Guter Stil für wissenschaftliche Texte: die Zielgruppe

Zielscheibe Zielgruppe

Zielgruppe: Für wen schreiben Sie eigentlich?

Bei meinen Workshops und Coachings werde ich häufig groß angeschaut, wenn ich davon spreche, dass ein Text eine Zielgruppe hat. Viele Autor*innen gehen davon aus, dass es in „der Wissenschaft“ nur eine homogene Zielgruppe gibt. Ich bin da anderer Meinung.

Zudem ist es so, dass jede Zielgruppe eine ihr angemessene Ansprache erwartet. Was bedeutet, dass der jeweilige Stil Ihres Textes abhängt von der Aufgabe, die der Text zu erfüllen hat, und der Zielgruppe, für die diese Aufgabe zu erbringen ist. Daher ist guter Stil ein Zielgruppen-adäquater Stil.

Lassen Sie mich das erklären.

 

„Wie Du kommst gegangen, so wird man Dich empfangen“: Die richtige Kleidung für Ihren Text

Was guter Stil ist, ist zudem Moden unterworfen: Wenn Sie sich heute Texte verschiedener Genres anschauen, die hundert Jahre alt sind oder älter, sehen Sie unterschiedliche Grade an Manieriertheit, Prägnanz, Redundanz. Sie sehen das Aufkommen und den Niedergang lateinischer, griechischer und französischer Wörter und Zitate. Sie sehen den Aufstieg von Anglizismen.

Wenn Sie aktuelle Wissenschaftstexte unterschiedlicher Fächer anschauen, sehen Sie auch hier sehr unterschiedliche Stile: von schier unverständlich-technisch über pragmatisch-praxisorientiert bis hin zu Texten, die sicherlich auf Deutsch geschrieben sind – leider verstehen Sie trotzdem kein Wort. In unterschiedlichen Wissenschaftskulturen gibt es unterschiedliche Sprachkonventionen. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein.

Ob Sie eine Qualifikationsarbeit verfassen, ein Abstract zur Begutachtung bei der Redaktion einer Fachzeitschrift einreichen oder eine Einführung in Ihr Fach für eine Schülerzeitung schreiben: Sie haben es mit unterschiedlichen Zielgruppen zu tun, weshalb Ihr Text in jedem Falle eine andere Aufgabe hat. Zu jeder dieser Aufgaben gehört eine andere Ausdrucksweise; eine, die adäquat ist für die jeweilige Zielgruppe.

Es ist ein bisschen so, als könnten Sie zwischen Abendkleid und Bademantel – und noch einigen Varianten dazwischen – wählen, um an unterschiedliche Orte zu gehen. Sie fühlen sich in Frack und Zylinder in der Sauna vermutlich ebenso fehl am Platz, wie im Bademantel auf dem Botschafterempfang.

 

Woher wissen Sie, ob Ihr Text richtig angezogen ist?

Die Aufgabe eines Textes ist es nicht allein, aufzutauchen und gesehen zu werden – wenngleich dies ein Teil seiner Aufgabe ist. Der Text darf auch Konversation machen. Im Falle der Qualifikationsarbeit hat der Text zu erzählen, wie souverän Sie sich in Ihrem Wissenschaftsbereich bewegen und dass Sie alle Werkzeuge beherrschen. Der Redaktion der Fachzeitschrift soll Ihr Text mit wenigen Worten verdeutlichen, wie originell und wichtig Ihr Beitrag für die Zeitschrift, deren Zielgruppe und den spezifischen Ausschnitt aus dem Fach ist. Für die Schülerzeitung darf der Text unterhaltsam plaudern – aber so, dass er Interesse weckt und ohne viel Voraussetzung verständlich ist.

Als Autor*innen sind wir häufig so tief in unsere eigenen Texte verstrickt, dass uns eine Beurteilung aus der Perspektive von Leser*innen schwerfällt. Um uns dies zu erleichtern, können wir uns mit einer Persona behelfen.

