„Ein gesellschaftlich tabuisiertes und durch die Forschung vernachlässigten Phänomen“ – Interview mit den Autorinnen von „Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der stationären Altenhilfe”

Cover "Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der statonären Altenhilfe"

Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der stationären Altenhilfe
Herausforderungen für die Soziale Arbeit

von Charlotte Rimbach, Sabrina Schmidt, Julia Steinfort-Diedenhofen und Karla Verlinden

 

Über das Buch

Das Thema sexualisierte Gewalt im Kontext stationärer Altenhilfe kann als ein Forschungsdesiderat bezeichnet werden, wie der im Rahmen dieser Arbeit entstandene Datenkorpus belegt. Das Buch untersucht und identifiziert sexualisierte Gewalt gegen Bewohnerinnen der stationären Altenhilfe als bislang kaum beachtetes Phänomen und als praktische Herausforderung in diesem Feld. So wird mittels einer systematischen Literaturrecherche dieses Thema als deutliches Forschungsdesiderat im (inter-)nationalen Raum rekonstruiert und als Auftrag für Disziplin und Profession Sozialer Arbeit diskutiert.

 

Liebe Autorinnen, worum geht es in Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der stationären Altenhilfe?

Das Buch ist das Ergebnis einer interdisziplinären, theoretischen Auseinandersetzung mit den Herausforderungen sexualisierter Gewalt in Einrichtungen der Altenhilfe. Dabei fokussieren wir uns mittels Scoping Review auf alte Frauen, die in Pflegeeinrichtungen leben und von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Wir zeigen auf, dass es sich hier um ein gesellschaftlich tabuisiertes und durch die Forschung vernachlässigten Phänomen handelt. Die Analyse des nationalen und internationalen Forschungsstandes entfaltet sexualisierte Gewalt an alten Frauen als ein vielschichtiges Phänomen, welches entsprechend Interventions- und Präventionsbemühungen bedarf. Diese Komplexität ist vermutlich auch ein Grund dafür, dass im Handlungsfeld der Altenhilfe bislang kaum institutionalisierte Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt vorhanden sind. Fachkräfte und Interessierte finden in diesem Buch eine Vielzahl an Informationen zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen in der stationären Altenhilfe. Die verschiedenen Fachgebiete von uns Autorinnen (Soziale Arbeit, Bildungswissenschaften und Geragogik) ermöglichten uns dieses bisher kaum beachtete Thema transdisziplinär zu beleuchten.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Im Rahmen unserer Forschungen in den verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit sind wir immer wieder mit dem Themen- und Problemfeld sexualisierter Gewalt konfrontiert. Außer im Handlungsfeld der Altenhilfe – dort vermissten wir den Diskurs zu sexualisierter Gewalt gegen die Adressat*innen. Wir kamen nicht umhin uns zu fragen: Sind Personen höheren Alters etwa nicht von sexualisierter Gewalt betroffen? Es tat sich uns eine Forschungslücke auf und ließ den Wunsch entstehen, hier einmal genauer hinschauen. Charlotte Rimbach griff diese zunächst im Rahmen ihrer Bachelorthesis auf und legte den Fokus auf Bewohnerinnen der stationären Altenhilfe als Betroffene sexualisierter Gewalt. Das Ergebnis war eine beeindruckende erste Analyse und die Initialzündung für uns Vier, das Thema noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und in einem größeren Rahmen zu bearbeiten.

 

Wie ist das Buch Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der stationären Altenhilfe methodologisch aufgebaut?

Zunächst, wie bei einer wissenschaftlichen Arbeit üblich, erfolgt eine Klärung und Eingrenzung der für die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt in der stationären Altenhilfe relevanten Begrifflichkeiten und ihrer Verortung in ihren jeweiligen Diskursen und Kontexten. So konnten wir uns sowohl der vielfältigen Lebenswirklichkeiten der Bewohnerinnen annähern als auch das Forschungs- und Handlungsfeld der stationären Altenhilfe konturieren. Der zweite Schritt, der in unserem Buch nachzuvollziehen ist, ist die Bestandsaufnahme der (sozial‐)wissenschaftlichen Forschungserkenntnisse, die bislang zum Thema vorliegen. Dazu wurde ein Scoping Review durchgeführt, so dass deutsch- und englischsprachige Fachliteratur systematisch gesichtet und analysiert werden konnte. Ergebnis dieser Analyse ist die Identifikation des Phänomens sexualisierte Gewalt gegen Bewohnerinnen der stationären Altenhilfe als ein für die Soziale Arbeit relevantes soziales Problem, aus dem wir dann sowohl handlungs- als auch forschungsleitende Implikationen abgeleitet haben.

 

Welche zentralen Aufträge für Disziplin und Profession Sozialer Arbeit folgen aus Ihrer Erhebung?

