KI-gestützte Literaturrecherche

Frau mit Buch und Handy. KI-gestützte Literaturrecherche

Wie sich KI-gestützte Literaturrecherche in der Praxis gestaltet und ob der Einsatz von KI-Recherchetools zum jetzigen Zeitpunkt empfehlenswert ist, erläutert Recherche-Expertin Heike Baller in diesem Blogpost.

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Literaturrecherche gehört zu jeder wissenschaftlichen Arbeit, sei es eine Haus- oder Abschlussarbeit, und über­haupt zu jeder Art wissenschaftlichen Arbeitens. Auch in der Forschung begleitet sie Forschende ihr ganzes Be­rufsleben lang. Der Umfang kann variieren, die Methode „Literaturrecherche“ nicht.

Nun ist seit November 2022 Künstliche Intelligenz (KI, oder englisch AI) in aller Munde. Der Launch von ChatGPT hat einen Hype zum Thema ausgelöst. Den meisten ist schon klar, dass ChatGPT nicht zur Literaturrecherche taugt – aber in den letzten Monaten sind neue KI-Tools aufgekommen, die Unterstützung bei der Literaturre­cherche versprechen. Was ist da dran?

Bevor in dieser Reihe einzelne Tools im Vordergrund ste­hen, soll es um ein paar Gedanken rund um die KI-ge­stützte Literaturrecherche gehen.

 

KI-gestützte Literaturrecherche: Welche Quellen nutzen KI-gestützte Recherche-Tools?

Wenn Sie seriös und umfassend recherchieren wollen, müssen Sie sicher sein, möglichst breit aufgestellte Quel­len zu nutzen. Dazu gehören:

  • „Sammelstellen“ wichtiger Journals – von Google Scholar über OPAC, Datenbanken bis Web of Science, alles Tools, bei denen keine KI eingesetzt wird. Seit einiger Zeit gilt es nun auch, geeignete KI-gestützte Tools zu nutzen.
  • Je nach Fachgebiet sollte der Erscheinungszeitraum der von diesem Tool erfassten Literatur länger sein als die letzten zehn Jahre.
  • Quellen mit Literatur, die nicht nur im Open Access verfügbar ist.

Dieser letzte Punkt ist ein Thema, das je nach Fachgebiet unterschiedlich zu gewichten ist – es ist jedoch klar, dass die Forschung in vielen Bereichen in Zeitschriften oder anderen Publikationen weitergetrieben wird, die nicht im Open Access zur Verfügung stehen.

Die Quellenlage eines Recherche-Tools zu kennen, sei es ein OPAC, eine Datenbank oder eines der neuen KI-ge­stützten Hilfsmittel, ist also sehr wichtig. Verfügt ein Tool über eine „About“- oder FAQ-Seite, ist das oft ein guter Anlaufpunkt, um diese Informationen zu bekommen.

Es gibt Tools zur KI-gestützten Literaturrecherche, bei denen nicht klar ist, welche Quellen ihnen zugrundeliegen. Es dann mit Trial and Error herauszufinden, ist mühsam und nicht wirklich erfolgversprechend. Ein paar Tests können zei­gen, ob da nur dubiose Repositorien kleiner Universitä­ten hinterlegt sind oder verlässliche Quellen, aber das ist dann keine gesicherte Angabe zur Quellengrundlage.

 

Verschiedene Tools nutzen

Wenn die Quellenlage unklar ist, sollten Sie auf jeden Fall weitere Tools hinzunehmen, am besten solche, bei denen Sie sehen können, woher sie ihre Informationen beziehen.

Ein zweiter Grund, mehrere Tools zu nutzen, auch wenn Sie die Quellenlage kennen: Sie kann sehr unterschied­lich sein – ein OPAC z.B. kann nur den Bestand einer Bib­liothek verzeichnen, ein anderer umfasst mehrere Biblio­theken. Eine Datenbank kann einem bestimmten Thema dienen oder – gerade bei den neuen Tools mit KI kommt das häufiger vor – die Quellen stammen vorwiegend aus dem englischsprachigen Raum. Diese Informationen werden oft auf „About“- oder FAQ-Seiten bereitgestellt. Klar ist, dass Tools, die solche Informationen nicht bereit­stellen, schwierig sind – sie sind schwer einzuschätzen und deshalb ist auch ihre Nutzung Abwägungssache.

