„Wir müssen mehr auf Diversität auch innerhalb der Gruppe der Frauen eingehen” – 5 Fragen an die Herausgeberinnen von „Geschlechtergerechtigkeit und MINT”

 

 

 

Über das Buch

Entgegen allen Objektivitäts- und Neutralitätsansprüchen bestehen an deutschen Hochschulen Geschlechterungleichheiten fort. Insbesondere im MINT-Bereich sind Frauen* noch immer unterrepräsentiert. Der Sammelband greift Fragen nach den Gründen für die anhaltenden Ungleichheiten sowie Veränderungsmöglichkeiten im Kontext der Diskurse zu Fachkulturen und Intersektionalität auf und diskutiert Strategien für mehr Geschlechtergerechtigkeit an Hochschulen.

Liebe Herausgeberinnen, Ihr Sammelband beschäftigt sind mit Geschlechterungleichheiten an deutschen Hochschulen und fragt nach Gründen für anhaltendende Ungleichheiten. Was für Beiträge umfasst die Publikation?

Unsere Publikation zielt vor allem auf Geschlechterungleichheiten im MINT-Bereich an Hochschulen ab, das steht im Fokus fast aller Beiträge. Infolgedessen thematisieren die Beiträge insbesondere drei Fragestellungen: Wie ist der Stand der Gleichstellung im MINT-Bereich, wie lassen sich die vergeschlechtlichten Ungleichheiten erklären und welche Perspektiven der Veränderung gibt es? Sowohl bei den Erklärungen als auch bei den Perspektiven war es uns wichtig, hier auch intersektionale Perspektiven zu integrieren – was die Aufgaben und die Herausforderungen für aktives Gleichstellungshandeln und die Frage von Geschlechtergerechtigkeit an Hochschulen komplexer und komplizierter macht.

Um diese Komplexität über die Hochschule hinaus zu verdeutlichen, schauen wir uns in weiteren Beiträgen den Bereich der Digitalisierung an – Digitalisierung ist ein gesellschaftliches Querschnittsthema, in dem immer wieder Schieflagen im Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit sichtbar werden. Es setzen sich also Ungleichheitslagen aus dem MINT-Hochschulbereich gesamtgesellschaftlich fort.

 

Was gab den Anstoß, den Sammelband zu veröffentlichen?

Wir haben von 2017 bis 2021 an der OTH Regensburg, in Kooperation mit der HS München, ein Forschungsprojekt zu MINT-Gleichstellungsprojekten an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften durchgeführt. Die Ergebnisse haben wir im September 2020 auf einer Tagung vorgestellt und mit Kolleg*innen und Expert*innen diskutiert. Diese Debatten werden in dem Sammelband weitergeführt – d.h. auch, dass der Sammelband keine Tagungsdokumentation ist, sondern die diskursive Zusammenführung unterschiedlicher Forschungsergebnisse und Perspektiven im Bereich der MINT-Gleichstellungsforschung und -praxis. Denn das ist uns wichtig: dass hier (angewandte) Forschung und (wissenschaftsgeleitete) Praxis in einen Austausch kommen und sich über Anforderungen und Erfahrungen von Gleichstellung austauschen.

 

In Ihrem Vorwort konstatieren Sie, dass es seit vielen Jahrzehnten Ansätze zur Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit gibt. Haben sich diese im Laufe der Zeit verändert und wenn ja, wie?

Jein. In der Praxis sind viele Ansätze des Gleichstellungshandelns gleich/ähnlich geblieben, was teilweise daran liegt, dass vieles noch gar nicht wirklich umgesetzt wurde. Somit sind auch viele Probleme und Hürden gleichgeblieben bzw. verändern sich nur langsam: unsichere Karrierewege in der Wissenschaft, männliche Fachkulturen insbesondere in MINT-Studiengängen, Diskriminierung von Studentinnen und Wissenschaftlerinnen. Gleichzeitig zeigen uns die Hochschulpraxis, aber auch die konzeptionellen Überlegungen zur Gleichstellung, dass wir mehr auf Diversität auch innerhalb der Gruppe der Frauen eingehen müssen: Frauen mit Fluchtgeschichte oder mit körperlicher Beeinträchtigung haben andere Voraussetzungen oder machen andere Erfahrungen als Frauen mit Eltern- oder Pflegeverantwortung oder mit nicht-akademischen Hintergrund. Infolgedessen müssen auch Gleichstellungsmaßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Für diese Differenziertheit sind aber viele Hochschulen noch nicht wirklich gut aufgestellt. Für eine mehrdimensionale Erweiterung von Gleichstellungspraxen bedarf es weiterer Forschungen sowie auch konkrete Erprobungen neuer Ansätze und Herangehensweisen.

