Digitalität als Motor: Wie Digitalisierung Archive in Deutschland verändert – Gastbeitrag von den Herausgeber*innen von „Deutsche Archive im digitalen Zeitalter“

Gastbeitrag von Antje Diener-Staeckling, Dagmar Hovestädt, Joachim Kemper und Patrizia Lenz. Herausgeber*innen von Deutsche Archive im digitalen Zeitalter. Partizipation. Offenheit. Transparenz

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Am Anfang stand ein Aufruf: Beim Deutschen Archivtag des Jahres 2011 (in Bremen) wurde ein „Informelles Treffen Web 2.0-affiner Archivar*innen“ angesetzt. Genau drei Personen reagierten und trafen sich in einem Bremer Café (Patrick Frischmuth, Thomas Wolf, Joachim Kemper). Archive, so die Idee der Zusammenkunft, sollten sich weiter öffnen und die längst fortgeschrittene Digitalisierung schien dazu der richtige Motor. Unbeeindruckt von der zarten Resonanz verfolgten die drei die Grundüberlegung, im nächsten Jahr eine Konferenz zu organisieren. Aus dem „informellen Treffen“ wurde ein Arbeitskreis „Offene Archive“ im Verband deutscher Archivarinnen und Archive, eine jährliche Konferenz sowie ein Blog, das den Prozess der Öffnung deutscher Archive im digitalen Zeitalter seither begleitet, dokumentiert und manchmal auch inspiriert und provoziert. Was genau aber heißt es, Archive zu öffnen und was bewirkt Digitalisierung in diesem Prozess?

 

Archivische Kernaufgaben neu denken (müssen)!

Dass das Archivwesen und seine Vertreter*innen einen eher hierarchieorientierten und traditionsverbundenen Berufsstand bilden, liegt zu einem gewissen Grad in der Natur der Sache. Zu den „klassischen“ Kernaufgaben gehört es schließlich, Unterlagen zu bewahren, zu erschließen und einer langfristigen Lagerung, archivischen Standards entsprechend zuzuführen, damit sie vielen zukünftigen Generationen zur Verfügung stehen. So offenkundig erscheint es vielfach, dass Archive notwendig sind für Gesellschaft, dass der Bereich der Öffentlichkeitsarbeit im Archiv immer wieder kontrovers diskutiert wird, so zum Beispiel 2017 bei der Archive-2.0-Konferenz in Duisburg beim Archivcamp. Eine verkürzte Darstellung der Diskussion könnte in etwa so lauten: Im Kern stehen Bewerten, Erschließen, Verzeichnen, Zugänglichmachen – alles andere sei „nice to have“, so die einen. Die anderen hingegen argumentierten: Ohne Öffentlichkeitsarbeit keine Nutzung und wofür dann das Ganze? Die Idee der „Offenen Archive“ ist untrennbar verbunden mit einer offenen, zeitgemäßen Kommunikation nach außen.

Doch die aktuellen Zeitläufe haben solche Diskussionen mittlerweile hinter sich gelassen. Es geht nicht um die Frage, ob die verschiedenen Möglichkeiten von 2.0 entweder ein „nice to have“, also eine Ergänzung zu den klassischen Archivaufgaben darstellen, oder ein „must have“ neben eben diesen sind. Vielmehr zeigen viele Archivar*innen landauf und landab, dass die Entwicklung auf das „wie“ der Öffentlichkeitsarbeit zuläuft. Es geht um die Möglichkeiten, die mit einer internet-basierten Community und schnelleren Kommunikationswegen einhergehen sowie um die damit verbundene Notwendigkeit der Anpassung etablierter „klassischer“ Modelle. Das bedeutet Veränderung und die ist nicht nur im Archivwesen ein beschwerlicher Prozess.

 

Archive 2.0: Partizipation

Sind Partizipation und Interaktivität der Archiv-Nutzenden die logische Konsequenz der Digitalisierung? Offenkundig ist, dass Digitalität die aus bestandserhalterischer Notwendigkeit geschlossenen Blenden öffnet und damit den Blick ins Archiv ermöglichen kann – über soziale Medien, eigene Webseiten und Blogs bis hin zu digitalen Findmitteln, digitalen Lesesälen und Crowd-Sourcing bei der Erschließung. Allein, die Archive müssen sich dazu entscheiden und auch selbst am digitalen Diskurs partizipieren. Kommunikation und Partizipation ist ein wechselseitiger Prozess, mit spannenden Aussichten und der offenen Frage: Hat das Archiv auch Platz für seine Nutzer*innen?

Werden die Instrumente des Austausches anfänglich noch mehr begriffen als Visitenkarte oder Werbung fürs Archiv, also als zusätzliche „Orte“, an denen das „reguläre“, also analoge, praktiziert wird, so finden sich bald weiter gehende und „radikalere“ Ansätze ein. Crowd-Sourcing bspw. bietet dem Nutzenden eine Teilhabe am archivischen Werk, zur Entlastung und Bereicherung der Arbeit der Archivar*innen.  Und mit jedem Archiv, das eine Online-Präsenz auf einer der stetig zunehmenden Platt-formen startet, wächst die Interaktion und der Wunsch der Nutzenden, das Archivgut auch nach ihren Bedürfnissen finden zu können. (Digitale) Archive sind zur Partizipation verdammt, wenn all ihr Bewahren nicht auch die zukünftigen Nutzenden in den Blick nimmt.

