„Schulleistungen“: Leseprobe

Leseprobe Schulleistungen

Eine Leseprobe aus Schulleistungen. Eine Orientierungshilfe für Lehrkräfte und Lehramtsstudierende von Ludwig Haag und Thomas Götz, Kapitel „4.3 Wie beeinflussen (Mit-)Schüler*innen die Schulleistungen?“.

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4.3 Wie beeinflussen (Mit-)Schüler*innen die Schulleistungen?

Bräu (2022) weist in ihrem Aufsatz darauf hin, wie sowohl Lehrkräfte als auch Schü­ler*innen über die Art und Weise, wie sie Rückmeldungen im Unterricht gestalten, Schulleistungen beeinflussen können. So können gute Leistungen solche Schüler*in­nen für sich verbuchen, „die zum einen entschlüsseln, welche Verhaltensnorm gerade gilt, also welche Spielräume genutzt werden können und welches Verhalten sanktio­niert wird, und zum anderen, was inhaltlich gefragt ist“ (S. 10). Schüler*innen also, die die expliziten und impliziten Leistungskriterien und Verhaltensnormen erkennen und das gefragte Wissen dann in regelkonformer Weise präsentieren – seien es allein ein Stichwort oder ausformulierte Sätze als Antwort oder das Mitliefern von Begrün­dungen – sind gerade im Unterrichtsgespräch und/oder in mündlichen Prüfungen im Vorteil. So pflegt jede Lehrkraft für sich zu regeln, was für sie als gute Leistung gilt, und kommuniziert dies bewusst oder unbewusst in der Klasse. Man spricht hier von sog. Orientierungspraktiken.

Auf Lehrer*innenseite nennt Bräu noch sog. Kulanzpraktiken, wenn sie großzügig über Fehler hinwegsehen, ungenaue Antworten korrigieren oder nur „gute Leistun­gen“ betonen und über schwächere hinwegsehen.

Auf Schüler*innenseite spricht Bräu von sog. Imagepraktiken. Darunter versteht sie, wenn Schüler*innen sich selbst als fleißig, klug und aufmerksam inszenieren. Ku­lanz ist ja eigentlich etwas Positives. Doch wenn nun je nach solchen Imagepraktiken Lehrkräfte unterschiedlich Kulanz pflegen, können sich Leistungszuschreibungen fes­tigen, Leistungsunterschiede manifestiert werden, obwohl sie nicht eindeutigen Maß­stäben folgen.

Fend (2008, S. 71) konnte empirisch nachweisen, dass sich in Klassen Normstruk­turen ergeben, d. h. Kriterien der Wertschätzung und Ablehnung. In Schulklassen fin­det ein Prozess statt, in dem die Leistungsforderungen der Schule entweder positiv oder eher negativ interpretiert und verarbeitet werden. Um Leistungsbeurteilungen und um akzeptiertes Leistungsverhalten drehen sich unzählige Gespräche und Anspie­lungen unter Mitschüler*innen, die deren Leistungsbereitschaft unterschiedlich beein­flussen können.

Fend weist weiter auf Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Wertkulturen in Klassen und deren moderierenden Einfluss auf Noten hin (S. 110ff.). Sie gruppie­ren sich häufig um die Art und Weise, wie auf die formellen schulischen Erwartungen reagiert wird. Es gibt Klassen, in denen Schüler*innen mit guten Noten geachtet und solche, in denen sie geächtet werden. In Klassen, die schulfreundlich und leistungs­freundlich sind, harmonieren Gefühle des Stolzes auf die eigene Leistung mit einer Anerkennung durch Mitschüler*innen. Gute Noten erhöhen die Zufriedenheit und stärken eine positive Haltung zur Schule. In Klassen, in denen die dominante Kultur unter Mitschüler*innen eher schulfeindlich ist, löst sich diese Harmonie auf (Specht & Fend, 1979). Leistung und soziale Anerkennung bei Mitschüler*innen geraten in Kon­flikt mit der Konsequenz, dass dieser Konflikt zu Lasten von Schulleistungen endet.

