„Die Lockdowns waren große Werbeveranstaltungen für mehr Zeitwohlstand.“ – Interview mit Jürgen P. Rinderspacher, Autor von „Zeiten der Pandemie”

von Jürgen P. Rinderspacher

 

 

 

Über das Buch

Was hat Corona mit dem Faktor Zeit zu tun? Wie kommt es zur Inflation der Zeit im Lockdown? Neben anderen Herausforderungen sind viele Menschen in der Pandemie gezwungen, ihre zeitlichen Gewohnheiten und Bedürfnisse den neuen Gegebenheiten anzupassen. Wie berechtigt sind die oft geäußerten Erwartungen, positive Impulse – insbesondere in Bezug auf den Umgang mit der Zeit – in einer Post-Covid-Ära weiterführen zu können?

 

Lieber Jürgen P. Rinderspacher, bitte fassen Sie den Inhalt Ihrer aktuellen Publikation Pandemische Zeiten für unsere Leser*innen zusammen.

In der Pandemie waren die Menschen neben anderen Herausforderungen gezwungen, auch ihre zeitlichen Gewohnheiten und Bedürfnisse den neuen Gegebenheiten anzupassen. Während Homeoffice und Homeschooling die Betroffenen an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit brachten, wurden andernorts zeitliche Kontingente freigesetzt, die den familialen Zusammenhalt und kreative Tätigkeiten förderten. Das wirft unter anderem die Frage auf, wie berechtigt die oft geäußerten Erwartungen sind, dass die positiven Impulse in Bezug auf den Umgang mit der Zeit in eine Post-Covid-Ära hinübergerettet  werden könnten. Darüber hinaus habe ich versucht, denkbare neue zeitpolitische Optionen für diese Ära in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, darunter Schule, Demokratie, Einzelhandel zu skizzieren und über ein neues Verhältnis von Raum und Zeit in unserem Alltag nachgedacht.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Ja, den gab es. Eigentlich hatte ich gerade ein anderes Projekt in Arbeit. Dann kamen Anfragen für Interviews und Zeitschriften-Artikel: Was machen die Menschen, wenn ihr gewohnter Zeithaushalt derartig durcheinander gewirbelt wird? Um diese Anfragen beantworten zu können, musste ich mich notgedrungen in die einschlägigen Studien einarbeiten und ein theoretisches Rahmenkonzept entwickeln, um diese neuen Zeit-Erfahrungen der Menschen sinnvoll interpretieren zu können. Dann habe ich mich auch gefragt, ob und wenn ja auf welche Weise  die Corona-Pandemie bzw. die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung, darunter das Gebot der räumlichen Distanz überall in unserem Alltag, auch die Zeitstrukturen in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen nachhaltig verändern könnten, wenn wir künftig weiter mit Covid 19 und dessen Mutanten leben müssen. Kurzum wurde das Thema immer spannender, und dann hatte ich das Buch auf einmal fertig.

 

Inwiefern hat sich der Umgang mit Zeit in der Corona-Krise verändert?

Schon in der ersten Welle hatten viele Menschen plötzlich viel mehr Zeit – es war, als hätte ihnen jemand einen Sack voll Zeit vor die Füße geworfen und gesagt: „Nun mach mal!“ Kurzarbeit und Home-Office haben ganz neue Perspektiven eröffnet, auch wenn natürlich die eigenen Kinder den ganzen Tag zu Hause zu haben, statt in der Ganztagsbetreuung, eine riesige Herausforderung ist und an den Nerven zehrt. Viele haben diesen Sack als ein tolles Geschenk genutzt und ihr Familienleben gewinnbringend umgebaut, andere wieder konnten nichts mit der zusätzlichen Zeit anfangen; Langeweile, Depression und Streit beherrschten dann den Alltag.

Familien haben berichtet, sie hätten sich nun mehr aufeinander beziehen können. Allerdings waren das einmal mehr solche mit höherer Bildung und  gutem Einkommen: Wie im Verlauf der Pandemie schon oft gesagt wurde, wird auch hier die Spaltung der Gesellschaft, die auch diesbezüglich schon vorher angelegt war, deutlicher sichtbar. Eine starke Belastung während der Lockdown-Phasen war auch für alle die Perspektive, also die Frage, wann wieder „Normalität“ eintritt und wie diese dann aussehen würde. Insbesondere Kinder haben ja ein ganz anderes Zeitgefühl, für sie sind wahrscheinlich allein die großen Ferien gefühlt wie für Erwachsene ein ganzes Jahr. Dieses Leben in der Unbestimmtheit hat in den vorangegangenen Lockdowns besonders an den Nerven gezerrt. Wir dürfen aber auch diejenigen nicht vergessen, deren Alltag nicht von Kurzarbeit und Homeoffice, sondern von Überstunden geprägt war, etwa Pflegekräfte oder Beschäftigte in der Logistik. Auch dieses Phänomen ist ja nicht neu, gewinnt in Zeiten der Pandemie aber noch einmal eine ganz andere Bedeutung. Sie sind – zumeist nicht nur in zeitlicher Hinsicht – die Verlierer der Ausnahmesituation.

 

Wie realistisch sind aus Ihrer Sicht Erwartungen, positive Impulse in Bezug auf den Umgang mit der Zeit in eine Post-Covid-Ära mitnehmen zu können?

Auf eine bestimmte Weise waren die Lockdowns, so wie wir sie bisher gesehen haben, so skurril das auf den ersten Blick klingen mag, große Werbeveranstaltungen für mehr Zeitwohlstand. Doch man muss sich auch noch einmal die Ursachen vergegenwärtigen, warum so viele Menschen in einer solchen Situation so viel mehr Zeit haben: Die gewohnte Erwerbsarbeit ist ganz oder teilweise von einem Tag auf den anderen weggefallen. Damit fällt aber auch ein Teil des Einkommens weg, wie bei Kurzarbeit – und das ist nicht nur für Einkommensschwache das entscheidende Hindernis, auch in normalen Zeiten weniger zu arbeiten als sie eigentlich möchten. Auch hier bestätigen sich die schon vor Corona in vielen Befragungen deutlich gewordenen Wünsche nach einer 30-Stunden-Woche sehr, sehr vieler Beschäftigter. Doch wenn Lebenshaltungskosten, Benzin und Wohnen zunehmend teurer werden, rücken diese Träume in immer weitere Ferne. Ich glaube trotzdem, dass für viele Menschen diese Erfahrung, in einer wie vom Himmel gefallenen Ausnahmesituation plötzlich über viel Zeitwohlstand zu verfügen, hängen bleiben wird, gewissermaßen als kleine persönliche Utopie. Und damit beginnt ja bekanntlich oft das gesellschaftliche Umdenken.

 

Der Autor

Dr. Jürgen P. Rinderspacher, Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften (IfES) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

 

 

 

 

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Jürgen P. Rinderspacher:

Zeiten der Pandemie. Wie Corona unseren Umgang mit der Zeit verändert

 

 

 

© Autorenfoto: Lukas Gruenke | Titelbild: gestaltet mit canva.com