„Schule ist auch weiterhin ein heteronormativ geprägter Bildungsraum.“ – Interview mit Florian Cristóbal Klenk, Autor von „Post-Heteronormativität und Schule”

Cover "Post-Heteronormativität und Schule" von Florian Cristóbal Klenk

Rekonstruktion von sozialen Deutungsmustern über den Umgang mit und Thematisierung von vielfältigen Lebensweisen in der Schule – ein innovativer Beitrag zu einem bislang kaum erforschten Themengebiet der Erziehungswissenschaft. Wir haben ein Interview mit Autor Florian Cristóbal Klenk zu seinem Buch Post-Heteronormativität und Schule. Soziale Deutungsmuster von Lehrkräften über vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen geführt.

 

Interview mit Florian Cristóbal Klenk

 

Lieber Florian Cristóbal Klenk, worum geht es in Post-Heteronormativität und Schule?

In der Publikation habe ich mich auf Basis einer empirischen Deutungsmusteranalyse mit der Frage befasst, wie Lehrkräfte die Vielfalt an geschlechtlichen und sexuellen Lebensweisen in der Schule wahrnehmen und welche Relevanz sie eben dieser für ihr pädagogisches Handeln zusprechen. Im Verlauf von 15 qualitativen Interviews habe ich dazu untersucht, wie Lehrer:innen unterschiedlicher Schulformen mit lesbischen, schwulen, bisexuellen, heterosexuellen sowie trans*-, inter*geschlechtlichen und cis-geschlechtlichen Schüler:innen sowie Kolleg:innen nach eigener Aussage umgehen. Zusätzlich habe ich erhoben, welche Möglichkeiten, aber auch Grenzen sie zur Vermittlung des Themenkomplexes im Fachunterricht erkennen.

Die Ergebnisse meiner Arbeit legen nahe, dass sich die interviewten Lehrkräfte im Umgang mit und bei der Thematisierung von vielfältigen Lebensweisen in einem beruflichen Spannungsverhältnis bewegen, das ich als post-heteronormative Professionsambivalenz bezeichne. Ich benutze den Begriff der Post-Heteronormativität an dieser Stelle zum Herausstellen des Umstandes, dass LGBTIQ*‑Lebensweisen in der Schule einerseits zwar zunehmend als Teil des Handlungsfelds wahrgenommen und wertgeschätzt werden, wodurch althergebrachte Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität in Frage gestellt sowie neue Selbstverständlichkeiten der Toleranz etabliert werden. Andererseits ist Heteronormativität, also die Norm heterosexueller Cis‑ und Zweigeschlechtlichkeit, dadurch aber noch lange nicht schon erfolgreich überwunden, wie es das Präfix „Post“ suggerieren könnte. Die Betonung bei dem gewählten Begriff liegt somit vielmehr auf dem Bindestrich (-), also auf den un‑/gleichzeitigen Bewegungen im Bereich der Vielfalt an Geschlechtern und Sexualitäten. Diese sind sowohl von einer partiellen Erhöhung an Akzeptanz gegenüber der Vielfalt als auch von neuen, oft subtileren Vorstellungen der Ungleichwertigkeit gekennzeichnet. Mit der Publikation möchte auf diese sowohl kleinen als auch durchaus größeren Transformationsprozesse aufmerksam machen, die sich in den rekonstruierten Deutungsmustern der Lehrkräfte widerspiegeln. Sie weisen schließlich darauf hin, dass Schule trotz der dort in Teilen realisierten Sichtbarkeit von schwulen, lesbischen und zunehmend auch trans*geschlechtlichen Lebensweisen auch weiterhin ein heteronormativ geprägter Bildungsraum ist.