 

Stellvertreterin der Zielgruppe: die Persona als Modeberaterin

Die Arbeit mit einer Persona kommt aus dem Marketing: Um der Zielgruppe für das eigene Produkt angemessen zu begegnen, wird die idealtypische Zielgruppenvertretung entwickelt. In manch einer Marketingabteilung hängen Collagen, die ein möglichst umfassendes Bild von der Persona vermitteln sollen. Das geht bis zu  „Unterhaltungen“ mit der Persona – natürlich zusätzlich zur üblichen Marktforschung, aber soweit wollen wir hier nicht gehen.

Um zu prüfen, ob Ihr Text für anvisierte Zielgruppe angemessen ist, können Sie mit Ihrer Persona ins Zwiegespräch gehen. Freilich gibt es für jede der oben angesprochenen Textsorten eine eigene Persona: eine*n Gutachter*in bei der Qualifikationsarbeit, Reviewer für das Abstract, eine*n Schüler*in für die Schülerzeitung.

Setzen Sie Ihre jeweilige Persona in Gedanken auf Ihre Tischkante, wenn Sie schreiben. Oder nutzen Sie das Ein-Personen-Rollenspiel, um besonders knifflige Teile im Zwiegespräch zu bearbeiten: Stellen Sie zwei Stühle so hin, wie es für zwei Personen angemessen wäre, die miteinander diskutieren möchten. Auf dem einen der Stühle sind Sie Autor*in, auf dem anderen Ihre Persona. Stellen Sie als Autor*in der Persona eine Frage, wechseln Sie den Stuhl und seien Sie erstaunt über Ihre Antwort als Persona!

Diese Methode kommt aus der Psychotherapie und wird gern im Coaching verwendet. Es macht großen Spaß – vor allem, wenn man sich unbeobachtet wähnt …

Ihre jeweilige Persona kann Ihnen auf diesem Wege verraten, ob Ihr Text der Gelegenheit entsprechend gut angezogen ist. Vom Zuschnitt des Inhalts über die Wortwahl bis hin zur Gesamtstruktur können Sie über diesen Perspektivwechsel einen frischen Blick auf Ihren Text werfen.

Wollen Sie es ausprobieren? Hier können Sie den Fragebogen für das Erarbeiten einer detaillierten Persona herunterladen: Er ist recht ausführlich. Um mit der Persona-Arbeit zu beginnen, reicht es, ihr einen Namen zu geben. Wenn Sie merken, dass Ihnen diese Methode liegt, können Sie nach und nach den gesamten Fragenkatalog abarbeiten.

 

Andere Stilwächter

Die Persona-Arbeit ist freilich nicht die einzige Möglichkeit, Ihren eigenen Stil abzuprüfen. Sie können mit existenten Stellvertreter*innen Ihrer Zielgruppe arbeiten und diese bitten, Ihnen Feedback zu geben. Sie können sich mit Kolleg*innen austauschen oder professionelle Lektorate bemühen.

Bevor Sie Ihren Text jedoch in dieser Form überprüfen bzw. überprüfen lassen, stellen Sie sicher, dass Sie die Zielgruppe kennen. Nur dann können Sie adäquat adressieren, also Zielgruppen-adäquat und damit stilistisch gut schreiben – Ihrem Text das Richtige anziehen.

 

Die Autorin

Porträt der Verlegerin Barbara Budrich mit offenen langen Haaren, dunklem Jacket über einem T-Shirt, freundlich lächelnd.Barbara Budrich, M.A., ist von Kindesbeinen an im Wissenschaftsverlag tätig und seit 2004 selbstständige Verlegerin. Außerdem ist sie Trainerin und Coach für wissenschaftliches Schreiben und Publizieren im Schulungsunternehmen budrich training. Zudem ist sie selbst Autorin. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz führt sie seit 2015 als Vorbildunternehmerin.

 

© Foto Barbara Budrich: privat | Titelbild: pexels.com ; Afif Ramdhasuma