„Das Thema ist durch Dethematisierung und Tabuisierung gekennzeichnet.“ – Interview mit Autorin Sophia Richter zu „Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Feld“

Interview Unterrichtsstörungen Sophia Richter

Alternative Deutungs-, Bewertungs- und Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit herausfordernden Situationen im Schulalltag: Wir haben ein Interview mit Autorin Sophia Richter zum Buch Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Feld. Pädagogische Perspektiven geführt.

 

Interview mit Sophia Richter

 

Liebe Sophia Richter, worum geht es in Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Feld?

Unterrichtsstörungen und Konflikte prägen den schulischen Alltag, aber der Umgang damit erfolgt oftmals intuitiv und wenig reflexiv. In diesem Buchprojekt werden Unterrichtsstörungen und Konflikte ausgehend vom schulischen Alltag in den Blick genommen und zum Gegenstand reflexiver Auseinandersetzungen gemacht. Im Zentrum stehen zwei exemplarische Fallbeschreibungen aus dem Schulalltag, mit denen sich Autor*innen aus Wissenschaft und Praxis reflexiv und analytisch auseinandersetzen. Die praxisbezogenen sowie theoretisch-analytischen Perspektiven beleuchten unterschiedliche Dimensionen von Unterrichtsstörungen und Konflikten und Formen des pädagogischen Umgangs mit ihnen. Wie werden Unterrichtsstörungen und Konflikte von Lehrkräften diskutiert und welche Überlegungen und Ansätze des Umgangs gibt es? Wie stellen sich Unterrichtsstörungen aus einer systemischen Perspektive, unter Bezugnahme auf Ansätze der gewaltfreien Kommunikation oder des Classroom-Managements dar? Welche Perspektiven eröffnen Erziehungs-, Resonanz- oder Anerkennungstheorien? Und wie lassen sich Unterrichtsstörungen und Konflikte unter Bezugnahme auf Kindheits- und Jugendforschungen deuten? Was bedeutet ein erwägungsorientierter Zugang zu dem Thema? Diese und weitere Fragen sind Gegenstand der einzelnen Beiträge.

Die Unterrichtsszenen bilden dabei einen kontinuierlichen Bezugspunkt, sodass die Beiträge vergleichend in ihren jeweiligen Erkenntnismöglichkeiten ausgelotet werden können. Zugleich eröffnen sich darüber Einsichten in die Komplexität pädagogischer Praxis und verschiedener Deutungsmöglichkeiten. In ihrer Zusammenschau laden die Beiträge zu Perspektivwechseln ein und eröffnen eine Vielzahl von Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch herauszugeben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Der Entstehungsgeschichte dieses Buches liegen unterschiedliche Beobachtungen zugrunde. Im Rahmen meiner ethnographischen Schulforschungen wurden von Seiten vieler Lehrkräfte Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Alltag problematisiert – einhergehend mit dem Wunsch nach Unterstützung. Die Schüler*innen wiederum problematisierten ungerechte Formen des Umgangs mit Unterrichtsstörungen seitens ihrer Lehrkräfte. An den Hochschulen zeigt sich, dass Studierende besorgt auf die bevorstehende Tätigkeit als Lehrkraft blicken – insbesondere bezogen auf die Frage, wie sie mit Unterrichtsstörungen pädagogisch umgehen können.

Zugleich sind Unterrichtsstörungen sowie die Praktiken des Umgangs mit diesen kaum Gegenstand empirischer Forschungen, sodass das Thema durch Dethematisierung und Tabuisierung gekennzeichnet ist. Dies erhöht die Unsicherheit und verschafft Ratgebern und Programmen Konjunktur, die schnelle Lösungen versprechen. Die Komplexität unterrichtlicher Situationen wird in diesen zumeist linear-kausal entworfenen Programmen nicht in den Blick genommen. Hier soll das Buch einen alternativen Zugang bieten.

 

Welchen Herausforderungen stehen Lehrkräfte in Bezug auf Unterrichtsstörungen und Konflikte im Schulkontext aktuell gegenüber?

Lehrkräfte stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen im Schulsystem. Neben dem Lehrkräftemangel und den daraus resultierenden geringen zeitlichen Ressourcen für Gespräche, Phasen des Innehaltens, der Reflexion und der Erprobung stehen Schulen unter permanentem Innovations- und Entwicklungsdruck, des Vergleiches und der Konkurrenz, einhergehend mit Prozessen der Standardisierung. Auf der anderen Seite stehen Prozesse der Pädagogisierung entlang von Leitbildern der UN-Kinderrechtskonvention, der UN-Behindertenrechtskonventionen oder der UN-Nachhaltigkeitsagenda. Von Lehrkräften wird erwartet, sich bezüglich neuer Thematiken zu professionalisieren, neue Unterrichtsformate einzuführen und in multiprofessionellen Teams schulisch und außerschulisch zusammenzuarbeiten und sich zu vernetzen.

Diese Bewegungen stehen in einem spannungsreichen Verhältnis. Unterrichtsstörungen sind ein Beispiel, an dem sich diese Spannung zeigt. So unterliegen unterschiedliche Unterrichtsformate unterschiedlichen Regeln eines störungsfreien Unterrichts. Sie verweisen auf Erwartungen und Vorstellungen schulischen Gelingens, auf spezifische Bilder von Kindern, Jugendlichen, Schule und Unterricht sowie Zielen der Erziehung und Bildung. Gerade im Kontext von Inklusion ist zu fragen, inwiefern sich diese Erwartungen, Vorstellungen, Bilder und Ziele an homogenen schulischen Strukturen orientieren.

