie auch Informatik und neue Materialismen.
Das Ziel besteht darin, Deutungs- und Interventionsmöglichkeiten aufzuzeigen sowie in unterschiedliche Konzepte von Medienbildung und verwandte Begriffe einzuführen. Dieses breite Spektrum an Zugängen bildet die Grundlage für eine pädagogische Reflexion der digitalen Kultur. Erst im Hin- und herwenden, im Zerlegen, Neu-Zusammensetzen, im Biegen oder auch Verfremden eines Problems entstehen neue Reflexionshorizonte. Dabei geht es nicht allein darum, anderes zu sehen oder neues in Erfahrung zu bringen, sondern wichtiger noch: einen anderen Blick auf unsere bisherigen Relationen zum Alltag zu entwickeln.
Ich möchte nicht schon alles vorwegnehmen und die Frage nach den bildenden Reflexionsmöglichkeiten stattdessen mit einem kleinen ‚Appetizer‘ im Verweis auf die Inhalte des Buches beantworten: Bildung ist in Kontexten der Kontrollmacht dann möglich, wenn Reflexion an kritisch-emanzipatorische, entsubjektivierende Impulse geknüpft wird. Bildung bleibt dabei stets an die Ambivalenz der Subjektwerdung in der digitalen Kultur gebunden. Kritische Bildung meint in der digitalen Kultur, sich nicht derart und nicht dermaßen zu verdaten bzw. kontrollieren zu lassen. In Hinblick auf die Herrschaftsdynamiken von Plattformen tritt Bildung mit dem reflexiven Interventionsanspruch der Hegemonieselbstkritik auf. Sie erfolgt auf Basis unterschiedlicher Fähigkeiten, digital-mediale Herrschaftsdynamiken in den Beziehungen zu Anderen innerhalb digitaler Zeichenökonomien entschlüsseln zu können. Geht es um Ungleichheit in der digitalen Kultur, so zeigen sich Bildungsanlässe dann, wenn Auswirkungen algorithmischer Differenzierungen auf Andere medial bezeugt oder Spielraume ausgelotet werden, Gewohnheiten umzubilden und Handlungsmacht in algorithmischen Ungleichheitsgefügen kollektiv neu zu verteilen.
Darum bin ich Autor bei Budrich
Ich hatte bereits positive Erfahrungen im Zuge der Veröffentlichung meiner Dissertation 2019 (Queer/Feminismus und kritische Männlichkeit) mit dem Verlag gemacht. Aus diesem Grund habe ich auch nicht gezögert, mein aktuelles Buch wieder bei Budrich zu publizieren. Die Nähe zum Lektorat, die umfangreiche Betreuung bei der Erstellung der Druckvorlage sowie die durchweg zufriedenstellende Qualität des fertigen Produktes haben mir auch dieses Mal wieder bestätigt, dass der Verlag eine sehr gute Adresse für die Veröffentlichung ist.
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Maximilian Waldmann:
Der Autor
Seit 2018 arbeite ich an der Fernuniversität in Hagen als Post-Doc im Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen von Medien, Bildung und Lernen. Zuvor war ich an den Universitäten zu Köln und Jena tätig, wo ich 2018 promoviert habe. Thematisch bewege ich mich innerhalb eines breiten Spektrums zwischen Medien- und allgemeiner Pädagogik, erziehungswissenschaftlicher Geschlechter- und Ungleichheitsforschung sowie den epistemologischen und sozialtheoretischen Grundlagen von Erziehung, Bildung, Lernen, Sozialisation und Sorge in mehr als digitalen Kulturen.
Über „Kritische Medienbildung“
Die Digitalisierung hat unseren Alltag durchdrungen, sie verändert das Verhältnis zu uns selbst ebenso wie das Verhältnis zu Anderen. Welche medienpädagogischen Herausforderungen ergeben sich dadurch? Welche Herrschafts- und Machtdynamiken verbergen sich hinter der Digitalisierung? Wie lassen sie sich diagnostizieren und für pädagogische Überlegungen kritisch reflektieren? Das Lehrbuch beleuchtet Schauplätze der Digitalisierung, wie Gamifizierung, Selbstvermessung des Lernens oder die Politisierung sozialer Medien, und zeigt pädagogische Deutungsmöglichkeiten auf. Diskussionsfragen leiten zur Reflexion der eigenen pädagogischen Standpunkte in Theorie und Praxis an.
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© Foto Maximilian Waldmann: privat | Titelbild gestaltet mit canva.com