„Digitale Kindeswohlgefährdung“: Leseprobe

Cover "Digitale Kindeswohlgefährdung"

Herausforderungen durch digitale Medien für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen: Leseprobe aus Digitale Kindeswohlgefährdung. Herausforderungen und Antworten für die Soziale Arbeit, Beitrag „Risiken des Aufwachsens in einer Kultur der Digitalität: Einführung“.

 

Über „Digitale Kindeswohlgefährdung“

In diesem Buch werden Herausforderungen durch digitale Medien für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und Handlungsmöglichkeiten für die Soziale Arbeit dargestellt: Wie kann eine altersgerechte Mediennutzung gewährleistet werden? Wie können Minderjährige gestärkt werden, damit sie sich in den sozialen Medien sicherer bewegen? Welche sozialpädagogischen Handlungsansätze gibt es, um zum Beispiel auf übermäßiges Gaming oder problematischen Pornokonsum zu antworten? Die Autor*innen befassen sich außerdem mit Interventionsmöglichkeiten gegen Cybermobbing und sexualisierte Gewalt im Internet sowie mit Herangehensweisen beim Erkennen und bei der Abwendung digitaler Kindeswohlgefährdungen. Auch erlebte Herausforderungen und Grenzen von Fachkräften und Organisationen werden diskutiert.

Leseprobe aus den Seiten 7 bis 10

 

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Risiken des Aufwachsens in einer Kultur der Digitalität: Einführung

Olivier Steiner, Paul Burkhard, Rahel Heeg & Kay Biesel

 

1 Einleitung: Aufwachsen in einer Kultur der Digitalität

Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaften in tiefgreifender Weise. Ins­besondere das Internet hat dabei zu gesellschaftlich paradoxen Entwicklungen geführt: Es ermöglicht zum einen neue Formen der Vergemeinschaftung, die Bil­dung von translokalen Interessengruppen und die egalitäre Verbreitung von In­formationen. Zum anderen befördert es aber auch neue oder bestehende Formen des sozialen Ausschlusses sowie physischer, psychischer und politischer Gewalt (vgl. Bradshaw/Howard 2017; Ragnedda/Ruiu/Addeo 2022; Steiner 2015; Sub­rahmanyam/Smahel 2011). Die vielfältige und oftmals widersprüchliche soziale Wirkungsweise digitaler Technologien ist eine der zentralen Wesensmerkmale der entstehenden Kultur der Digitalität und erschwert eine Einordnung der Chancen und Potenziale dieser Entwicklungen (vgl. Castells 2005; Stalder 2016).

Mit Blick auf die Kommunikation ergeben sich infolge der Durchdringung von Alltag und Kultur mit digitalen Technologien Veränderungen in zeitlichen, räum­lichen und sozialen Dimensionen (vgl. Krotz 2001; Krotz 2007). Zeitlich wird Kommunikation durch digitale Technologien sowohl synchron (z.B. in Chats, Vi­deokonferenzen) als auch asynchron (z.B. in E-Mails oder Foren) ausgestaltet. In räumlicher Hinsicht ermöglichen digitale Technologien Kommunikation sowohl im territorialen Nahraum (z.B. in der Peergruppe) als auch über diesen hinaus (z.B. in der Kommunikation zwischen Diaspora und Herkunftsland oder in internationa­len sozialen Bewegungen) (vgl. Hepp 2004, 2009; Muri/Ritter/Rogger 2010). In sozialer Hinsicht erweitern digitale Technologien einerseits die Chancen zu kom­munikativem Handeln, Vernetzung und politischer Teilhabe, können andererseits aber auch den sozialen Ausschluss befördern und die Privatsphäre (Stichwort Da­tenschutz) bedrohen (vgl. Bastian/Burger/Harring 2016; Klein 2004; Kretschmer et al. 2018).

Digitalisierung ist in historischer Perspektive als einer von mehreren gesell­schaftlichen Wandlungsprozessen neben Individualisierung, Kommerzialisierung und Globalisierung zu verstehen. Friedrich Krotz (2003) verweist auf die kom­plexen wechselseitigen Beeinflussungen zwischen diesen „Metaprozessen“. Die entstehende Kultur der Digitalität ist damit immer auch im Kontext vielschichti­ger gesellschaftlicher Wandlungsprozesse zu analysieren. In diesem komplexen Geflecht von Digitalisierungsprozessen und damit in Verbindung stehenden ge­sellschaftlichen Umbrüchen haben sich auch die Sozialisationsbedingungen von Heranwachsenden tiefgreifend verändert. Um diese Veränderungen zu verste­hen, genügt es nicht, in den Blick zu nehmen, welche Medien Heranwachsende in welcher Weise nutzen und welche Wirkung ein einzelnes Medium auf das In­dividuum hat, denn digitale Technologien wirken nicht als etwas Äußerliches auf Heranwachsende und ihre sozialen Netzwerke – wie Peers, Familien oder Orga­nisationen, etwa die Schule oder die Kinder- und Jugendhilfe – ein, sondern sie transformieren soziale Praktiken tiefgreifend durch ihre physische Erscheinung (z.B. das User Interface Sozialer Medien), durch ihre Programmierung (z.B. in Form von Algorithmen) und durch ihre Verflechtung mit wirtschaftspolitischen Strukturen, welche sich z.B. in Form der Überwachung oder der Personalisierung der Inhalte zeigen (vgl. Ballantyne 2015; Kutscher/Seelmeyer 2017; Latour 2007; Meyer 2006; Schabacher 2013; Hoffmann/Krotz/Reißmann 2017).

