Qualitative Forschung auf dem Prüfstand. Beiträge zur Professionalisierung qualitativ-empirischer Forschung in den Sozial- und Bildungswissenschaften
von Maria Kondratjuk, Olaf Dörner, Sandra Tiefel und Heike Ohlbrecht (Hrsg.)
Über das Buch
Rund um die Frage der Professionalisierung qualitativ-empirischer Forschung versammelt der Band des Zentrums für Sozialweltforschung und Methodenentwicklung (ZSM) Beiträge zur Verhältnisbestimmung von Theorie und Empirie, zu Methodologien in ihrer Bedeutung und Funktion für Forschungsprozesse, zu Methoden, Methodenentwicklung und qualitativen Ergebnisformaten sowie zur Frage der Lehre und Vermittlung qualitativer Forschung.
Leseprobe aus den Seiten 235-237
Studienprozesse als Bildungsprozesse. Potentiale der Lehrpraxis qualitativer Sozialarbeitsforschung aus bildungstheoretischer Perspektive
Heike Brand
Das scheinbar alltagsweltliche Handeln in der Sozialen Arbeit fordert Professionelle tagtäglich heraus, Verbetriebswirtschaftlichungs- (vgl. Seithe 2012) und Standardisierungstendenzen zu widerstehen. Die Schnittmengen professioneller Sozialer Arbeit und qualitativer Forschung erscheinen diesbezüglich als sinnstiftendes Korrektiv und werden im Kontext rekonstruktiver Sozialer Arbeit mittels der Dimensionen Grundlagenforschung, Handlungsmethoden und Selbstreflexion ausdifferenziert (vgl. Bock & Miethe 2010, S. 15). Mit der Fokussierung auf qualitative Forschung im Studium der Sozialen Arbeit sind bildungstheoretische Fragestellungen anschlussfähig, so dass in diesem Beitrag danach gefragt wird, inwiefern Lehr- und Lehrforschungsformate der qualitativen Sozialarbeitsforschung potentiell studentische Bildungsprozesse ermöglichen.
Dazu wird zunächst die Notwendigkeit der Normalisierung von Krisen im Studium erörtert. In einem zweiten Schritt wird der bildungstheoretische Rahmen in seinen Kernkategorien mit Bezug auf das Studium entwickelt. Die sich anschließende bildungstheoretische Betrachtung bezieht sich auf Lehr-und Lehrforschungskontexte der qualitativen Sozialarbeitsforschung an der Professur „Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sozialarbeitsforschung“ der Hochschule Magdeburg-Stendal – so, wie sie nach jahrelanger und noch andauernder Einsozialisierung im Rahmen der magdeburger Schule vorläufig entwickelt wurden, d.h. auch unter Einfluss der Herausgeber*innen dieses Bandes. Die disziplin- und professionsbezogenen Foki in der Lehre werden hinsichtlich des potentiellen Zuwachses von Reflexivität, Flexibilität und Biographizität in Studienprozessen systematisiert.
1 Zur Normalisierung von Krisen im Studium der Sozialen Arbeit
Die Konturierung Sozialer Arbeit über die Kernthemen „Individuum und Gesellschaft“ (Kessl 2017, S. 58) sowie „Inklusion und Exklusion“ (Scherr 2017, 38ff.) verweist hinsichtlich der Adressat*innen auf Problemlagen, die gesellschaftlich bedingt sind. Systembedingte Schwierigkeiten werden im öffentlichen und politischen Kontext jedoch dominant auf einzelne Gesellschaftsmitglieder projiziert und mittels zahlreicher Individualisierungsnarrative chiffriert. Vor diesem Hintergrund ist die Handlungsfähigkeit der Betroffenen systematisch verunmöglicht. Eine stetig steigende Zahl an Gesellschaftsmitgliedern ist – temporär oder dauerhaft – auf professionelle Hilfe und konstruktive professionelle Arbeitsbündnisse angewiesen, um auch nur in Ansätzen ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Neben diesen Krisen seitens der Adressat*innen aufgrund des Leidensdrucks offenbaren sich Herausforderungen der Professionellen, die in der konkreten Fallarbeit komplexe Problembestände stellvertretend bearbeiten, deren Ursachen eben nicht auf Mikroebene zu verorten sind, sondern in besagten Meso- und Makrostrukturen. Eine Vielzahl an institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die konstitutiv für den Umgang der Fachkräfte mit potentiell bearbeitbaren Handlungsproblemen sowie unumgehbaren Paradoxien (vgl. Schütze 2000, S. 53f.) sind, entziehen sich deren Einfluss in radikaler Weise. Strukturbedingte und kalkulierte Chancenungleichheit kann von einzelnen Professionellen allenfalls reflektiert, nicht jedoch in wirksamem Maße thematisiert und verändert werden (vgl. Brand 2017). Folgen dieser Krisen der Sozialarbeitenden aufgrund des enormen Handlungsdrucks können Verluste der Sinnhaftigkeit des eigenen professionellen Handelns sein oder aber Tendenzen vorschnellen Intervenierens ohne ausreichendes Fallverstehen.
