„Habitus-Milieu-Reflexivität“: Leseprobe

Leseprobe Habitus-Milieu-Reflexivität

Eine Leseprobe aus Habitus-Milieu-Reflexivität. Schlüsselqualifikation herrschaftskritischer Sozialer Arbeit von Claudia Rademacher, Kapitel „1 Einleitung“.

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1 Einleitung

Bei der vorliegenden Fülle an Publikationen, die sich mit Anforderungen an die Soziale Arbeit, mit unabdingbaren Schlüsselqualifikationen, Kompetenzen und Ähnlichem beschäftigen, drängt sich die Frage auf, warum es dieses Buch noch braucht. Steigen mit einem weiteren Buch nicht noch mehr die Anforderungen an die Soziale Arbeit und setzt dies Sozialarbeitende normativ eher unter Druck und überfordert sie letztlich?

Dieses Buch zur Schlüsselqualifikation „Habitus-Milieu-Reflexivität“ möchte einen anderen Weg einschlagen: Statt weitere normative Anforderungen an die Sozialarbeitenden zu stellen, wird hier eine andere Perspektive auf deren Professionalität0F 1 eröffnet. Diese Sicht auf Professionalität geht von Erfahrungen Sozialarbeitender aus, die davon berichten, was ihnen die Arbeit so erschwert, welche Erfahrungen des Scheiterns sie machen und davon, wie mühselig es sei, Erfolge im beruflichen Alltag zu erkennen und festzumachen (vgl. Boecker 2015). Aus ihrer Alltagssicht schildern Praktizierende häufig, dass Interventionen mit den Adressat:innen1F 2 nicht nachhaltig seien, dass man nach einigen Wochen wieder an der Stelle sei, an der die Interventionen in Gesprächen, Beratungen und Hilfeplänen ihren Ausgang genommen hätten. Das Buch nimmt diese beruflichen Erlebnisse zum Ausgangspunkt: Wie können sozialarbeiterische personenbezogene Dienstleistungen, die auf Änderung der Verhaltens- und Handlungsweisen von Adressat:innen und damit auf die Umgestaltung ihrer Praktiken zielen, wirkungsvoller, d.h. nachhaltiger sein?

Bezogen auf ihre professionelle Basis betonen Sozialarbeitende oftmals, die Adressat:innen da ,abzuholen‘, wo sie stehen. Dieser normative Anspruch des individuellen ‚Abholens‘ ist allerdings komplex und setzt die Bearbeitung folgender Fragen voraus: Wo stehen die Adressierten und welche Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Orientierungsmuster prägen sie? Wo befinden sich die Sozialarbeitenden, was ihre eigenen Denk- und Wahrnehmungsmuster, Bewertungs- und Orientierungsmuster sowie ihre sozialarbeiterische Selbstreflexion und Positionierung betrifft? Mit welchen Theorien, Methoden und Konzepten etc. beabsichtigen die Professionellen, den Weg zu den Menschen im Hilfesystem zu überbrücken? Welche Personen und Institutionen, welche institutionellen Blicke und Deutungsmuster können im Wege stehen? Wohin soll der Weg führen und was sind kurz-, mittel- und langfristige Ziele? (Vgl. El-Mafaalani 2014: 229 mit Bezug auf die Möglichkeit habitussensibler Schulpraxis)

Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen wird hier Sozialarbeitenden vorgeschlagen, die Perspektive der Habitus-Milieu-Reflexivität einzunehmen. Betrachtet wird dabei weniger das Individuum, sondern der individuelle Habitus: d.h. die verinnerlichten und in den Körper eingeschriebenen Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs-, Orientierungs- und Handlungsmuster der Adressat: innen und Professionellen, eingebettet und entstanden in Lebensstilen und Alltagspraktiken sozialer Milieus.