 

Was sind Ihrer Einschätzung nach aktuell die größten Hürden, ein MINT-Studium aufzunehmen oder abzuschließen?

Gerade im MINT-Studium sind es zunächst die bestehenden Geschlechterstereotype, die schon Mädchen in der Schule suggerieren, dass ihre Interessenlagen im sozialen Bereich oder bei den Sprachen angesiedelt sind. Alle Studien und Erfahrungsberichte weisen darauf hin, wie aktuell diese Vorbedingungen sind. In den Hochschulen ist es zwiespältig: einerseits implementieren immer mehr Hochschulen ‚Geschlechtergerechtigkeit und Diversität‘ als Teil ihres Leitbildes. Andererseits wirken gerade MINT-Studiengänge immer noch als Männerbastionen, sowohl personell als auch inhaltlich. Der Anteil von Frauen bei den Professuren ist anhaltend niedrig, ‚Idealbilder‘ wie die des Ingenieurs als ‚nerdigen‘ und unermüdlich arbeitenden Autobauers sind nach wie vor vorhanden. Das entspricht in den wenigstens Fällen den Lebensvorstellungen junger Frauen. (Teilweise auch nicht denen junger Männer, die passen sich aber ‚besser‘ an.)

 

Gibt es dabei Unterschiede zwischen den MINT-Fächern oder Hochschultypen?

Das ist ganz spannend: Es gibt frappierende Unterschiede zwischen ‚reinen MINT-Studiengängen‘ und den sogenannten Bindestrich-Fächern. Bei uns an der OTH Regensburg beträgt der Anteil weiblicher Studierender im Studiengang ‚Informatik‘ 13%, im Studiengang ‚Medizinische Informatik‘ liegt er aber bei 39% – inhaltlich und vom Niveau her unterscheiden sich die Fächer kaum bzw. gar nicht. Allein die Kombination mit „Medizin“ macht den Unterschied. Das zeigt erstens, dass es unsinnig ist, zu behaupten, dass sich Frauen nicht für Informatik interessieren oder sie das Studium nicht bewältigen können. Zweitens zeigt es, dass es Ansatzpunkte für die Hochschulen gibt, den Frauenanteil bei den Studierenden zu erhöhen. Um den Anteil bei den Professuren zu verändern, muss man allerdings noch strategischer und mittelfristiger vorgehen – und bereit sein, für Frauen Platz zu machen.

 

Kurzvitae der Herausgeberinnen in eigenen Worten

 

Prof. Dr. Clarissa Rudolph, seit 2011 Professorin für Politikwissenschaft und Soziologie an der Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der OTH Regensburg. Vorher u.a. an den Universitäten Marburg, Hamburg und Heidelberg forschend und lehrend tätig. Forschungs- und Lehrschwerpunkte: Gleichstellungspolitik, Arbeit und Geschlecht, Rechtsextremismus, Care, Sozialpolitik. Projektleitung „MINT-Strategien 4.0“.

 

Anne Reber, M.A., Doktorandin Philipps-Universität Marburg und Promotionsstipendiatin LaKoF Bayern. Zuvor u.a. wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt “MINT-Strategien 4.0” an der OTH Regensburg; Tätigkeiten als Lehrbeauftragte sowie in verschiedenen Bereichen der Sozialen Arbeit und Erwachsenenbildung. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gender & diversity, Gleichstellungspolitik(en), Intersektionale Perspektiven in der und auf die Soziale(n) Arbeit, kritische Soziale Arbeit.

 

Sophia Dollsack, Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaften sowie der Staatswissenschaften an den Universitäten Wien und Passau. Ehemals Wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen Forschungsprojekten an der OTH Regensburg, darunter das Projekt „MINT-Strategien 4.0“. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Fragen sozialer Ungleichheiten und des sozialen Wandels.

 

 

 

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