Zum einen bedarf es Ansätze, die eine Sensibilität und Achtsamkeit in den Einrichtungen der Sozialen Arbeit bewirken und damit einen Beitrag zur Verhinderung und Bearbeitung von sexualisierter Gewalt leisten können. Hierfür braucht es Angebote zur Weiterbildung der Fach- und Leitungskräfte, um das Phänomen konzeptionell und methodisch in den jeweiligen Einrichtungen aufgreifen zu können. Dabei sind auch ältere Menschen bis zum Lebensende als Akteur*innen in die Aufdeckung von Taten und (Weiter-)Entwicklung von Strukturen zum Schutz vor und zum Umgang mit sexualisierter Gewalt (und auch generell Machtmissbrauch) einzubeziehen.

Zum anderen braucht es mehr Forschung zu dem Thema, so dass zunehmend gezieltere Maßnahmen zur Prävention und Intervention initiiert werden können.

Diese beiden Aufträge an die Soziale Arbeit als Disziplin und Profession lassen sich jedoch nicht gänzlich umsetzen, wenn es nicht auch zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufmerksamkeit kommt. Auch hier ist die Soziale Arbeit gefragt und sollte einen Beitrag leisten, um sexualisierte Gewalt gegen Bewohnerinnen der stationären Altenhilfe als politisches und damit öffentliches, gesellschaftlich relevantes Thema zu etablieren. Wir stellen also fest: Es gibt viel zu tun!

 

Darum sind wir Autorinnen bei Budrich

Der Verlag Barbara Budrich hat sich immer hervorgetan mit kritischen Texten, die Ungleichheiten und Gewaltverhältnisse aufgreifen. Da war schnell klar, dass dieser Verlag gut zu unserem Buchprojekt passt. Zudem veröffentlicht der Verlag jedes Jahr jene Master- bzw. Bachelorthesis des Fachbereichs Sozialwesen des Kölner Hochschulstandortes, die den so genannten Thesispreis erhält. Und Charlotte Rimbachs Thesis war es, die 2021 diesen Preis gewann und die aber dann außerhalb der Reihe erschien, da wir anderen drei Autorinnen mit hinzukamen und unsere jeweils eigenen Perspektiven ergänzten.

 

Kurzvita

Portrait von Budrich-Autorin Charlotte RimbachCharlotte Rimbach hat den Bachelor Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW absolviert, aktuell studiert sie den Master „Diversität – Forschung – Soziale Arbeit“ an der Universität Kassel. Zuvor arbeitete sie mehr als 2 Jahre mit Freude beim „Altentheater des Freien Werkstatt Theaters“ (Köln) und ehrenamtlich bei „Paula e.V. – Beratungsstelle für Frauen ab 60“. Ihre wissenschaftlichen Interessenschwerpunkte liegen in der (kritischen) Gerontologie, (feministischen) Gewaltforschung, und den Disability Studies.

Portrait von Budrich-Autorin Sabrina SchmidtSabrina Schmidt ist Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe am Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule NRW in Köln. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind die Hilfen zur Erziehung – insbesondere die Heimerziehung – sowie Fragen von professionellem Handeln und Organisieren in der Sozialen Arbeit. Mit Blick auf das Thema sexualisierte Gewalt liegt ihr Fokus auf den organisationalen Bedingungen, die gegebenenfalls Machtmissbrauch erleichtern sowie aufrechterhalten und damit begünstigen können.

Portrait von Budrich-Autorin Julia Steinfort-DiedenhofenJulia Steinfort-Diedenhofen ist seit zehn Jahren Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule NRW in Köln. Dort lehrt und forscht sie im Themengebiet Theorien, Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Geragogik. Die vielfältigen Lebenslagen älterer Menschen und die daraus resultierenden Bildungs- und Lernanlässe sowohl für die Älteren als auch für Fachkräfte, die in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit mit älteren Menschen arbeiten, verfolgt sie mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen. Das Thema der sexualisierten Gewalt ist in der Geragogik bisher noch nicht im Blick gewesen und bildet somit einen neuen, wichtigen Ausgangspunkt weiterer Forschungen.

Portrait von Budrich-Autorin Karla VerlindenKarla Verlinden ist Professorin für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Resilienz an der Katholischen Hochschule NRW. Zudem ist sie approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und hat seit über 15 Jahren Expertise in der Intervention als auch Prävention sexualisierter Gewalt (insbesondere gegen marginalisierte Personengruppen). Ihre Forschungs- und Interessensschwerpunkte sind neben dem Problemfeld sexualisierter Gewalt die Resilienzforschung und sexuelle Bildung – welche Verlinden als zentralen Schlüssel für die Prävention sexualisierter Gewalt ansieht.

 

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Cover "Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der Altenhilfe"Charlotte Rimbach, Karla Verlinden, Sabrina Schmidt, und Julia Steinfort-Diedenhofen:

 

 

 

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© Titelbild: gestaltet mit canva.com; Foto Sabrina Schmidt: Barbara Stralek; Foto Karla Verlinden: Detlef Schumacher; Fotos Charlotte Rimbach, Julia Steinfort-Diedenhofen: privat