Ein erster Schritt zur Umsetzung sollte deshalb sein, die Erwartungen, Vorstellungen, Bilder und Ziele unter Einbezug der spannungsvollen Rahmenbedingungen und Reformanforderungen von Schulen zu reflektieren. Im konkreten Umgang mit Unterrichtsstörung gilt es die Frage zu stellen: Welche Absichten und Zielsetzungen verfolge ich mit meinem pädagogischen Handeln und welchen Anspruch habe ich an Kinder und Jugendliche – auch mit Blick auf ihren Entwicklungsstand und ihre Bedürfnisse.

 

Anhand von beobachteten Unterrichtszenen nehmen die Autor*innen des Buchs vielfältige Perspektiven auf das Phänomen Unterrichtsstörungen ein. Würden Sie eines der Fallbeispiele exemplarisch vorstellen?

Die Fallbeispiele stammen aus den teilnehmenden Beobachtungen unseres Projektes „GanztagsSchulKulturen“, welches an der Goethe-Universität Frankfurt durchgeführt wurde. Eines der Fallbeispiele beschreibt den Verweis des Schülers Robin in einen sogenannten Trainingsraum, einen Raum den einige Schulen für Schüler*innen eingerichtet haben, die mehrfach den Unterricht stören. Der Raum wird durch eine Lehrkraft beaufsichtigt und die Schüler*innen werden darin angehalten einen Rückkehrplan ausfüllen, in dem sie ihr Verhalten kritische reflektieren. In der beschriebenen Szene geht es um mehrfache Ermahnungen bis zu dem Verweis aus der Klasse in den Trainingsraum.

Anhand der Analyse des Falles lassen sich machtvolle Positionierungen, Schuldzuweisungen und Unterrichtsverständnisse eines lehrkräftezentrierten Unterrichts offenlegen. Zugleich regen die Beiträge an darüber nachzudenken, inwiefern solche Formen des Umgangs mit Unterrichtsstörungen mit einer Abkehr von einer subjekt- und beziehungsorientierten Pädagogik einhergehen und damit Räume einer wechselseitigen Verständigung und Verstehensprozesse erschweren. Anhand der Analysen durch die Autor*innen werden eine Vielzahl an Alternativen aufgezeigt, die sowohl bei der Erschließung der Gestalt von Unterrichtsstörungen als auch bei der Gestaltbarkeit eines alternativen Umgangs mit solchen Momenten behilflich sein können.

 

Darum bin ich Autorin bei Budrich

Am Barbara Budrich Verlag und seinem Team schätze ich die Offenheit für neue Zugänge und Themen und dabei insbesondere die persönliche Abstimmung in allen Prozessen während der Entstehung eines Buches. Hervorzuheben ist auch die Möglichkeit der Covergestaltung. Das Team ist sehr engagiert und verbindlich. Zugleich ist der Verlag Barbara Budrich für die Erziehungswissenschaften ein renommierter Verlag, der über sehr gute Netzwerke verfügt und die Publikationen breit zugänglich macht.

 

Kurzvita der Autorin in eigenen Worten

Sophia Richter, Autorin von „Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Feld“Sophia Richter studierte Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von Oktober 2008 bis September 2022 war sie am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft, Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main angestellt. Sie promovierte zu dem Thema „Pädagogische Strafen“ und leitete von 2009 bis 2014 das ethnographische Projekt „GanztagsSchulKulturen“ (gemeinsam mit Prof. Dr. B. Friebertshäuser). Von Oktober 2017 bis September 2022 verantwortete sie im Dekanat des Fachbereichs Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität die Leitung der Masterstudiengangsentwicklung und -koordination sowie den Bereich der konzeptionellen und forschungsbezogenen Weiterentwicklung der Studienfachberatung. An der Eberhard Karls Universität Tübingen und der Pädagogische Hochschule Heidelberg übernahm sie diverse Lehraufträge und führte an verschiedenen Hochschulen Workshops für Promovierende durch. Von Oktober 2022 bis September 2023 vertrat sie am Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg die Professur Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Schulentwicklungsforschung. Seit Oktober 2023 ist sie Hochschulprofessorin für Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg in Österreich.

 

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Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Feld CoverSophia Richter:

Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Feld. Pädagogische Perspektiven

Pädagogische Einsichten: Praxis und Wissenschaft im Dialog, Band 3

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Über das Buch

Unterrichtsstörungen und Konflikte gehören zum schulischen Alltag. Als pädagogische Herausforderungen werden sie auf vielfältige Weise bearbeitet. Anhand von beobachteten Unterrichtszenen als Fallbeispielen nehmen die Autor*innen vielfältige Perspektiven auf das Phänomen Unterrichtsstörungen ein. Die Reflexionen und Analysen von Lehrkräften, Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen unterschiedlicher Ansätze und Interventionsprogramme zeigen alternative Deutungs-, Bewertungs- und Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit herausfordernden Situationen im Schulalltag auf.

 

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© Foto Sophia Richter: privat | Titelbild gestaltet mit canva.com