„Die Verantwortung für die Lebenswirklichkeiten der Schüler:innen liegt nicht direkt in ihren Händen.“ – Interview mit Robert Pham Xuan, Autor von „Die feinen Unterschiede in der Schullaufbahn”

Cover "Die feinen Unterschiede in der Schullaufbahn"

Die feinen Unterschiede in der Schullaufbahn
Rekonstruktionen zum Schüler:innenhabitus beim Übertritt von der Mittelschule ins Gymnasium

von Robert Pham Xuan

 

Über das Buch

Schulische Übertritte sind seit einiger Zeit Gegenstand erziehungs- und bildungswissenschaftlicher Forschungsdiskurse. Gerade im mehrgliedrigen Schulsystem Österreichs zeigen sich an diesen Übergängen vielfältige Exklusionsmechanismen. In der vorliegenden Forschungsarbeit geht der Autor der Frage nach, welche Habitusformationen bei einem Übertritt von der Mittelschule in die gymnasiale Oberstufe rekonstruiert werden können und was die Ergebnisse für eine inklusive und ungleichheitsreflexive Schul- und Unterrichtsentwicklung leisten können. Hierfür führte der Autor eine qualitative Interviewstudie mit ehemaligen Mittelschüler*innen in Österreich, 12 Wochen nach ihrem Übertritt, durch.

 

Lieber Robert Pham Xuan, worum geht es in Die feinen Unterschiede in der Schullaufbahn?

In dieser Arbeit geht es um Schulübertritte im österreichischen Schulsystem. Ganz konkret geht es dabei um jene Übertritte von Schüler:innen, die aus einer Mittelschule in die Oberstufe eines allgemeinbildenden Gymnasiums übertreten. Des Weiteren gibt es hier die Besonderheit, dass die empirischen Daten dieser Untersuchung aus Interviews von Schüler:innen stammen, die nicht nur aus einer Mittelschule übergetreten sind, sondern auch aus Familien kommen, in denen die Elterngeneration keine höheren Schulabschlüsse (Matura) haben.

Aufgrund der Beobachtung, dass derartige Schulübertritte statistisch gesehen sehr selten stattfinden, stellt dieses Forschungsprojekt für mich eine besondere Gegebenheit dar, um über Schulübertritte im mehrgliedrigen Schulsystem Österreichs nachzudenken, und dabei eine empirische Studie zu diesem Übertrittsprozess zu erarbeiten. Dabei entsprang das Forschungsinteresse nicht nur dem spannenden Übertrittsprozess an sich, sondern auch mit Hinblick auf den Diskurs zur bildungsbezogenen Ungleichheit beim Schulübertritt. Es zeichnet sich in diesem Diskurs relativ stark ab, dass bestimmte theoretische Annahmen zu Grunde gelegt werden, um die ungleichen Chancen und die damit einhergehenden Verteilungen bestimmter Schüler:innengruppen an den verschiedenen Schulformen zu erklären.

Ein sehr diskursdominierendes Modell sind hierbei die Rational-Choice-Ansätze, bei denen im Kern des Modells zur Erklärung menschlicher Entscheidungen die Annahme zu Grunde gelegt ist, dass Menschen kalkulierende und bewusste Entscheidungen treffen, wenn sie in die Situation kommen, sich für eine weiterführende Schule zu entscheiden. Ganz konkret hat dies zur Folge, dass bei der Erklärung von ungleichen Verteilungen davon ausgegangen wird, dass die Familien sich in einem intentionalen und bewussten Prozess gegen den Versuch beziehungsweise den Besuch einer höheren Schule entschieden haben. In Konsequenz wird einfach davon gesprochen, dass diese Familien und Kinder die Verantwortung dafür tragen, dass sie keinen Zugang zu höherer Bildung haben.

In der vorliegenden Arbeit habe ich empirisch versucht aufzuzeigen, dass es neben diesem Erklärungsversuch ein weiteres Erklärungsmodell für ungleiche Bildungsbeteiligung gibt, welches nicht von einer intentionalen Steuerung der Entscheidungen ausgeht, sondern vielmehr von impliziten Passungsverhältnissen zwischen dem, was die Kinder als eine Art primären Habitus mitbringen (dieser entsteht in erster Linie durch die primäre Sozialisation in der engsten Familie und ist damit sehr stark an die bildungsbezogenen Haltungen und Einstellungen sowie die Verständnisse von Bildung und Bildungsprozessen der Familie beeinflusst), und jenen Normalitätserwartungen und Vorstellungen der aufnehmenden Schule (was man wiederum als einen sekundären Habitus bezeichnen kann).