Im Unterschied zu anderen Ansätzen Sozialer Arbeit wird hier eine Strukturkategorie, das soziale Milieu, in die professionelle alltägliche Arbeit direkt eingebunden, anstatt sie lediglich als reine Referenz- und Bezugsgröße heranzuziehen. Zwar stützen sich zahlreiche Theorien Sozialer Arbeit auf die Annahme, dass Soziale Arbeit in Macht- und Herrschaftskontexte sowie in gesellschaftliche Strukturen eingebettet ist. Inwiefern diese Strukturen allerdings die konkrete alltägliche Arbeit mit den Adressat:innen und die Professionellen direkt betreffen, wird selten in den Anwendungsbereich einbezogen.

Habitus-Milieu-Reflexivität setzt hier an, wenn die Beziehungen der Akteur: innen in ihren sozialen Milieus in den Blickpunkt gerückt werden, woran sich Soziale Arbeit im beruflichen Alltag orientieren kann. Auch hinsichtlich der generellen gesellschaftlichen Erwartungen, dass Professionelle sozial sensibel, wertschätzend, empathisch und verständnisvoll im Umgang mit ihren Adressat:innen agieren sollten, markiert das Buch einen Unterschied.2F 3 Verstehen setzt hier am individuellen Habitus und den „Ethiken der Lebensführung“ an, die in den sozialen Milieus erworben und tradiert werden. Um allerdings Habitus-Milieu-Reflexivität als Schlüsselqualifikation (herrschaftskritischer) Sozialer Arbeit erfolgreich einsetzen zu können, braucht es „Brillen“, deren Gläser in diesem Buch (ungleichheits-)soziologisch eingestellt und zu einer 3D-Gleitsichtbrille der Habitus-Milieu-Reflexivität3F 4 geschliffen werden.

Geordnet ist das Buch in sechs Kapitel nach der einleitenden Hinführung (1) in die Thematik: Nachdem Ordnungs- und Befreiungstheorien in neoliberalen Zeiten zunächst „zeitdiagnostisch betrachtet“ (2) werden, folgt das „Entwickeln einer 3D-Gleitsichtbrille der Habitus-Milieu-Reflexivität“ mit ihren Zielen (3). Im vierten Kapitel „Soziale Ungleichheiten begreifen: relational und konfigurativ“ (4) werden Einsichten und Erkenntnisse der Theorien von Bourdieu, Vester u.a. erläutert, um die Grundlagen für die Habitus-Milieu-reflexive Soziale Arbeit zu legen und die Gläser der 3D-Gleitsichtbrille feinzuschleifen. Danach widmet sich das fünfte Kapitel dem „Unterstützen“ (5), in dem die methodischen Möglichkeiten für den Einsatz von Habitus-Milieu-Reflexivität für Sozialarbeitende ausgelotet werden, sodass beispielhaft in sozialarbeiterischen Settings „durch die 3D-Gleitsichtbrille der Habitus-Milieu-Reflexivität geblickt“ werden kann. Das sechste Kapitel stellt habitussensible Beratungsansätze vor und betrachtet Habitus-Milieu-Reflexivität in Beratung. Im letzten Kapitel (7) erfolgt eine Zusammenfassung der Erkenntnisse und ein Ausblick der Handlungsmöglichkeiten zur professionellen Grenzbearbeitung mittels Habitus-Milieu-Reflexivität.

Um Soziale Arbeit herrschafts- und diskriminierungskritisch, ungleichheitsreflexiv und intersektional auszurichten, ist eine gesellschaftliche Einbettung von Theorien und Konzepten Sozialer Arbeit unabdingbar, wie es die Habitus- Milieu-Reflexivität unternimmt. Dazu skizziere ich zunächst die zeitdiagnostischen Hintergründe: Soziale Arbeit mit ihren Methoden, Theorien und Konzepten war und ist immer auch Ergebnis gesellschaftlicher Neu- und Restrukturierungsprozesse, was sich nicht zuletzt am „doppelten Mandat“ und seinen „Erzählungen“ und Diskursen von Hilfe und Kontrolle zeigt. Einen der markantesten Umbrüche in der heutigen Zeit stellt der Wandel von der Wohlfahrtsorientierung zum Aktivierungsstaat (vom Welfare zum Workfare) im neoliberalen Kapitalismus dar. Dadurch lässt sich beschreiben, zu welchen widersprüchlichen Auswirkungen dies in der Sozialen Arbeit und ihren Handlungsorientierungen führt. Unter den Bedingungen der „Politik des Verhaltens“ im Unterschied zu einer „Politik der Verhältnisse“4F 5 ergeben sich für die Soziale Arbeit weitreichende Ein- und Anpassungen.