 

Blogs und Social Media

Wenn es denn eine Form des digitalen Austausches gibt, die bei digital-offenen Archivar*innen einen großen Vertrauensvorschuss hatte, dann sind dies Blogs, die oft als erstes Social-Media-Tool von Archiven online gingen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Durch ihre Präsenz auf etablierten Plattformen und ihre Form, die einem wissenschaftlichen Artikel mit Anmerkungen ähnelt, erscheinen sie für viele vertrauenswürdig. Hinzu kommt die Vorstellung von einer gewissen Form der Nachhaltigkeit: Blogartikel sollten auch nach längerer Zeit über einen Permalink verfügbar sein. Deswegen werden sie auch mit analogen Veröffentlichungen gleichgesetzt und bekommen eine ISSN, die ein digitales Gegenstück zur analogen ISBN bildet. Akzeptanz bedeutet an dieser Stelle nicht nur Schreiben, sondern auch und v. a. Lesen und Konsumieren. Das „Urblog“ der Archivszene archivalia wird in der gesamten Archivwelt gelesen und wahrgenommen, was nur wenigen anderen archivischen Blogs gelingt.

Das Verhältnis von Archiven zu Social Media hingegen war von Anfang an ambivalent. Eigentlich ein weiteres Werkzeug für die dringend notwendige Öffentlichkeitsarbeit der Archive, wurden Social Media nur schleppend genutzt und somit auch nur wenig eingesetzt. Dabei liegen die Vorteile auf der Hand: Eine Vernetzung mit Nutzer*innen und Kolleg*innen ist möglich, ebenso ein verwaltungsinterner Austausch und vor allem eine bessere Außen- und Innenpositionierung. Nach Startschwierigkeiten haben aber auch eine stetig wachsende Zahl an deutschsprachigen Archiven im Web 2.0 Fuß gefasst und ermöglichen Interaktion, Vernetzung und Kooperation zwischen Archivar*innen und ihren Nutzer*innen.

Apropos. Ein Thema, das von öffentlichen Stellen und Archiven bisher komplett ausgeblendet wird, ist das Thema der Archivwürdigkeit und der Archivierung der Social-Media-Daten. Hier gibt es nach einigen Anläufen endlich tragfähige Konzepte für Twitter, die auch für andere Kanäle wie Facebook, Instagram oder TikTok wünschenswert wären.

 

„Archive 2.0“ – Vom Tagungsblog zum zentralen Austauschmedium

So dezentral wie das Internet und die digitale Welt sind, so notwendig ist es, sich in der analogen Welt über das zu Schaffende auszutauschen. Insofern haben die regelmäßigen Konferenzen des Arbeitskreises „Offene Archive“ eine reflektierende und stabilisierende Funktion. Die Anfänge der Konferenzreihe liegen im Jahr 2011. Mit den Konferenzen der Jahre 2012 (Speyer), 2014 (Stuttgart), 2015 (Siegen), 2017 (Duisburg) sowie 2019 (Berlin) und weiteren, teils damit verknüpften innovativen bzw. digitalen Formaten (u. a. „ArchivCamps“) hat der Arbeitskreis „Offene Archive“ durchaus archivisches Neuland betreten …

Dieses Neuland wird auch jenseits der Konferenzen beschrieben, erforscht, kommuniziert und diskutiert, und zwar in dem parallel eingerichteten Blog Offene Archive das im Jahr 2022 sein zehnjähriges Bestehen feiert. Es umfasst neben den Ergebnissen der Konferenzen auch eine stets wachsende Zahl an Fachbeiträgen, Hinweisen, Werkstattberichten und vieles mehr. Seit Beginn sind über 1.000 Beiträge geschrieben und veröffentlicht worden, die in dem Sinne auch eine Dokumentation des Aufbruchs deutscher Archive ins digitale Zeitalter sind. Sie vereinen im besten Sinn des Wortes das „Hacken“ (i. S. der Experimentierfreudigkeit) von und in Archiven. In dem Sinne sind sie zweckgetrieben, denn „Archive sind wie Fallschirme. Sie erfüllen ihren Zweck erst dann, wenn sie sich öffnen.“*

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* Übersetzung eines Tweets des spanischen Militärarchivs vom 10.11.2016

 

Die Herausgeber*innen

Dr. Antje Diener-Staeckling, LWL-Archivamt für Westfalen, Münster
Dagmar Hovestädt, Bundesarchiv, Stasi-Unterlagen-Archiv, Berlin
Dr. Joachim Kemper, Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg
Patricia Lenz, Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen

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Antje Diener-Staeckling, Dagmar Hovestädt, Joachim Kemper, Patricia Lenz (Hrsg.):

Deutsche Archive im digitalen Zeitalter. Partizipation. Offenheit. Transparenz

 

 

© Titelbild: Pexels.com | Tima Miroshnichenko