 

4.4 Wie beeinflussen Eltern/Familien die Schulleistungen?

Fend (2008, S. 113) kann basierend auf seinen Forschungen konstatieren, dass, wenn es um eine Wirkungsanalyse der Schule ging, die Eltern anfangs nicht im Zentrum des Interesses standen. Dies sollte sich im Verlauf der verschiedenen Untersuchungen ändern. Die Forschung zur Art und Weise, wie „Schule“ im Raum der Familie verarbei­tet wird, rückte immer deutlicher in den Vordergrund. Und es ergaben sich klare Hin­weise auf die große Bedeutung der Eltern. Wie Informationen über schulischen Erfolg und Misserfolg in der Familie aufgenommen und an die Kinder in der Form von Beloh­nung und Anregung, von Beaufsichtigung und Kontrolle weitergegeben werden, wirkt sich auf die Leistungsangst und das Selbstvertrauen der Kinder deutlich aus. Fend spricht davon, dass die Möglichkeiten der Eltern asymmetrisch sind: Verhalten sie sich positiv, kann sich der schulische Anforderungskontext wie hoher Leistungsdruck selbstwertdrückend und angsterzeugend auswirken. Sie können also in der Sprache Fends ausgedrückt „ihre Kinder durch positives ‚Coaching‘ nicht generell vor belasten­den Erfahrungen in der Schule schützen“ (S. 113). Sind sie dagegen umgekehrt aber eher überfordernd und negativistisch unzufrieden, dann wird auch ein positiver schu­lischer Kontext neutralisiert.

Fakt ist: Bildung und Lernen beginnen nicht erst in der Schule. Es existieren di­verse institutionelle Bildungskontexte. So erbringen Familien spezifische Leistungen, die mit dem Zugang zu Kultur und Bildung zu tun haben. In Abschnitt 3.2.3 haben wir Auswirkungen des sozioökonomischen Status auf die Schullaufbahn der Kinder besprochen. Hier gehen wir auf die Bildungsprozesse ein, wie sie in Familien ablaufen.

 

Bildungsprozesse in Familien

Brake (2011) nennt einige Besonderheiten, die den Bildungsort Familie von anderen institutionellen Bildungskontexten unterscheidet: Die Familie bleibt die als zeitlich langandauerndste Instanz bildungsrelevant.

  • Die Mitglieder einer Familie adressieren sich wechselseitig in ihrer individuellen Ganzheitlichkeit, d. h. hinsichtlich der leiblichen, sozialen, emotionalen und kog­nitiven Entwicklung.
  • Die Bildungsprozesse in Familien sind in den Vollzug des gemeinsamen Alltags ein­gelassen, der je nach materiellen, räumlichen, zeitlichen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Familie eine spezifische Ausgestaltung zeigt.
  • In der Bildungsforschung ist seit einem halben Jahrhundert bekannt, dass der Ein­fluss der Familie auf die Leistungs- und Verhaltensentwicklung von Kindern sehr groß ist. So wurde beispielsweise durch die PISA-Studien gezeigt, dass gerade in Deutschland die kulturellen und sozialen Ressourcen der Herkunftsfamilie einen entscheidenden Einfluss auf den schulischen Erfolg der Kinder nehmen.

 

Einfluss der Familienform auf die schulische Leistung

Veränderungstendenzen des familiären Zusammenlebens in den letzten Jahrzehnten wurden in den öffentlichen Medien immer wieder als Krisenszenarien erlebt. Brake (2011) untersuchte anhand dreier Familienfaktoren, inwiefern sich Zusammenhänge mit schulischem Bildungserfolg ergeben.

