Wohlstand ist ein sehr alltäglicher Begriff. Sebastian Thieme zeigt in seinem neuen Buch Wohlstand. Ideengeschichtliche Positionen von der Frühgeschichte bis heute, dass dieser tatsächlich gar nicht so eindeutig ist, und erörtert ihn unter Einbeziehung von volkswirtschaftlichen Nachschlagewerken, aus der Perspektive der Forschung zur Geschichte des ökonomischen Denkens (ökonomische Ideengeschichte) und mit Blick auf seine Verwendung in aktuellen ökonomischen Lehrbüchern.
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Einleitung: Wohlstand, ein ökonomischer Begriff
Was ist „Wohlstand“? Diese Frage mag zunächst etwas verwirren, handelt es sich beim „Wohlstand“ doch um einen sehr alltäglichen Begriff. Es gibt wohl kaum Menschen, die sich nichts darunter vorstellen können. Allerdings mögen die entsprechenden Vorstellungen von Person zu Person, von Debatte zu Debatte, Kultur zu Kultur, Zeit zu Zeit oder Fachdisziplin zu Fachdisziplin erheblich variieren. Dann bestehen gute Chancen darauf, aneinander vorbei zu diskutieren. Missverständnisse und Konflikte sind vorprogrammiert. Ist eine Auseinandersetzung mit Wohlstand ernst gemeint, wird es daher notwendig sein, sich zunächst über die Verwendung des Begriffs, seine Synonyme, Inhalte, Assoziationen usw. – kurz: über den aktuellen Stand des Begriffsverständnisses – Klarheit zu verschaffen.
Wer als erste Annäherung an den Begriff „Wohlstand“ den Duden aufschlägt, findet ihn erklärt als „Maß an Wohlhabenheit, die jemandem wirtschaftliche Sicherheit gibt“, und assoziiert mit einem hohen Lebensstandard, wobei sich an dieser Stelle kritisch fragen ließe, was mit dem hohen Lebensstandard gemeint und was der Referenzpunkt dafür ist (Duden 2018).1 Ergänzend dazu führt der Duden deutlich wirtschaftliche und wirtschaftstheoretische Synonyme an: „Besitz[tümer]“, „Gelder“, „Goldregen“, „Güter“, „Kapital“, „Mittel“, „Reichtum“, „Schätze“, „Vermögen“ und „Vermögenswerte“ sowie (bildungssprachlich) „Prosperität“. Wenn der Begriff „Wohlstand“ so stark mit ökonomischen Vorstellungen verbunden ist, dann scheint es für eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Begriff sinnvoll zu sein, sich auch damit zu befassen, wie dieser und das entsprechende Phänomen in der Wissenschaft über die Wirtschaft – in der Ökonomik – thematisiert wird.1 Hinzu kommt, dass ‚die‘ Ökonomik als eine Leitwissenschaft mit gesellschaftlicher Wirkung in Erscheinung tritt: Viele gesellschaftspolitisch relevante Themen stehen in wirtschaftlichen Zusammenhängen, die wiederum eine wirtschafstheoretische Expertise notwendig werden lassen, so dass das Denken dieser Disziplin auch die Debatten in ‚der‘ Politik, ‚den‘ Medien und allgemein in ‚der‘ Gesellschaft prägt. Das wird auch beim Thema „Wohlstand“ so sein. Deshalb soll sich der nachfolgende Blick auf das Verständnis von Wohlstand in ‚der‘ Ökonomik richten. Diese Annäherung an den Begriff „Wohlstand“ wird dabei von drei Schwerpunkten her erfolgen, im Detail: „Wohlstand“
- in volkswirtschaftlichen Nachschlagewerken,
- aus der Perspektive der Forschung zur Geschichte des ökonomischen Denkens (ökonomische Ideengeschichte) und
- mit Blick auf seine Verwendung in aktuellen ökonomischen Lehrbüchern.
Damit verbindet sich eine Analyse, in deren Rahmen u.a. folgende Fragen erwogen werden sollen: Was lässt sich unter „Wohlstand“ verstehen? Wie kommt es, dass es offenbar immer noch attraktiv ist, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Referenzpunkt für Wohlstand zu nutzen? Besteht ein Bedarf dafür, „Wohlstand“ neu zu definieren? Wenn ja, worauf gründet sich dieser und wie kann eine Neudefinition aussehen? Diesen und anderen Fragen soll hier nachgegangen werden.
Der Band ist wie folgt gegliedert: Im Teil I geht es um die Verwendung des Begriffs „Wohlstand“ in volkswirtschaftlichen Nachschlagewerken. Der dann darauffolgende Teil II ist der Geschichte des ökonomischen Denkens gewidmet: Wie wurde über Wohlstand gedacht? Wie entwickelte sich das Verständnis von Wohlstand? Diese Erörterung wird die Perspektive der ideengeschichtlichen Forschung behandeln, aber im Detail auch auf zwei Werke eingehen, nämlich den Wohlstand der Nationen von Adam Smith und Ludwig Erhards Wohlstand für alle. Im Teil III steht der Umgang mit Wohlstand in ökonomischen Lehrbüchern im Zentrum. Dort wird es um standardökonomische Lehrbücher gehen, die jene Inhalte repräsentieren, welche in der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung in Deutschland häufig vorkommen. Dies wird im Teil IV durch zwei Beispiele für heterodoxe Lehrbücher kontrastiert, d.h. Lehrbücher, die aus einer bewusst kritischen Haltung zum sogenannten ökonomischen Mainstream der Ökonomik geschrieben wurden. Der Teil V fasst die Einsichten aus diesen Erörterungen zum Begriff „Wohlstand“ zusammen. Abgeschlossen werden die Überlegungen des Bandes mit Teil VI, in dem die Frage nach der Neu-Definition von „Wohlstand“ wieder aufgegriffen wird und ein Ausblick auf ein alternatives Verständnis von Wohlstand erfolgt.