 

2 Mediennutzung Heranwachsender: Chancen und Risiken

Digitale Technologien sind im Alltag von Kindern und Jugendlichen fest verankert. Mit 94 Prozent verfügen in Deutschland fast alle 12- bis 19-Jährigen über ein ei­genes Smartphone und ein Großteil (76 Prozent) über einen eigenen Computer/ Laptop – je älter desto häufiger, Jungen häufiger als Mädchen. Viele Jugendliche besitzen weitere Bildschirmmedien (vgl. Feierabend et al. 2021). Die Freizeit der meisten Jugendlichen ist entsprechend in hohem Maße medial ausgestaltet – täg­lich oder mehrmals die Woche nutzen fast alle Jugendlichen das Internet (95 Pro­zent), hören Musik (92 Prozent), sehen sich online Videos an (80 Prozent) oder spielen digitale Spiele (72 Prozent). Die Dauer der Internetnutzung hat dabei nach Selbsteinschätzung der Jugendlichen in den letzten zehn Jahren deutlich zuge­nommen: Gaben 12- bis 19-Jährige im Jahr 2011 noch an, an Werktagen durch­schnittlich 134 Minuten online zu sein, hat sich diese Zeit mit 241 Minuten im Jahr 2021 fast verdoppelt. Mädchen sind dabei durchschnittlich länger online als Jungen, und mit zunehmendem Alter steigt die täglich für die Internetnutzung aufgewendete Zeit deutlich an (ebd.). Auch hat sich die Onlinenutzung der Kin­der und Jugendlichen in den letzten zehn Jahren erheblich verändert, wobei sich insbesondere Social-Networking-Plattformen und Videostreaming zunehmender Beliebtheit erfreuen (vgl. Smahel et al. 2020). Auffallend ist, dass in Europa eine beträchtliche Anzahl junger Heranwachsender entgegen den von den Plattformen festgelegten Altersgrenzen Social-Networking-Angebote nutzen: So suchten 2018 etwa 28 Prozent der 9- und 10-Jährigen täglich eine Social-Networking-Plattform auf (ebd.).

Für das Verständnis der sich in den letzten Jahren stark verändernden Online­erfahrungen von Kindern und Jugendlichen sind im Wesentlichen zwei Kontext­faktoren relevant: Erstens hat sich der Zugang zu Medien stark vereinfacht und die Medienangebote haben sich stark diversifiziert, dies insbesondere durch (me­dien)technische Innovationen sowie Vermarktungsstrategien der multinationalen Medienkonzerne. Kaum zu unterschätzen sind dabei die Auswirkungen der tech­nischen Miniaturisierung digitaler Technologien und die damit verbundene unein­geschränkte räumliche Mobilisierung sowie die unterbrechungslose breitbandige Anbindung (vgl. Buschauer 2010; Turkle 2008; Wimmer/Hartmann 2014). Zwei­tens hat sich der gesellschaftliche Umgang mit Onlinemedien verändert, was sich im Wandel von Normen zeigt, beispielsweise in Bezug auf die Erwartung an eine ständige Onlineverfügbarkeit oder an eine hohe Präsenz in sozialen Medien (vgl. Hasebrink 2017). Gerade die schnelle und weite Verbreitung des Smartphones verweist auf die Bedeutung der mit diesen Prozessen verbundenen Konvergenz­phänomene: Das Smartphone konvergiert unterschiedliche Medien (z.B. Audio, Video, Text) in einem Gerät und ist zugleich in konvergierende technische Öko­systeme multinationaler Medienunternehmen eingebunden (über Betriebssysteme und Cloudanbindungen) (vgl. Jenkins 2006; Pon/Seppälä/Kenney 2015; Steiner 2015). Schließlich ermöglichte erst die technische Miniaturisierung digitaler Tech­nologien deren uneingeschränkte räumliche Mobilisierung, und die fortlaufende Anbindung an das Internet führte zum Phänomen des „always on“ – der ständi­gen zeitlichen und örtlichen digitalen Verbundenheit (vgl. Buschauer 2010; Turk­le 2008; Wimmer/Hartmann 2014).

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