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Die Idee zu dieser Qualifizierungsarbeit entsprang der Motivation, nach dem Lehramtsstudium den Weg in die Wissenschaft einzuschlagen. Die inhaltliche Ausrichtung und die Fragestellung der Forschungsarbeit sind im Wesentlichen aus dem Bedürfnis entsprungen, einen kleinen Baustein zur Erforschung von Phänomenen der Bildungsungleichheit hinzuzufügen.

Des Weiteren sind es sicherlich auch biografische Erfahrungen meinerseits als Bildungsaufsteiger und first generation student, die mich dazu bewegt haben, mich inhaltlich mit Phänomenen der Ungleichheit im Schulsystem auseinanderzusetzen. Dabei waren es auch die bereits erwähnten gängigen Erklärungsmodelle (Rational-Choice-Ansätze und subjektive Werterwartungstheorien), die mich bezüglich der methodologischen und methodischen Herangehensweise im Kontext von Forschungsarbeiten zu Schulübertritten dazu bewegt haben, weitere Fragen zu stellen und hierbei eine andere methodologisch-methodische Architektur zu verwenden, um Phänomene der Ungleichheit in Schulübertrittsprozessen zu beforschen.

 

Wie ist Ihre Studie methodologisch aufgebaut?

Wie bereits erwähnt wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass allen bewussten Entscheidungen eine Art unbewusster und impliziter Wissensbestand vorausgeht (im Sinne eines Habitus), der nicht auf der Vorderbühne expliziter Aussagen zu identifizieren ist. In diesem Kontext wird hier davon ausgegangen, dass den offensichtlichen Verhaltensweisen der Schüler:innen in schulischen Übertrittsprozessen eine Art impliziter Wissensbestand (im Sinne eines schulischen Habitus) vorausgeht und es bei der Frage des Erfolgs von Schulübertritten um dessen Passung mit den Erwartungen und Normalitätsvorstellungen der aufnehmenden Schule geht.

Um dies empirisch zu greifen, wurde in dieser Arbeit mit einem rekonstruktiven Verfahren gearbeitet, welches in der methodologischen Architektur an die Implikationen der objektiven Hermeneutik angelehnt ist. Konkret handelt es sich hierbei um die Sequenzanalytische Habitusrekonstruktion. Die empirischen Daten entspringen zehn Interviews mit ehemaligen Mittelschüler:innen, die alle aus einer Familie kamen, in denen keines der Elternteile eine abitur-/maturaführende Schule besucht hatte. Für die konkreten Habitusrekonstruktionen wurden dann drei dieser zehn Fälle ausgewählt und mit der benannten Methode rekonstruktiv analysiert. In der methodologisch-theoretischen Architektur dieser Methodik wird sehr streng auf den Einzelfall fokussiert und dementsprechend haben die Ergebnisse der Habitusrekonstruktionen auch „nur“ einen Aussageanspruch für die jeweiligen einzelnen drei Fälle. In weiterer Folge wurden diese rekonstruierten Fälle mit einem maximalen und minimalen Fallvergleich kontrastiert, um über diesen methodischen Schritt auch Aussagen zu generieren, die auf einer allgemeineren Ebene, im Sinne von (Schulübertritts-)Typen, zu diskutieren sind.

 

Wie würden Sie die Ergebnisse Ihrer Erhebung in maximal drei Sätzen zusammenfassen?

Durch die rekonstruierten Fälle kann nachgewiesen werden, dass neben den gängigen Erklärungsmodellen auch der Ansatz impliziter Wissensbestände (Habitus) eine gleichberechtigte Daseinsberechtigung hat.

Ein habitusbezogener Forschungszugang kann Bildungsungleichheiten so erklären, dass die Verantwortung für die Lebenswirklichkeiten der Menschen und dementsprechend der Schüler:innen nicht direkt in ihren Händen liegt.

Schulische Übertrittsprozesse sollten derartig organisiert werden, dass der Ungleichheit der ankommenden Schüler:innen Rechnung getragen wird und dies wiederum vor dem Hintergrund einer kritischen Reflexion der jeweiligen standortspezifischen Erwartungshaltungen der Schule und der dort tätigen Lehrer:innen.

 

Darum bin ich Autor bei Budrich

Weil ich viele gute Bücher von vielen guten Autor:innen lesen durfte, die in diesem Verlag publiziert haben. Dementsprechend fühle ich mich hier wohl und gut aufgehoben.

 

Kurzvita des Autors in eigenen Worten

Robert Pham Xuan ist Postdoc am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung der Universität Innsbruck. Derzeit beschäftigt er sich mit inklusiver und ungleichheitsreflexiver Schul- und Unterrichtsforschung. Des Weiteren arbeitet er zu Bildungsungleichheit im Mehrebenensystem mehrgliedriger Schulwesen. Darüber hinaus forscht er zu Einstellungen und Haltungen im Kontext von Inklusion und Diversität bei angehenden Lehrer:innen.

 

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