Eine Leseprobe aus den Seiten 11 bis 13 aus Sozialraumanalysen. Ein Arbeitsbuch für soziale, gesundheits- und bildungsbezogene Dienste (2., durchgesehene und aktualisierte Auflage) von Christian Spatscheck und Karin Wolf-Ostermann, Kapitel „1. Sozialräume entdecken“.
Über „Sozialraumanalysen“
Das Buch fasst übersichtlich und handlungsorientiert das nötige Grundwissen und die leitenden Methoden von Sozialraumanalysen in den Bereichen Soziales, Gesundheit und Bildung zusammen. Studierende und Fachkräfte werden in die Lage versetzt, Sozialraumanalysen eigenständig, verantwortlich und fundiert zu konzipieren, umzusetzen und auszuwerten. Eine unverzichtbare Grundlage in aktualisierter Neuauflage.
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1 Sozialräume entdecken
Sozialräume sind wichtige Bezugsgrößen und Ressourcenquellen für soziale, gesundheits- und bildungsbezogene Dienste. Anhand leitender Theoriemodelle wird im Folgenden zunächst erläutert, was unter Sozialraumorientierung und Sozialräumen genauer zu verstehen ist. Daran anschließend werden die Möglichkeiten der Nutzung von Sozialraumanalysen für Problem- und Ressourcenanalysen, die Konzeptentwicklung und die Praxisforschung erläutert. Abschließend werden förderliche Grundhaltungen für die gelingenden Umsetzungen von Sozialraumanalysen beschrieben.
1.1 Sozialraumorientierung – Sozialräume als Bezugsgrößen und Ressourcenquellen für soziale, gesundheits- und bildungsbezogene Dienste
Sozialraumorientierung ist ein Ansatz, der große Hoffnungen und Erwartungen auslöst. „Wenige Begriffe haben in den vergangenen Jahren die Fachdebatten im Sozial- und Bildungsbereich, aber auch angrenzende Diskussionen so stark mit bestimmt, wie der Begriff des ‚Sozialraums‘“ (Kessl/Reutlinger 2022, 1). Sozialraumorientierung gilt als „der zurzeit meistdiskutierte Theorie- und Handlungsansatz in der Sozialen Arbeit“ (Früchtel/Cyprian/Budde 2012) und wird als ein „zentrales Paradigma sozialarbeiterischer und sozialpädagogischer Praktiken“ (Kessl/Reutlinger 2010, 43) betrachtet. Seit nunmehr gut 25 Jahren wird die Sozialraumorientierung zunächst in der Sozialen Arbeit, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe und Jugendarbeit in größerem Umfang praktiziert. In den letzten Jahren fand dieser Ansatz auch größere Resonanz in den Feldern der Gesundheitsversorgung, etwa der Alten- und Behindertenhilfe und der (Sozial-) Psychiatrie, aber auch in weiteren Feldern der Sozialen Arbeit, etwa der Straffälligen- und Wohnungslosenhilfe sowie im Bildungsbereich bei der Weiterentwicklung von Kindertagesstätten, Familienzentren und Ganztagesschulen. Bei der Umsetzung von Quartierskonzepten – sowohl für ältere Menschen mit Unterstützungs- und/oder Pflegebedarf als auch für andere gesellschaftliche Gruppen – geht einer Gestaltung eines sozialen Nahraumes wie bspw. eines Dorfes, einer Gemeinde oder eines Stadtteils sinnvollerweise stets die Analyse dieses Nahraumes und die Identifikation von Bedarfen, Ressourcen, aber auch Barrieren voran. Gerade im Bereich der Gesundheitswissenschaften gewinnen Konzepte des Community (Health) Nursing (vgl. etwa Nies/McEwen 2015; Horstkötter/Trompetter/ Dröge 2008), die sich mit der Analyse des Gesundheitszustandes der Bevölkerung sowie der Versorgungs- und Infrastruktur einer Region, einer Kommune oder eines Quartiers befassen, zunehmend auch in Deutschland an Bedeutung, wie es in vielen anderen Ländern – beispielhaft seien hier etwa Kanada, Großbritannien, Finnland oder auch Slowenien genannt – bereits seit langem etabliert ist. Politisch wurde im Koalitionsvertrag der Bundesregierung 2021 das Berufsbild einer „Community Health Nurse“ in Deutschland etabliert, ebenso in den Koalitionsverträgen der Länder Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Studiengänge zum Community Health Nursing wurden eingeführt, bei denen Gesundheitsförderung, Prävention und die Begleitung von Individuen und Familien mit (chronischen) Erkrankungen im Zentrum steht.
Somit scheint die Sozialraumorientierung in den Bereichen Soziales, Gesundheit und Bildung ein Reformmodell zu sein, von dem kein Handlungsfeld mehr ausgeschlossen ist. Unter der Zielsetzung und Leitidee „Vom Fall zum Feld“ soll eine Individualisierung von Problemlagen überwunden werden und die Potenziale lokaler Nahräume in Angebote mit eingebunden werden. Dabei versuchen sozialräumliche Ansätze (Kessl/Reutlinger 2010, 44):
- Ressourcen der Adressat:innen im Kontext sozialer Netzwerke, lokaler Nachbarschaften und lokaler Zusammenschlüsse zu identifizieren und zu erschließen,
- kleinräumige Unterstützungssysteme und Bindungsstrukturen zu (re-)aktivieren und soziale Netzwerke zu mobilisieren,
- die Nutzer:innensicht in den Mittelpunkt zu stellen, um weitere Potenziale zu erschließen,
- verkrustete institutionelle Strukturen aufzubrechen und effektivere Formen der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteur: innen zu entwickeln,
- konkrete sozialpolitische Mitgestaltung zu realisieren und Teil der Verwaltungsmodernisierung werden, um bessere Angebote zu realisieren.
Dadurch sollen passgenauere Angebote erstellt werden, die durch ihren Orts- und Adressat:innenbezug effektiver und effizienter sind. Oliver Fehren und Wolfgang Hinte (2013, 11) betonen hierbei die Orientierung an den Interessen der Adressat:innen und eine sozialökologische Ausrichtung der Angebote als zentrale Kernelemente (Fehren/Hinte 2013, 11).
Um diese Ziele zu erreichen, wird auf verschiedenen Ebenen gearbeitet:
- Die persönliche Ebene der Adressat:innen: Hier wird Sozialraumorientierung als Gestaltung von Lern- und Erfahrungsfeldern für subjektive Aneignungs-, Lern- und Partizipationsprozesse für Adressat: innen verstanden (vgl. Deinet/Reutlinger 2004; 2006; 2014; Deinet et al. 2018; Böhnisch/Münchmeier 1990).
- Die fachliche Ebene der Anbieter:innen: Hier wird Sozialraumorientierung als ein Arbeitsprinzip der kleinräumigen Neujustierung fachlichen Handelns zur Verbesserung der Angebote der Sozialen Arbeit begriffen (vgl. Kessl/Reutlinger 2010, 44).
- Die administrative Ebene: Hier wird Sozialraumorientierung als administrativ begründete Hinwendung zu Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf unter besonderer Perspektive der Stadtentwicklung aufgefasst (vgl. Deinet 2007, 45; Kessl/Reutlinger 2010, 17).
- Die Ebene der Planung: Hier wird Sozialraumorientierung als Fachkonzept zur besseren Entwicklung und Steuerung von Angeboten sowie zur Gestaltung von Lebenswelten und Arrangements in Wohngebieten betrachtet (vgl. Hinte 2006, 8f.; Budde/Früchtel/ Hinte 2006).
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