Wie rigide Heteronormativität nach wie vor sein kann, zeigt etwa das Interview mit einer inter*geschlechtlichen Lehrkraft, die in unserem Gespräch darauf aufmerksam machte, dass weder ihre Kolleg:innen noch die Jugendlichen aktuell hinreichend Informationen über die Lebensrealitäten des dritten Geschlechts in Schule und Unterricht erhalten (z.B. in Schulbüchern). Es leuchtet ein, dass es für diese Lehrkraft ein De‑Professionalisierungsrisiko darstellt, im Schulalltag in ihrem ‚wahren Geschlecht‘ sichtbar zu werden. Dies ist auch der Grund dafür, weshalb sich die Lehrperson dazu entschieden hat, ‚unsichtbar‘ zu bleiben. Damit setzt sie sich wiederum der Diskriminierungserfahrung aus, von den Schüler:innen jeden Tag mit  „Guten Morgen Frau …“ begrüßt zu werden, obwohl dies gar nicht der tatsächlichen geschlechtlichen Verortung der Lehrkraft entspricht. Diese und weitere Widersprüche habe ich hinsichtlich ihrer Bedeutung für das schulpädagogische Handeln herausgearbeitet, um die Situation von vielfältigen Lebensweisen in der Schule perspektivisch zu verbessern.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Da gab es nicht nur einen Stein, sondern eher gleich mehrere. Eine biographisch bedeutsame Erfahrung war sicher die, dass weder während meiner Schulzeit noch im Rahmen meines Lehramtsstudiums offen über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt sowie die Bedeutung der eigenen Geschlechtlichkeit und Sexualität für den Professionalisierungsprozess gesprochen wurde. Dies hat sich mittlerweile in Teilen geändert, was sicher auch ein Verdienst der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung ist. Queere Themen sind in der Aus‑ und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften im Allgemeinen und von Lehrkräften im Besonderem jedoch nach wie vor marginalisiert oder werden vorwiegend auf sexualpädagogische Fragestellungen eingegrenzt. Dies verwundert mich, müssen wir uns doch alle ganz grundsätzlich mit Fragen der geschlechtlichen und sexuellen Identitätsbildung im Sozialisationsprozess auseinandersetzen. Und auch schulpädagogische Professionstheorien stellen bereits seit geraumer Zeit die ‚Unhintergehbarkeit der eigenen Person‘ im Zusammenhang mit dem Lehrberuf heraus. Gemeint ist damit der Umstand, dass Lehrkräfte keine Vermittlungsroboter sind, sondern stets als ‚ganze Person‘ in ihre berufliche Tätigkeit involviert sind, weshalb sie sich selbst als solche in ihrer Rolle als Lehrkraft zu reflektieren haben. Dies umfasst – nicht nur, aber sicher auch – ein Bewusstsein für Aspekte der eigenen Geschlechtlichkeit und Sexualität. Dies betrifft heterosexuelle und cis‑geschlechtliche Lehrkräfte ebenso wie jene, welche sich als LGBTIQ* verstehen. Es betrifft sämtliche Lehrkräfte!

Darüber hinaus fasziniert mich das Thema aus dem einfachen Grund, dass es eine gesellschaftliche wie auch globale Relevanz aufweist: Um dies nachzuvollziehen, kann es hilfreich sein, sich einmal einige mediale Ereignisse aus den vergangenen Jahren in Erinnerung zu rufen, die in Zusammenhang mit geschlechtlichen und/oder sexuellen Differenzordnungen zu sehen sind. Sie werden das von mir angesprochene post-heteronormative Spannungsverhältnis innerhalb einer globalisierten und digital vernetzten Welt sehr bald selbst bemerken. In diesem Sinne gab und gibt es nach wie vor zahlreiche Steine des Anstoßes, um sich mit dem Themenbereich intensiver zu befassen.

In den Jahren vor und während meiner Studie waren dies etwa die Debatte um die Veränderungen des Bildungsplans in Baden-Württemberg, die rechtliche Einführung der sogenannten Ehe für Alle – die im Übrigen immer noch nur zwei Personen vorbehalten bleibt und damit Heteronormativität festigt – sowie die Einführung der sogenannten dritten Option im Personenstandsrecht. Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen, wie es etwa aktuelle Diskussion um die One-Love‑Binde im Zuge der Fußball-WM der Männer in Katar, die Verleihung des deutschen Buchpreises (2022) an Kim de l’Horizon, das Eckpunktpapier für das Selbstbestimmungsgesetz, der Aktionsplan ‚Queer leben‘ oder auch die revolutionären Proteste im Iran gegen einen heterosexistischen Staatsapparat uns allen mehr oder wenig vor Augen führen. Sie merken also: Es ist gibt vielmehr einen kompletten Steinbruch an Impulsen und es wird sich auch in Zukunft lohnen, sich mit diesem Thema wissenschaftlich auseinanderzusetzen.

 

Wie ist die Studie methodologisch gerahmt?

