Kinderschutz: Kindertagespflege als sicherer Ort?

Erörterung eines an den Rechten der Kinder orientierten Kinderschutzes: Leseprobe aus Kinderschutz in der Kindertagespflege. Eine kinderrechtsbasierte Einführung von Jörg Maywald.

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Kinderschutz in der Kindertagespflege: Einführung

Aus Sicht junger Kinder gibt es gute Gründe für die Betreuung durch eine Kindertagespflegeperson. Kindertagespflegestellen sind familiennahe Orte, an denen bis zu fünf Kinder von einer Tagesmutter oder einem Tagesvater tagsüber betreut werden. Die Betreuung findet zumeist in privaten Räumen oder extra dafür angemieteten und üblicherweise gut überschaubaren Räumlichkeiten statt. Die Kinder bauen in der Regel enge, bindungsähnliche Beziehungen zur Kindertagespflegeperson auf, die in Ergänzung zu den Eltern zu einer verlässlichen Person im Alltag wird.

Die anderen Kinder werden zu wichtigen Spielpartner:innen, gerade wenn zu Hause (noch) keine Geschwister vorhanden sind. Aufgrund der kleinen Gruppe ist die Kindertagespflegeperson besonders gut in der Lage, die individuellen Bedürfnisse jedes Kindes zu berücksichtigen. Die Kinder können sich in hohem Maße an der Gestaltung des Alltags beteiligen. Kindertagespflegeperson und Eltern stehen in engem Austausch und gehen eine intensive Erziehungs- und Bildungspartnerschaft ein. In vielen Fällen bietet die Kindertagespflegestelle eine große Flexibilität, so dass eine Betreuung auch bei ungewöhnlichen Arbeitszeiten der Eltern möglich ist.

Neben den Chancen sind mit der Kindertagespflege auch Risiken verbunden. Da die Kindertagespflegeperson zumeist alleine tätig ist, haben Kinder und Eltern keine Ausweichmöglichkeiten, wenn die Beziehung zu dieser Person weniger gut funktioniert. Im Fall von Krankheit oder Urlaub, oder wenn die Kindertagespflegeperson ihre Tätigkeit beendet, müssen die betroffenen Kinder nicht nur einen personellen, sondern auch einen räumlichen Wechsel bewältigen. Die Qualifizierung entspricht in den meisten Fällen nicht dem Niveau pädagogischer Fachkräfte in Kitas, auch wenn Kindertagespflegepersonen verpflichtet sind, berufsvorbereitende und berufsbegleitende Qualifizierungskurse zu absolvieren. Aufgrund des fehlenden Teams ist es für Kindertagespflegepersonen nicht einfach, ihre Arbeit kollegial zu reflektieren und bei Konflikten eine zweite Meinung einzuholen.

Auch wenn Kindertagespflege im Vergleich zu Kindertageseinrichtungen (Kitas) deutlich weniger in Anspruch genommen wird, so ist sie doch für eine große Zahl insbesondere sehr junger Kinder und deren Eltern attraktiv. Im Jahr 2023 betreuten rund 41.000 Kindertagespflegepersonen in Deutschland insgesamt etwa 167.000 Kinder. Mehr als 80 Prozent der in Kindertagespflege betreuten Kinder waren im Alter zwischen null und drei Jahren. Unabhängig von der gewählten Betreuungsform lag die Tagesbetreuungsquote der Unter-Dreijährigen zu diesem Zeitpunkt bei 36,4 Prozent. Von den insgesamt rund 857.000 betreuten Kindern dieser Altersgruppe besuchten etwa 722.000 Kin10 der eine Kindertageseinrichtung, rund 135.000 Kinder – also etwa 16 Prozent – wurden in Kindertagespflege betreut (Statistisches Bundesamt o.Jg.).

Aufgrund ihrer hohen Fürsorgeabhängigkeit und weil sie noch nicht imstande sind, selbst Hilfe zu holen, sind Kinder in den ersten Lebensjahren besonders verletzlich. Der Schutz ihrer Rechte und vor allem der Schutz vor Gewalt sind daher sehr wichtig. Eltern wollen in der Regel das Beste für ihr Kind und sie wissen, dass Gewalt kein Erziehungsmittel sein darf. Aber nicht alle Eltern schaffen es, auf Gewalt zu verzichten. Kindertagespflegepersonen betreuen die Kinder über viele Stunden an den meisten Tagen im Jahr. Sie sind daher besonders gut geeignet, Hinweise auf seelische, körperliche oder sexualisierte Gewalt oder Vernachlässigung in Familien frühzeitig zu erkennen und auf Hilfen hinzuwirken.

Mit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) im Jahr 2021 wurde der Schutzauftrag der Kindertagespflege ausdrücklich gesetzlich verankert. Kindertagespflegepersonen sind nunmehr verpflichtet, bei gewichtigen Anhaltspunkten für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes eine Gefährdungseinschätzung vorzunehmen, eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzuzuziehen, das Gespräch mit den Eltern zu suchen und gegebenenfalls weitere Schritte wie zum Beispiel eine Information des Jugendamtes zu unternehmen.