Die Empfehlung, mehrere Recherchequellen zu verwen­den, gilt natürlich auch für die Angebote ohne KI-Unter­stützung – denken Sie nur an den OPAC Ihrer Hochschule oder Angebote wie Google Scholar oder das DBIS zur Su­che nach Datenbanken. Sie werden sich nie nur auf eines davon beschränken.

 

Was unterscheidet KI-gestützte Literaturrecherche von der ohne KI?

Die Unterschiede zwischen KI-gestützten Tools und sol­chen ohne KI lässt sich am Beispiel von Semantic Scholar ganz gut nachvollziehen. Dieses Tool ist schon seit 2015 am Start und bietet KI-gestützten Zusatznutzen.

KI-Elemente bei Semantic Scholar

Folgende Funktionen bei Semantic Scholar beruhen auf dem Einsatz von KI:

  1. Summary/Zusammenfassung: Semantic Scholar fasst die wichtigsten Erkenntnisse eines Papers zu­sammen. In der Trefferliste oberhalb des Abstracts er­scheint dann: TLDR – hinter dem Kürzel verbirgt sich der Satz „Too long, didn’t read“. Semantic Scholar er­stellt hier eine Kurzzusammenfassung zum jeweiligen Paper. Laut Semantic Scholar wird dabei die Kernaus­sage hervorgehoben. Diese Zusammenfassung gene­riert eine KI anhand des Titels, des Abstracts und ggf. der Keywords.
  2. Zuordnung zu Fachgebieten: Bis zu drei Fachgebie­te können einem Artikel auf Grundlage von Titel und Abstract zugeordnet werden. Auch das geschieht au­tomatisiert.
  3. Citations: Wenn Sie einen Titel in der Langanzeige aufrufen, bekommen Sie nicht nur das Abstract und alle bibliographischen Angaben angezeigt, sondern auch:
  • Tabellen und Bilder
  • References, also die Literaturliste
  • Citations – also Titel, die den aufgerufenen nutzen
  • Related Titles/verwandte Titel

Das „Verständnis“ der KI von bestimmten Begriffen hilft dabei, Tabellen und Bilder aus den Artikeln zu extrahie­ren und einzeln darzustellen, die Literaturliste auszu­lesen (References), weitere Titel zu finden, die entweder den gerade aufgerufenen zitieren (Citations) oder the­matisch verwandt sind (Related Titles).

Vergleicht man diese Art der Recherche mit der „auf Papier“ und „am Regal“, entspricht der Hinweis auf die verwendete Literatur dem Schneeballsystem, bei dem man die Referenzen des vorliegenden Artikels darauf prüft, ob sie zum eigenen Vorhaben passen. Die Nutzung der verwandten Begriffe passt zum sogenannten „berry picking“: also zu schauen, was neben dem Titel noch so steht, wenn die Regale der Bibliothek systematisch sor­tiert sind.

Auch Schlagwörter bei Online-Katalog-Einträ­gen kann man so nutzen: Ruft man bei der Angabe eines Titels in einem OPAC die verlinkten Schlagwörter auf, ist man auf diesen einzelnen Begriff beschränkt. „Berry pi­cking“ ist also noch unsystematischer als das Schneeball­system, bei dem eine Beziehung zwischen dem Artikel, den Sie lesen, und den Referenzen besteht. Bücher, die in demselben Regal stehen oder Titel, die Schlagwörter miteinander teilen, sind im Vergleich dazu eher lose mit­einander verknüpft.

 

Einschränkungen bei Semantic Scholar

Menschen, die Beiträge aus anderen als englischspra­chigen Quellen benötigen, müssen auf jeden Fall wei­tere Quellen nutzen, denn Semantic Scholar hat seinen Schwerpunkt ganz klar im angelsächsischen Raum. Se­hen kann man das in der Liste der Partner*innen – die Verlage und Repositorien sind großenteils in den USA.

Semantic Scholar beschränkt sich auf Titel, die frei zu­gänglich sind – lizenzierte Journals können Sie hier nicht finden:

„Semantic Scholar is free to use and unlike similar search engines (i.e. Google Scholar) does not search for material that is behind a paywall.[5]“1

 

Textgenerierende KI und Literaturrercherche?