Die Rahmung der Studie ist ein gutes Sichtwort: Die Publikation ist ja doch recht umfangreich geworden. Das liegt nicht zuletzt an einer methodologischen Herausforderung, die für mich darin bestand, die feministische Standpunkttheorie Donna Haraways ernst zu nehmen, also die eigene soziale wie auch wissenschaftliche Position, aus der heraus ich Forschung betreibe, ebenso wie die empirische Rekonstruktion selbst für die Leser:innen soweit als möglich nachvollziehbar zu halten. Auf diese Weise können Leser:innen anhand zahlreicher Interpretationen der Daten nachvollziehen, wie ich aus singulären Deutungen letztlich kollektive Deutungsmuster abgeleitet habe. Für situiertes Forschen gibt es keine Shortcuts! Das kostet Zeit und Seiten, wie der Verlag Barbara Budrich nur allzu gut weiß. So habe ich in der Publikation mein Verständnis kritisch‑dekonstruktiver Pädagogik, das auf der Verschränkung kritischer Bildungstheorie (u.a. Heydorn, Koneffke) und dekonstruktiver Subjekttheorie (u.a. Foucault und Butler) beruht, ebenso expliziert wie die gegenstandsangemessene Wahl des Deutungsmusteransatzes, auf den ich mich im empirischen Teil der Arbeit beziehe. Dabei ist meine Studie ein gutes Beispiel für eine Art der hybriden Forschung: Vereinfachend ließe sich sagen, dass meine Methodologie eine Verknüpfung pädagogischer Differenztheorien (z.B. Intersektionalität) mit der Deutungsmusteranalyse unter Berücksichtigung der praktischen Verfahrensvorschläge des Forschungsstils der Grounded Theory Methodology darstellt.

Den Deutungsmusteransatz finde ich besonders spannend, weil er die genierten Erkenntnisse sozialtheoretisch zwischen Struktur‑ und Subjektebene, also quasi auf einer analytischen Mesoebene, ansiedelt. Es geht von daher nicht um Einstellungen oder Meinungen einzelner Lehrkräfte, sondern um feldspezifische Orientierungen, die den Umgang mit und die Thematisierung von vielfältigen Lebensweisen leiten; und zwar quer zu den Interviewpartner:innen. Mit der Rekonstruktion von Deutungsmustern verhindere ich somit eine zu enge Rückbindung der Aussagen und ihrer Interpretation an die befragten Personen. Dieses Vorgehen schützt nicht zuletzt vor akademischem „Lehrkräfte‑Bashing“.

Ich hoffe, dass ich durch die prüfende Gegenüberstellung wie auch begründete Konstellation unterschiedlicher Forschungsperspektiven Studierende, Promovierende sowie Kolleg:innen dazu ermutigen kann, sich im Ringen um neue Erkenntnisse auf die Sache, also auf den Forschungsgegenstand als solchen sowie das Erfahrungswissen der Studienpartner:innen einzulassen, um im Bereich der Methodologie neue Wege zu beschreiten und sich nicht nur von zuweilen dogmatischen Methodenlehren leiten zu lassen. Dafür braucht es aber, wie gesagt, Zeit und Räume für den Austausch mit Kolleg:innen (z.B. in Forschungszusammenhängen). Weiterhin ist es klar, dass diese Ressourcen nicht allen Forschenden gleichermaßen zur Verfügung stehen (z.B. aufgrund von Care-Arbeit oder weil das nächste Drittmittelprojekt für die Zwischenevaluation als Juniorprofessor:in beantragt werden will).

 

Wie würden Sie die Studienergebnisse in maximal drei Sätzen zusammenfassen?