Unter einer Habitus-Milieu-reflexiven Perspektive eröffnet sich für Soziale Arbeit eine „befreiungstheoretische“ und damit herrschaftskritische Betrachtung von Gesellschaft, die versucht, sich neoliberalen Avancen für Verhalten statt Verhältnissen zu entziehen, um eine Antwort auf die Frage zu finden: Welche Art von Sozialarbeit kann praktiziert werden, wenn sich Soziale Arbeit sowie Sozialarbeitswissenschaft und ihre Professionstheorien nicht mit den vorherrschenden (neoliberalen Aktivierungs-)Theorien und Diskursen verbünden will (vgl. zum kritischen Wissenschaftsbegriff im Kontext von Forschen in der Sozialen Arbeit Kessl/Maurer 2012: 43ff.)?

Besteht eine der Aufgaben von professionellen Sozialarbeitenden darin, eine „stellvertretende Deutung von Problemen zur Bewältigung lebenspraktischer Krisen“ (Sander 2014: 13) für die Adressat:innen vorzunehmen, so plädiert dieser Band dafür, Soziale Ungleichheiten, Habitus und Milieu als Ausgangspunkte dieser (stellvertretenden) Deutungen zu nutzen. Gerade in der Gegenwartsgesellschaft, die in ihrer neoliberalen Ausprägung gesellschaftliche Probleme in personalisierte umdeutet und damit auf eine historisch etablierte Tradition in der Sozialen Arbeit trifft5F 6, bildet der Zugang aus der Milieuperspektive einen Kontrapunkt zu neoliberalen Verhaltens- und Individualisierungsmustern. Soziale Arbeit als bedeutsame Akteurin im historisch-gesellschaftlichen Konstruktionsprozess von sozialen Problemen kann m.E. der Moralisierung und Personalisierung durch die Habitus-Milieu-reflexive Professionsperspektive entgegenwirken und damit soziale Ungleichheiten entschieden mildern.

Eingerahmt und plausibilisiert durch Fallbeispiele aus der Sozialen Arbeit werden nach der zeitdiagnostischen Betrachtung von Ordnungs- und Befreiungstheorien (Kap. 2) und der Hinführung zu den Zielen der Habitus-Milieu- Reflexivität und der 3D-Gleitsichtbrille (Kap. 3) die Grundlagen für die Schlüsselqualifikation (herrschaftskritischer) Sozialer Arbeit gelegt. Im Kapitel 4 „Soziale Ungleichheiten begreifen: relational und konfigurativ“ erläutere ich kurz Bourdieus Konzepte: Sozialer Raum, Kapitaltheorie und Felder, Habitus und Milieu usw., die auf Brüchen mit wissenschaftlichen Traditionen basieren. So überwindet Bourdieu dichotomisierte Denkweisen, die auf entgegengesetzten dualistischen Begriffen beruhen, wie zum Beispiel „Individuum versus Gesellschaft“. Auch seine Ablehnung von Theorien, die soziale Ungleichheiten ökonomistisch reduzieren, wird in den publizierten Darstellungen häufig nicht umfassend zur Kenntnis genommen.