Für die Praxis ergeben sich zahlreiche Fragen. Wann genau ist die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung überschritten? Woran kann ich eine Gefährdung erkennen? Welche Möglichkeiten der Risikoeinschätzung gibt es? Wie kann eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen werden? Auf welche Weise kann ich die Eltern ansprechen und für Hilfen motivieren? Was tun, wenn die Eltern nicht bereit sind, Hilfen anzunehmen? Wann muss das Jugendamt informiert werden und mit welchen Konsequenzen ist dann zu rechnen? Wie hoch ist das Risiko, dass Eltern in einem solchen Fall den Platz in der Kindertagespflegestelle kündigen? Wie kann die Fachberatung im Jugendamt oder bei einem freien Träger in dem gesamten Prozess unterstützend beraten?

Fehlverhalten und Gewalt können auch von Kindertagespflegepersonen oder anderen in ihrem Haushalt lebenden Personen ausgehen. Da die Kindertagespflegeperson in einem professionellen Feld tätig ist, muss ihr Handeln höheren Ansprüchen genügen, als dies von Eltern erwartet werden kann. Nicht erst im Falle einer Kindeswohlgefährdung, sondern bereits bei einer Beeinträchtigung des Kindeswohls sind Konsequenzen notwendig. Im Unterschied zu Kindertageseinrichtungen gibt es für die Kindertagespflege zwar bisher noch keine bundesgesetzliche Verpflichtung zur Erarbeitung eines Gewaltschutzkonzepts. Aber zahlreiche Jugendämter, Fachberatungsstellen und Verbände im Bereich der Kindertagespflege setzen sich für die Erarbeitung solcher Schutzkonzepte ein, eine aus kinderrechtlicher Perspektive zu begrüßende Entwicklung.

Auch mit Blick auf den institutionellen Kinderschutz in der Kindertagespflege tauchen viele Fragen auf. Welche Formen, Ursachen und Folgen des Fehlverhaltens von Kindertagespflegepersonen gibt es? Wann muss von einer Beeinträchtigung des Kindeswohls gesprochen werden? Welche Möglichkeiten der Prävention gibt es? Was tun, wenn etwas passiert ist? Welche Bausteine gehören zu einem Gewaltschutzkonzept und wie kann ein solches Konzept erarbeitet werden?

Das vorliegende Buch behandelt die rechtlichen und fachlichen Aspekte rund um den Kinderschutz in der Kindertagespflege. Dafür ist es notwendig, die Kindertagespflege vom Kind aus zu denken und die Interessen und Rechte der Kinder in den Mittelpunkt zu stellen. Der Fokus liegt auf der Erörterung eines an den Rechten der Kinder orientierten Kinderschutzes. Vor allem sollen Antworten auf folgende Fragen gegeben werden:

  • Welche Rechte haben Kinder in der Kindertagespflege?
  • Was ist unter Kindeswohl zu verstehen?
  • Welcher Zusammenhang besteht zwischen Kindeswille und Kindeswohl?
  • In welchem Verhältnis stehen Kinderrechte, Elternrechte und staatliches Wächteramt?
  • Wie hat sich das gesellschaftliche Bild vom Kind verändert?
  • Was bedeutet kinderrechtsbasierter Kinderschutz?
  • Welche rechtlichen Rahmenbedingungen sind zu beachten?
  • Wie ist der Schutzauftrag von Kindertagespflegepersonen zu verstehen?
  • Was gehört in die Vereinbarungen zum Kinderschutz gemäß § 8a Absatz 5 SGB VIII?
  • Worin bestehen wichtige Formen, Ursachen und Folgen von Gewalt?
  • Wie können Kinder vor Gewalt im familiären Bereich geschützt werden?
  • Was tun bei Fehlverhalten und Gewalt durch Kindertagespflegepersonen?
  • Wie kann der Kinderrechtsansatz in der Kindertagespflege verwirklicht werden?
  • Was sind die Bausteine eines Gewaltschutzkonzepts?
  • Welche ethischen Grundsätze sind in pädagogischen Beziehungen zu beachten?

Normativer Bezugspunkt bei der Beantwortung dieser Fragen sind die globalen Kinderrechte, wie sie in der praktisch universell ratifizierten und auch in Deutschland uneingeschränkt geltenden UN-Kinderrechtskonvention niedergelegt sind. Kennzeichnend für einen solchen Kinderrechtsansatz ist, dass nicht allein nach den Bedürfnissen, sondern gleichermaßen nach den Rechten der Kinder gefragt wird. Der Kinderrechtsansatz bildet den Rahmen zur Ausrichtung des Handelns an den Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention. Damit ist er ein auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern ausgerichteter Menschenrechtsansatz.

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Cover Maywald KinderschutzJörg Maywald:

Kinderschutz in der Kindertagespflege. Eine kinderrechtsbasierte Einführung

 

 

 

 

Der Autor

Prof. Dr. Jörg Maywald, Honorarprofessor an der Fachhochschule Potsdam. Weitere Informationen zum Autor und seinen Publikationen unter www.joerg-maywald.de.

 

Über „Kinderschutz in der Kindertagespflege“

Jedes Kind hat das Recht auf Schutz vor Gefahren für sein Wohl. Körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt im Bereich der Familie gehören ebenso dazu wie Fehlverhalten und Gewalt durch Kindertagespflegepersonen. Der Autor stellt dar, was unter einem kinderrechtsbasierten Kinderschutz zu verstehen ist. Anhand zahlreicher Beispiele erörtert er, welche Maßnahmen zur Prävention und Intervention notwendig sind, damit Kindertagespflegestellen zu sicheren Orten für Kinder werden.

 

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© Titelbild gestaltet mit canva.com