Analog den krisenhaften Erfahrungen von Adressat*innen und Professionellen sind auch hinsichtlich Studierender Krisen zu konstatieren, die aus dem Aufeinandertreffen inkompatibler biographischer und studienbezogener Sinnwelten resultieren (vgl. Schweppe 2006). Schweppe beschäftigt sich in ihrer qualitativen Studie zu Studienprozessen in der Sozialpädagogik konkret mit dem Umgang mit Studienwissen und -erfahrungen vor biographischem Hintergrund. Modi des Umgangs mit den daraus resultierenden Irritationen seien a) die radikale Abweisung von Studieninhalten, b) die Fundierung statischer biographischer Orientierungen durch ausgewählte kompatible Studieninhalte und c) die Transformation von Orientierungen (vgl. 2006, S. 51ff., 87ff., 112ff.). Ausschließlich im letzteren Modus vollzögen sich tatsächliche Bildungsprozesse. Das Dilemma der Hochschulen bestünde nun darin, krisenhafte Erfahrungen forcieren zu müssen – ohne Garantie, deren Bearbeitbarkeit im Studienkontext gewährleisten zu können. Eine konstruktive Lösung dieses Widerspruchs sei die „Kultivierung von Krisen“ im Studium:
Kultivierung von Krisen meint, dass die Hervorlockung von Krisen genauso zum ‚normalen‘ Bestandteil des Studiums gehört wie deren Thematisierung und die Auseinandersetzung mit ihnen. Kultivierung heißt somit auch Normalisierung. Ein Verständnis des Studiums als krisenhafter Prozess, als Prozess, der selten ‚glatt‘ verläuft, könnte eine Offenheit gegenüber Krisen fördern. […] Studiumsbezogene Krisen bräuchten nicht als Ausdruck individueller Unfähigkeit und Niederlage oder individuellen Mangels erlebt werden, sondern als produktiver Teil des Lern- und Studienprozesses. Zur Förderung von Offenheit gegenüber Krisen ist ein studiumsbezogener Habitus hilfreich, der dem Studium mit einer Haltung des Fragens, des Zweifelns und des Nachdenkens über die Sinnhaftigkeit und die Nachvollziehbarkeit der angebotenen Lehrinhalte begegnet (Schweppe 2006, S. 136f.).
Den Krisen Studierender aufgrund der Transformationsnotwendigkeit biographischer Orientierungen kann folglich mit systematischer Normalisierung mittels kleinerer Irritationen samt Thematisierungsmöglichkeiten im Studienkontext begegnet werden. Krisen werden demnach nicht defizitorientiert an einzelne Studierende rückgebunden, sondern als Charakteristikum konstruktiver Studienprozesse verstanden. Ausgehend von dieser Argumentationslogik wird in diesem Beitrag jedoch nicht das gesamte Kerncurriculum des Studiums der Sozialen Arbeit (vgl. DGSA 2016) fokussiert, sondern der Studienbereich der qualitativen Forschung. Es wird nach den Potentialen der Lehre qualitativer Sozialarbeitsforschung gefragt, um Studienprozesse der Sozialen Arbeit als Bildungsprozesse zu ermöglichen. Dazu wird im folgenden Abschnitt zunächst der bildungstheoretische Rahmen mit Bezug auf Studienprozesse weiter präzisiert.
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