„Das Spannungsverhältnis zwischen Mutterschaft und Wissenschaft in der Pandemie ausloten” – Interview mit Sarah Czerney und Lena Eckert, Mitherausgeberinnen von „Mutterschaft und Wissenschaft in der Pandemie”

(Un-)Vereinbarkeit zwischen Kindern, Care und Krise

 von Sarah Czerney, Lena Eckert und Silke Martin (Hrsg.)

 

 

 

 

Über das Buch

In der Pandemie spitzen sich gesellschaftliche Schieflagen und strukturelle Ungerechtigkeiten zu, so auch die berufliche Benachteiligung, die maßgeblich durch die Ungleichverteilung von Care-Arbeit begünstigt wird. Dieses Buch versammelt Erfahrungsberichte von Frauen*, die im Wissenschaftsbetrieb tätig sind und von ihren Erlebnissen während der Pandemie im deutschen Wissenschaftssystem berichten, und trägt somit zur Sichtbarkeit tabuisierter und individualisierter Erfahrungen bei. So werden die prekären Bedingungen, die sich während der Pandemie noch verstärkt haben, deutlich gemacht.

 

Liebe Sarah Czerney, liebe Lena Eckert, was für Beiträge umfasst die Publikation – mit welchen Dimensionen von „Mutterschaft und Wissenschaft in der Pandemie“ setzen sich die Autor*innen auseinander?

Wir versammeln persönliche Erfahrungen, die Menschen mit dem Thema Mutterschaft und Wissenschaft in der Pandemie gemacht haben. Das umfasst vor allem die gewaltige Zuspitzung der strukturellen Unvereinbarkeit von Mutterschaft und Wissenschaft während der Pandemie, die unfassbare Erschöpfung von Müttern während der Lockdowns, aber auch Reflektionen von Wissenschaftlerinnen darüber, ob sie unter den derzeitigen Umständen Mutter werden möchten. Letztlich geht es in allen Beiträgen darum, das Spannungsverhältnis zwischen Mutterschaft und Wissenschaft in der Pandemie auszuloten, das entsteht, weil beides – Mutterschaft sowie Wissenschaft – sehr idealisiert und ideologisiert werden und sich das während der Pandemie extrem zugespitzt hat.

 

Mit Ihrer Publikation wollen Sie Sichtbarkeit für tabuisierte und individualisierte Erfahrungen von Mutterschaft im deutschen Wissenschaftssystem während der Pandemie schaffen. Welche Bedingungen sorgen dafür, dass die Erfahrungen von Mutterschaft im Wissenschaftsbetrieb tabuisiert und individualisiert bleiben?

Universitäten waren die meiste Zeit ihres Bestehens reine Männerorte. Bis vor etwas mehr als 100 Jahren durften Frauen nicht studieren, geschweige denn eine akademische Karriere verwirklichen. Als Gründe wurden damals „Argumente“ genannt, die wir seit Aristoteles kennen: Männer seien das rationale, geistige, logische Geschlecht, während Frauen emotional und vor allem für die körperliche Fürsorge zuständig seien. Mit ihrer Körperlichkeit würden sie die Studenten und Wissenschaftler ablenken, hieß es. Nun könnte man meinen, das ist ein alter Hut – Frauen* dürfen heute selbstverständlich studieren und Professorin werden. Dennoch setzt sich die Tradition der vergeschlechtlichten Körper-Geist-Trennung fort: Das Ideal, an dem sich der Wissenschaftsbetrieb und wissenschaftliche Karrieren noch immer orientieren, ist der ungebundene, von allen Fürsorgepflichten entbundene, gesunde Wissenschaftler, der all seine Zeit und Energie in seine Forschung stecken und quasi in seinem Geist aufgehen kann. Mutterschaft, das sich Kümmern um Andere, und die Körperlichkeit, die damit einhergehen, sind damit nicht kompatibel. Wir attestieren dem Wissenschaftsbetrieb eine Fürsorgefeindlichkeit, die nicht nur Mütter* betrifft.

 

Gemeinsam haben Sie das Netzwerk Mutterschaft und Wissenschaft gegründet. Wie kam es dazu, welche Ziele verfolgen Sie mit dem Netzwerk?