Zwischen den einzelnen Schwerpunkten existieren Zusammenhänge sowie inhaltliche Überschneidungen. Auf diese Weise entfaltet sich nach und nach ein breiter Blick auf die unterschiedlichen Verständnisse von Wohlstand in ‚der‘ Ökonomik und die damit verbundenen Probleme. Gleichwohl ist das vorliegende Buch so angelegt, dass die einzelnen Teile nach eigenem Gutdünken auch separat gelesen werden können. Lesende, die von Ungeduld geplagt sind, mögen die Zusammenfassungen zu den Schwerpunkten in den jeweiligen Abschnitten oder – für einen großen Überblick – die Zusammenfassung im Teil V konsultieren. Ausgewählte Begriffe, die immer wieder im Text auftauchen oder deren Kenntnis für das Verständnis wichtig ist, können im abschließenden Glossar nachgeschlagen werden.
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1 Um sich dem Begriff „Wohlstand“ zu nähern, soll die nachfolgende Erörterung ganz bewusst an diesem deutschsprachigen Begriff ansetzen und die damit verbundenen Synonyme und Assoziationen zum Ausgangspunkt nehmen. Im Gegensatz dazu sind auch andere Wege und Ausgangspunkte denkbar. Zum Beispiel wird im Englischen das individuelle oder gesellschaftliche „Wohl“ mit „well-being“ zum Ausdruck gebracht, dessen Inhalt sich aus psychologischer Sicht wie bei Ryan & Deci (2001) erörtern ließe, die dabei auch auf Begriffe wie „Eudaimonia“, „Hedonismus“, „wellness“ (im Sinne körperlichen und geistigen Wohlbefindens) und „happiness“ (Glück) zu sprechen kamen. Wird Wohlstand mit „Wohlfahrtsstaat“ assoziiert, ließe sich im Anschluss an den englischen „welfare state“ zunächst erörtern, was unter „welfare“ verstanden werden kann. Nachfolgend wird aber ganz bewusst am deutschsprachigen „Wohlstand“ angesetzt: Es wird also hauptsächlich um die Vorstellung, das Verständnis und die Diskussion um Wohlstand im deutschsprachigen Raum gehen. Das liegt in den für dieses Vorhaben zur Verfügung stehenden Kapazitäten begründet. Davon abgesehen ist es für eine systematische Erörterung – wie sie hier angestrebt wird – notwendig, sich zu fokussieren und den Gegenstandsbereich einzugrenzen. Zu beachten ist dabei, dass damit zwar bestimme Schwerpunkte gesetzt werden, das aber nicht bedeutet, sich Überlegungen und Debatten aus dem nicht deutschsprachigen Bereich zu verschließen.
1 Nachfolgend wird differenziert zwischen „Ökonomie“ im Sinne von „Wirtschaft“ und „Ökonomik“ als Wissenschaft, die „Wirtschaft“ zum Gegenstand hat. Im deutschssprachigen Bereich existieren u.a. folgende Synonyme für „Ökonomik“: „Wirtschaftstheorie“, „Volkswirtschaftslehre“ (VWL), englisch „economics“ oder auch „Nationalökonomik“.
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Sebastian Thieme:
Wohlstand. Ideengeschichtliche Positionen von der Frühgeschichte bis heute
→ Interview mit Sebastian Thieme
Der Autor
Dr. Sebastian Thieme, Jahrgang 1978, aufgewachsen in Leipzig, Berufsabschluss Bürokaufmann (mit Belobigung) 1999, Abschluss Diplom-Volkswirt an der Universität Leipzig 2007, dann 2012 dort im gleichen Fach die Promotion (summa cum laude) zur Subsistenz als Moralprinzip und seiner Bedeutung in der Ökonomik, Tätig in verschiedenen Drittmittelprojekten zur „Pluralen Ökonomik“, mehrmals Vertretungsprofessor für VWL an der Hochschule Harz (2018/2019, 2019/2020) und Lehraufträge „Wirtschaft und soziale Verantwortung“/ Wirtschaftsethik (Alanus-Hochschule), seit Februar 2023 wissenschaftlicher Referent (Ökonomie) an der Katholischen Sozialakademie Österreichs. Forschungsschwerpunkte sind u.a.: Subsistenz, Wohlstand, Wirtschaftsethik/ ökonomisch und Normativität, Katholische Soziallehre, Sozialökonomik, Plurale Ökonomik/ heterodoxe Ökonomik, ökonomische Ideengeschichte, Wirtschaftsstilforschung, das Paderborner Erwägungskonzept, Sozialstaat, ökonomische Misanthropie. Persönliche Homepage: https://economicethics.blogspot.com/, auf X/Twitter zu finden unter: @economicethics
Über „Wohlstand“
Wie erkennt man naturwissenschaftliche Begabung bei Schüler*innen? Wie kann sie gezielt gefördert werden? Diese Fragen behandeln die Autor*innen in diesem Buch eingehend für alle Akteur*innen des Bildungssystems, inklusive angehenden Lehrpersonen. Sie thematisieren dabei nicht nur fachdidaktische und theoretische Zugänge, sondern liefern konkrete Umsetzungsansätze für die Arbeit mit naturwissenschaftlich begabten Schüler*innen am Beispiel des Biologieunterrichts.
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