Dass ChatGPT und zuverlässige Recherche mit belast­baren Angaben nicht zusammenpassen, ist inzwischen vielen klar. Vor allem, wenn es um die kostenlose Ver­sion gibt, deren Weltwissen im September 2021 endet und die keinen Zugriff aufs WWW hat. Auch GPT 4, das bei ChatGPT+ (dem Bezahl-Modell von Open.ai) und z.B. beim Chatbot von Bing eingesetzt wird, ist keine verläss­liche Quelle – die KI „halluziniert“ sich im Zweifel Quellen zusammen, wenn man danach fragt.

Eine andere textgenerierende KI ist Perplexity.ai, das vom „Virtuellen Kompetenzzentrum – Schreiben lehren und lernen mit KI“ in der Liste von KI-Tools zur Recherche (VKKIWA) mit genannt wird. Grund genug, diesen Aspekt einmal zu testen:

Auch Perplexity.ai beruht auf GPT von Open.ai – doch bringt es zu seinen Texten immer Links. Ist das also eine verlässliche Rechercheoption, die zuverlässige Ergeb­nisse bringt? Ein kleiner Test mit einem ausführlichen Prompt:

„Nenne mir fünf aktuelle wissenschaftliche Artikel rund um das Thema Brustrekonstruktion nach einer Brust­amputation aufgrund einer Krebserkrankung, in denen die Argumente der Betroffenen für die Rekonstruktion untersucht wurden.“

Schon das braucht mehr Zeit als das Eintippen der rele­vanten Begriffe in eine oder mehrere Suchzeilen bei Pub­med oder LIVIVO. Zumindest für Menschen, die regelmä­ßig mit Boole’schen Operatoren, Befehlen und Filtern bei der Literaturrecherche arbeiten.

Wenn Sie textgenerierende KI nutzen, wie z.B. Perple­xity.ai, sollten Sie die Texteingaben, die sogenannten Prompts, trainieren. Sie müssen detailliert und verständ­lich sein und möglichst viele Aspekte abdecken. Ja, Sie können im „Dialog“ mit der KI Informationen nachbes­sern – so wie Sie bei der Trefferliste einer Datenquelle Filter setzen –, aber bis so ein Prompt sitzt, das braucht Übung. Sie sollten möglichst ausführlich die verschiede­nen Aspekte Ihrer Forschungsfrage einbauen. Im „Dia­log“ mit der KI können Sie schreiben, was fehlt, welche Informationen nicht zutreffen und wo Sie Ergänzung wünschen. Das ist ein Prozess in natürlicher Sprache. Der Umstand, in vollständigen Sätzen zu schreiben, kann die Recherche auch vereinfachen – v.a., wenn es um eher einfache Fragen geht.

Die von Perplexity.ai aufgeführten Ergebnisse meiner Re­cherche im Einzelnen:

  • Deutsches Ärzteblatt,
  • die Site apotheke.de,
  • die Site einer Klinik in der Schweiz,
  • die Wiener Klinische Wochenschrift,
  • die Leitlinie zum Thema von 2015.

Die gefundenen Artikel waren aus den Jahren 2020, 2021 und 2022 und damit einigermaßen aktuell, für ein me­dizinisches Thema allerdings ungewöhnlich „alt“, wie die Kontrollrecherche bei PubMed noch zeigen wird.

Beim Wiedereintippen des Prompts ein paar Minuten später brachte Perplexity.ai dieselben Treffer. Das ist eine Verbesserung gegenüber ChatGPT, das jedes Mal neue Ergebnisse produziert und die Reproduzierbarkeit von Recherche so unmöglich macht. Jeder Treff er hat bei Perplexity.ai einen kurzen Satz zum Inhalt – die KI fasst den Text möglichst kurz zusammen. Aber: Die Treffer sind keine wissenschaftlich relevanten Quellen. Selbst der Artikel aus der Zeitschrift „Wiener Klinische Wochenschrift“ nicht, denn es handelt sich dabei nicht um eine Fachzeitschrift zum Thema. Eine kurze Kontrollrecherche bei PubMed mit dem auf (englische) Stichwörter reduzierten Prompt: „breast reconstruction breast cancer surgery arguments for reconstruction“ erbrachte mindestens einen passenden Treff er für das Jahr 2023 – also aktueller als die Treff er von Perplexity.ai.