Das Netzwerk haben wir im Sommer 2021 gegründet, als wir auf das erste Buch „Mutterschaft und Wissenschaft. Die (Un-)Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Tätigkeit und Mutterbild“ deutschlandweit so viel Aufmerksamkeit bekamen und zu Lesungen an vielen verschiedenen Hochschulen eingeladen wurden. Durch die Lesungen wurde uns klar, dass es sehr viele Menschen in der Wissenschaft gibt, die ihre Care-Aufgaben als unvereinbar mit dem Wissenschaftsbetrieb erleben und wir haben beschlossen, das Netzwerk zu gründen, um uns miteinander zu solidarisieren. Wir versuchen, mit dem Netzwerk eine Breitenwirkung und eine Sichtbarkeit zu bekommen und viele Menschen zu erreichen – eben auch Alliierte, nicht nur Co-Eltern und Väter, sondern auch Kolleg*innen und Multiplikator*innen. Wir wollen den Wissenschaftsbetrieb so wie er ist nicht akzeptieren, sondern verändern, da wir es als unsere Verantwortung sehen, als Mütter zur Wissensgenerierung in dieser Gesellschaft beizutragen und unsere Perspektiven in die Wissenschaft einzubringen. Und wir wollen die Individualisierungstendenz, des „Entweder schaffst du es alles unter einen Hut zu bringen, oder du bist raus“ aushebeln und die strukturellen Benachteiligungen sichtbar machen und auch verändern. Das Netzwerk versammelt inzwischen mehr als 350 Interessierte und es werden kontinuierlich mehr. Was in der nähreren und ferneren Zukunft noch alles passiert, werden wir sehen. Zu finden sind wir unter www.mutterschaft-wissenschaft.de.

 

Sie verstehen Ihre Publikation auch als „Manifest“ gegen den „Wissenschaftsmythos des wettbewerbsorientierten, privilegierten und von Care-Arbeit befreiten Wissenschaftlers“. Welche Strukturen, welche Maßnahmen können helfen, den Mythos aufzubrechen?

Wir schlagen zum Beispiel eine neue Kategorie in akademischen Lebensläufen vor, die „Care-Arbeit“ heißt und bei Bewerbungen genauso gewichtet wird, wie Publikationen und Drittmitteleinwerbungen. Dort könnten alle sichtbar machen, welche Care-Arbeit sie leisten. Das kann die für Kinder, für ältere Angehörige, für die Umwelt oder sich selbst sein. Generell bräuchte es eine Umverteilung der unbezahlten Care-Arbeit, die momentan zum allergrößten Teil von Frauen* erledigt wird. Wenn mehr Väter* Sitzungen früh verlassen, weil sie ihre Kinder abholen müssen, oder für längere Zeit „ausfallen“, weil sie Elternzeit nehmen, oder vorschlagen, das karriererelevante Netzwerkevent auf den Vormittag zu verlegen – dann würde klar werden, dass diese Themen alle betreffen und nicht nur Mütter*.

Universitäten und Forschungseinrichtungen sollten sich grundlegend überlegen, wie sie dazu beitragen wollten, dass Wissenschaft nicht überwiegend von einer Gruppe Menschen gemacht wird. Diversität auf allen Ebenen wird in der Zukunft unabdingbar sein, um auf die drängenden Fragen der Zukunft zu reagieren. Mütter* und andere Care-Arbeitende können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Im Buch nennen wir noch mehr konkrete aber auch grundsätzliche Aspekte, die zu strukturellen Verbesserungen des Wissenschaftsbetriebs beitragen können.

 

Darum sind wir Herausgeberinnen bei Budrich

Wir sind gerne bei Budrich, weil wir uns hier thematisch und auch wissenschaftspolitisch gut aufgehoben und auch platziert fühlen. Die Zusammenarbeit verlief reibungslos und zuverlässig.

 

Kurzvita von Sarah Czerney und Lena Eckert

Sarah Czerney, Dr. phil., arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Gleichstellungsprojekt FEM POWER am Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg. Sie hat Europäische Medienkultur studiert und 2018 an der Goethe-Universität Frankfurt/M. promoviert. Neben der praktischen Gleichstellungsarbeit liegen ihre Schwerpunkte auf feministischer Theorie und Wissenschaftskritik, Mutterschaft und Wissenschaft sowie gleichberechtigter Eltern- und feministischer Mutterschaft. Sie hat zwei Söhne und lebt mit ihrer Familie in Magdeburg.

Lena Eckert, Dr. phil. ist Genderwissenschaftlerin sowie Schreib- und Bildungsforscherin. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet als akademische Mitarbeiterin am ZLL – Zentrum für Lehre und Lernen an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Kritik von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in Hochschule und Gesellschaft. Lena Eckert ist insbesondere interessiert an der Strukturierung von Gesellschaft und Wahrnehmung durch Geschlecht und andere Differenzkategorien und sucht nach emanzipativen Strategien im Wissenschaftsbetrieb. Sie publiziert international zu interdisziplinären, medien- und bildungswissenschaftlichen Themen der kritischen Gender Studies und versucht immer wieder Aktivismus, Kunst und Wissenschaft zusammenzubringen.

 

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Sarah Czerney, Lena Eckert und Silke Martin (Hrsg.):

 

 

© Foto Sarah Czerney: LIN Magdeburg | Foto Lena Eckert: Georg Bosch