Infolgedessen wird Bourdieu oftmals in den Erziehungs-, Sozialarbeits- und Sozialwissenschaften deterministisch oder strukturalistisch verkürzt rezipiert, sodass ein produktiver Bezug zur Sozialen Arbeit und ihren Praxen ausbleibt, da die Fundamente fehlen. Deshalb wird im vierten Kapitel auf die dialektische Bewegung seiner Konzepte eingegangen, indem sowohl die äußeren Grenzen (Sozialer Raum, Kapitaltheorie und Felder) als auch die inneren Grenzen (Habitus und Milieus; Grenzkonflikte: Symbolische Gewalt und „Habitus- Struktur-Konflikte“) als Grenzschnittstellen erörtert werden. Grenzen lassen sich mit einer Sozioanalyse und Habitus-Milieu-Reflexivität bearbeiten, sodass sich mit diesen Grundlagen „Soziale Arbeit als Grenzbearbeitung“ konzipieren lässt (vgl. Kessl/Maurer 2012). Dazu werden im fünften Kapitel die „Methodischen Möglichkeiten Habitus-Milieu-reflexiver Sozialer Arbeit“ entfaltet (Sozioanalyse, Habitushermeneutik, Feldanalyse). Beispielhaft wird dabei in sozialarbeiterischen Settings „durch die 3D-Gleitsichtbrille der Habitus- Milieu-Reflexivität geblickt“ und Methoden werden diskutiert, die sich als unterstützend für die Soziale Arbeit ergeben. Das sechste Kapitel schaut auf Beratung als Grundform sozialarbeiterischen Handelns und lotet die Möglichkeiten von Habitussensibilität sowie von Habitus-Milieu-Reflexivität im Beratungskontext aus. Im Kapitel 7 „Ausblick“ wird zusammengefasst, wie es gelingt, Grenzen durch Habitus-Milieu-Reflexivität professionell zu bearbeiten.

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1 Vgl. Sander 2014 zum Zusammenhang von „Sozialer Ungleichheit und Habitus als Bezugsgrößen professionellen Handelns“.

2 Vgl. Bitzan/Bolay 2017 zur sozialen Konstruktion von Adressat:innen in der Sozialen Arbeit.

3 Dass in der Sozialen Arbeit, wie in nahezu allen beruflichen Feldern, empathisches und wertschätzendes Verhalten eine wichtige Rolle spielt, wird damit nicht infrage gestellt. Vielmehr bildet dieses Verhalten lediglich eine notwendige, aber nicht hinreichende professionelle Basis.

4 Das Bild der „3D-Brille“ führt Plößer (2012) im Kontext von Beratung und Geschlechterdifferenzen ein.

5 Vgl. Anhorn/Schimpf/Stehr 2018: 1-17.

6 Vgl. zur Traditionslinie der Verhaltensmoralisierung und Personalisierung von gesellschaftlich produzierten Problemen: Anhorn/Schimpf/Stehr 2018: 2ff.

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Habitus-Milieu-Reflexivität. Schlüsselqualifikation herrschaftskritischer Sozialer ArbeitClaudia Rademacher:

Habitus-Milieu-Reflexivität. Schlüsselqualifikation herrschaftskritischer Sozialer Arbeit

 

 

 

 

Die Autorin

Prof. Dr. Claudia Rademacher ist Professorin für Soziologie mit den Schwerpunkten Gesellschaftstheorien, Soziale Ungleichheiten, Gender Studies und Sozialarbeitswissenschaften an der Hochschule Bielefeld im Fachbereich Sozialwesen.

 

Über „Habitus-Milieu-Reflexivität“

Verstehen und professionelles Reflektieren der milieubedingten Lebensstile sind notwendig, um im Kontext sozialer Ungleichheitsverhältnisse die Soziale Arbeit nachhaltiger zu gestalten und zu professionalisieren. Auf Basis dieser Kernthese zielt die Autorin darauf ab, Habitus-Milieu-Reflexivität als Schlüsselqualifikation verstehbar und anwendbar zu machen. Ein wichtiges Buch, das aus ungleichheitssoziologischer Perspektive das Selbstverständnis Sozialer Arbeit zu schärfen vermag.

 

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© Autorenfoto: privat | Titelbild: gestaltet mit canva.com