Für den Zeitraum von fünf Jahren erbrachte PubMed sieben Treffer, von denen mindestens drei vollumfänglich der Frage entsprachen. Die Treffer von Perplexity.ai waren dagegen Überblicksdarstellungen, in denen das Thema teils nur in einem Nebensatz behandelt wurde, teils gar nicht. Perplexity.ai bringt Links – und oft passen sie sowohl zur Aussage als auch zum Thema. Allerdings nicht immer. Am ehesten noch bei einer Internetrecherche zu allgemeinen Themen. Die Suche nach dem Prompt: „Wie beeinflussen Klimawandel oder Ozeanerwärmung die Korallenbleiche? Antwort bitte auf Deutsch“ brachte eine ausführliche Antwort.

Oberhalb des Textes sind die verwendeten Links angegeben, die mit Fußnoten im Text zitiert werden. Der erste Abschnitt bringt inhaltlich passende Aussagen: Die Ziffern der Fußoten machen deutlich, dass vor allem die erste Quelle – ein Beitrag von ARDalpha – zur Erstellung herangezogen wurde. Perplexity.ai hat analog zu Suchmaschinen keinen Zugriff auf Datenbanken. Deshalb ist eine Recherche mit dem Tool nur innerhalb des WWW möglich.

Der ursprüngliche Test mit dem Tool fand im Juli 2023 statt – bei dem Versuch, ihn im August 2023 zu wiederholen, erschien ein anderer Text. Textgenerierende KI geben keine konsistenten Aussagen ab, die bei ein und derselben Frage in zeitlichem Abstand immer das gleiche Ergebnis bringen. Damit sind die Ergebnisse nicht reproduzierbar und für wissenschaftliche Belange nicht geeignet.

 

Fazit

Der Einsatz von KI-gestützten Tools in der Literaturre­cherche ist eine Option, bei der Sie viel abwägen müs­sen. Wie bei anderen Recherche-Tools gilt auch für KI-ge­stützte Hilfsmittel, dass verschiedene Quellen die Gefahr verringern, nicht alle relevanten Titel zu erfassen. Sie be­nötigen also Hintergrundwissen zu den Tools: zur Quel­lenlage und ggf. zu thematischen Schwerpunkten. Um Ihre Recherche ausreichend breit aufzustellen, sollten Sie sich klarmachen, welche Quellen Sie benötigen, und überprüfen, ob die Hilfsmittel die Ihrem Vorhaben ent­sprechende Grundlage bieten, also zum Thema passen und einen passenden Publikationszeitraum abdecken.

Meist ist das nur in Kombination verschiedener Tools zu erreichen. Das gilt für KI-gestützte Angebote wie für die bisher üblichen Angebote, wie OPAC und Datenbanken.

Im weiteren Verlauf der Reihe stelle ich Ihnen verschiede­ne Tools vor, die explizit für KI-gestützte Literaturrecherche konzipiert wurden oder Literaturrecherche als wichtiges Element berücksichtigen. Wie sich der Einsatz von KI dabei be­merkbar macht, welche Vorteile daraus entstehen und welche Risiken eventuell zu berücksichtigen sind, wer­den neben einer Anleitung für die Tools meine Themen sein.

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1 Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Semantic_Scholar#Technolo­gy (letzter Zugriff am 05.09.2023).

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Dieser Beitrag über KI-gestützte Literaturrecherche wurde erstmalig in der Exposé – Zeitschrift für wissenschaftliches Schreiben und Publizieren 2-2023 mit dem Schwerpunktthema „Digitale Innovationen“ veröffentlicht.

 

Die Autorin: Heike Baller

Heike BallerDie Autorin Heike Baller arbeitet seit 1995 als freiberufliche Rechercheurin. Ihr in diesen Jahren erworbenes Wissen rund um Internet- und Literaturrecherche gibt sie in Seminaren und Workshops weiter und bietet individuelle Unterstützung in Form von 1:1-Recherche-Coachings. Ihr Blog bei Profi-Wissen ist eine Fundgrube voller Recherche-Tipps.

 

 

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© Titelbild: pexels.com | Shantanu Kumar ; Bild Heike Baller: Susanne Fern