In drei Sätzen? Das versuche ich erst gar nicht, verspreche aber, mich wirklich kurz zu fassen: Die gute Nachricht der Publikation ist, dass Heteronormativität an Schulen in Bewegung gekommen ist. Anstelle von Post‑Heteronormativität könnten wir auch von einer un‑/gebrochenen heteronormativen schulischen Ordnung sprechen. Damit möchte ich herausstellen, dass LGBTIQ*‑Lehrkräfte – ungeachtet der in Teilen rekonstruierten Diskriminierungserfahrungen, weil sie z.B. als Vielfaltsressource von Kolleg:innen ‚gebraucht‘ werden – keine handlungsunfähigen ‚Opfer‘ der Verhältnisse sind, sondern selbst eine machtvolle Position als pädagogische Fachkraft im Feld der Schule besetzen und damit auch verantwortungsvoll umgehen. Das heißt, die in der Schule wirkende Heteronormativität ist diskursiv umkämpft, sie wird von der Vielfalt an Lebensweisen, die in der Institution und Organisation Schule lernt und arbeitet, sowohl reproduziert als auch aktiv in Rekurs auf unterschiedliche Deutungsmuster herausgefordert. Wie dies im Konkreten aussieht, darauf geben die drei in der Publikation rekonstruierten Deutungsmuster – Dethematisierung, Fragmentierung und Responsibilisierung – jeweils spezifische Antworten, die ich an dieser Stelle nicht verraten möchte. Nur so viel sei gesagt: Gemein ist den drei Deutungsmustern, dass die Lehrkräfte dem Themenkomplex ‚Geschlecht und Sexualität‘ jeweils eine unterschiedliche pädagogische Relevanz zuschreiben und auf diese Weise verschiedene Formen der institutionellen Zuständigkeit und professionellen pädagogischen Verantwortung legitimieren.

 

Darum bin ich Autor bei Budrich

Ich schätze den Verlag Barbara Budrich für sein vielfältiges erziehungswissenschaftliches, aber auch interdisziplinäres Programm sowie die zahlreichen Publikationsorgane, die insbesondere für Wissenschaftler:innen in Qualifizierungsphasen spannende Möglichkeiten eröffnen, um ihre Ergebnisse im Rahmen von Peer-Review-Verfahren zu prüfen und, wenn möglich, auch zu veröffentlichen. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle die GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft und das Jahrbuch erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung. Im persönlichen Kontakt mit den Mitarbeiter:innen des Verlags haben mich deren Professionalität, Verbindlichkeit und Geduld mit mir als Autor 😉 im Zuge der Erstellung der Druckfahne und zudem das hohe Engagement während der Suche nach Fördermöglichkeiten (in diesem Fall etwa für das Open-Access-Format) beeindruckt. Aus den genannten Gründen bin ich sehr gerne Autor bei Budrich, auch wenn mir die Formatierungsvorgaben schon die eine oder andere schlaflose Nacht bereitet haben.

 

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Studien zu Differenz, Bildung und Kultur, Band 13

Leseprobe

 

 

Der Autor: Florian Cristóbal Klenk

Foto von Budrich-Autor Florian Cristóbal KlenkProf. Dr. Florian Cristóbal Klenk studierte Lehramt an Gymnasien an der Technischen Universität in Darmstadt und wurde an der Bergischen Universität Wuppertal mit der hier präsentierten Publikation zu Post‑Heteronormativität und Schule in der Erziehungswissenschaft promoviert. Seit 2012 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik, aktuell in den Arbeitsbereichen „Praxislabor“ und „Schulpädagogik im Kontext von Heterogenität“, an der Technischen Universität in Darmstadt. Im Wintersemester 2022/2023 ist er im Rahmen einer Gastprofessur für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin tätig. Er interessiert sich in Forschung und Lehre für kritisch-dekonstruktive Bildungs‑ und Differenztheorie(n), geschlechtlich‑sexuelle Fragen der Subjektivation sowie die Analyse institutioneller Diskriminierung im Kontext eines sich inklusiv verstehenden Schulsystems.

 

Über das Buch

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ist im Schulalltag zunehmend präsent, nimmt darin jedoch nach wie vor eine prekäre Position ein – dies betrifft nicht nur LGBTIQ*-Kinder und -Jugendliche, sondern ebenso pädagogische Fachkräfte. Ausgehend von einer kritisch-dekonstruktiven Pädagogik rekonstruiert die Studie soziale Deutungsmuster über den Umgang mit und Thematisierung von vielfältigen Lebensweisen in der Schule. Dies geschieht auf Basis von qualitativen Interviews mit lesbischen, schwulen, bi- und heterosexuellen sowie inter-, trans*- und cisgeschlechtlichen Lehrkräften. Das Buch leistet damit einen innovativen Beitrag zu einem bislang kaum erforschten Themengebiet der Erziehungswissenschaft und liefert hierdurch neue Impulse für die Professionalisierung von Lehrkräften.

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com; Autorenfoto: privat