  • Familienform: Anhand der PISA-Daten wurden Jugendliche, die in einer Kernfa­milie mit ihren Eltern seit Geburt aufwachsen, verglichen mit Jugendlichen, die in Ein-Eltern-Familien, und mit Jugendlichen, die mit einem Elternteil und einer wei­teren Person (sog. Stiefmütter oder Stiefväter) zusammenleben. Weder konnte ein Zusammenhang zwischen der familiären Konstellation und der Wahrscheinlich­keit, das Abitur oder einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen, nachgewiesen werden noch zwischen der Konstellation und den Kompetenzmaßen. Annahmen, die von einer familien-strukturellen Defizithypothese für die kindliche Entwick­lung ausgehen, konnten empirisch keine Bestätigung finden.
  • Anzahl der Geschwister: Es wurde untersucht, welche Bedeutung Geschwister­kinder für die kognitiv und psychosoziale Entwicklung von Kindern haben. Ein­zelkinder haben im Vergleich zu Kindern mit drei und mehr Geschwistern eine 1,5 bis 2,5-fach höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen (unter Kontrolle des Migrationshintergrundes). Für den schulischen Kompetenzerwerb trifft dieser Zu­sammenhang nicht zu, Jugendliche im Gymnasium unterscheiden sich hier nicht in Abhängigkeit ihrer Geschwisterzahl. Andererseits wird Geschwisterkindern eine Ressource in der Bewältigung ihres Alltags nachgesagt (z. B. soziale Kompetenzen wie Kompromissbereitschaft, Aushandlungskompetenz, Rücksichtnahme). Auch hier deutet nichts darauf hin, dass Einzelkinder sich weniger wohl in ihren Familien fühlen oder schlechter in Freundschaftskreisen oder Schule integriert sind.
  • Mütterliche Erwerbstätigkeit: Mit der steigenden Erwerbstätigkeit von Müttern und vor allem der damit verbundenen außerfamiliären Betreuung ist häufig die Sorge verbunden, dass die Kinder in ihrer Entwicklung Schaden nehmen könnten. Auch unter Kontrolle von Kovariaten, wie Sozialschicht oder Migrationshinter­grund, hat die Häufigkeit und Struktur von mütterlicher Erwerbstätigkeit keine Auswirkungen auf den Kompetenzerwerb der Heranwachsenden.

Zusammenfassend kann für die drei beobachteten familienstrukturellen Merkmale davon ausgegangen werden, dass sie nicht per se in einem Zusammenhang stehen mit den Bil­dungschancen der Kinder, sondern – wenn überhaupt – wirksam werden über nachteilige ökonomische und andere Ressourcenlagen in den Familien mit berufstätigen Müttern, die vielleicht zudem noch alleinerziehend sind (Brake, 2011, S. 98).

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3D Cover Schulleistungen 150 pxLudwig Haag, Thomas Götz:

Schulleistungen. Eine Orientierungshilfe für Lehrkräfte und Lehramtsstudierende

Interview mit den Autoren

 

 

 

Die Autoren

Budrich-Autor Ludwig HaagLudwig Haag: In einem Doppelstudium machte ich einen Abschluss als Diplompsychologe und ein erstes Staatsexamen in den Alten Sprachen Latein und Griechisch. Nach meinem zweiten Staatsexamen unterrichtete ich mehrere Jahre als Studienrat Latein und Ethik und war als Schulpsychologe für mehrere Gymnasien zuständig. Nach einer Promotion in Schulpädagogik und Habilitation in Psychologie und einer erweiterten Habilitation in Schulpädagogik hatte ich nach einer Assistenztätigkeit an der Universität Erlangen-Nürnberg von 2004 bis zur Emeritierung 2020 den Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Universität Bayreuth inne. Über viele Jahre war ich in der Lehrerfortbildung tätig und hatte Lehraufträge an der ETH Zürich und Freien Universität Bozen. Meine zentralen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der empirischen Unterrichtsforschung wie individuelle Förderung, Hausaufgaben und Nachhilfeunterricht.

Budrich-Autor Thomas GötzThomas Götz: Nach meiner Promotion und Habilitation im Fach Psychologie an der LMU München war ich zwölf Jahre lang Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Konstanz. Dort war ich maßgeblich am Aufbau der Binational School of Education beteiligt, deren Sprecher ich auch mehrere Jahre war. 2019 wechselte ich dann an die Universität Wien – hier bin ich Professor für Bildungspsychologie und gesellschaftliche Veränderungen. Zudem bin ich an der Fakultät für Psychologie Vorstand des Instituts für Psychologie der Entwicklung und Bildung. Meine Forschungsschwerpunkte liegen in der Emotionsforschung – mit einem besonderen Fokus auf Langeweile im Lern- und Leistungskontext.

 

Über „Schulleistungen“

Verbündet-Sein, Vernetzung und Vergemeinschaftung: Diese Konzepte sind in jüngster Zeit wieder in den Mittelpunkt (queer-)feministischer, genderspezifischer und intersektionaler Theorien und Praktiken gerückt. Die Beiträge des Buchs thematisieren Erfolge und Herausforderungen queer-feministischer, antirassistischer und intersektionaler Bündnisse in ihren lokalen, regionalen und globalen Verbundenheiten.

 

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